In diesem Fall ließ sich eine Ausnahme nicht vermeiden, und so ergab es sich, daß man zur Kenntnis nehmen mußte, daß bis auf eine einzige Besprechung alle Rezensenten darin übereinstimmten, daß der monumentale Tschechien-China-Roman der Schriftstellerin Radka Denemarková (Jg. 1968) in einer namenlosen Prager Autorin seine Hauptfigur weiß.
Nur erfährt man aber durchaus, daß diese Prager Autorin den Namen Birgit Stadtherrová trägt. Was man nicht weiß, ist, wieviel Stadtherrová in Denemarková steckt, obschon zu unterstellen ist, daß gewisse Parallelen im Lebenslauf bzw. in der Weltsicht vorliegen.
Denemarková, die Autorin des vorliegenden Werkes, darf seit fünf Jahren nicht mehr in die Volksrepublik China einreisen, wobei ihr europaweit preisgekröntes Buch Stunden aus Blei im tschechischen Original erst vor drei Jahren erschien. Anzunehmen ist, daß spätestens mit dieser Generalabrechnung mit dem China des 20. und 21. Jahrhunderts entsprechende Maßnahmen erfolgt wären.
Stadtherrová, die schriftstellernde Heldin des vorliegenden Werkes, darf nach China einreisen – und tut es im Laufe der Handlung immer wieder. Sie leidet spürbar an der Geschichte ihres Heimatlandes und an der Gegenwart Chinas. Die tschechisch-chinesische Annäherung in der heutigen Real- und Wirtschaftspolitik wird schonungslos als zynischer und menschenrechtsnegierender Opportunismus gescholten. Immer wieder zieht die Hauptperson des Romans dabei Analogien zwischen Prager Frühling und dem Ausbleiben eines Pekinger Frühlings, zwischen der Realität in der Tschechoslowakei in den 1960er Jahren und der Realität Chinas in den 2010er Jahren, geprägt vom »Regime einer einzigen Partei«, die einen »Polizeistaat voller Spitzel« aus der Taufe hob und »Privatkapital unter staatliche Kontrolle« als Erfolgsrezept beansprucht.
Sprunghaft, aber nicht zu sprunghaft ist der über diese Themenfelder kreisende Romanplot, der neben Stadtherrová selbst u. a. mit einem Programmierer, einem Diplomaten und denkenden Haustieren ausgestattet ist. Zentral ist jedoch die Personalie einer »jungen Chinesin«, die – tatsächlich namenlos – mit der Überwachung der tschechischen Schriftstellerin in China betraut ist. Die Mutter der Chinesin, der Kommunistischen Partei ebenso treu ergeben wie der Vater, hat sie dazu angestiftet – und läßt sie mit allen Konsequenzen fallen, als die junge Chinesin Stück für Stück von der Volksrepublik abrückt und schließlich als so radikale wie friedliche Dissidentin ihren einsamen Tod durch Hinrichtung findet.
Die Handlung ist grausam; die Widersprüche im Leben unter repressiven Strukturen werden so zeitlos wie plastisch in der Wahrnehmung der Leser präsent. Aber »mutig«, wie häufig kolportiert wird, ist es nicht immer, was Denemarková betreibt. Ihre Fundamentalkritik an China (»Dissidenten stehen doch außerhalb der Realität«) ist nicht neu, sondern europäischer Konsens, und ebenso Konsens ist es, Parallelen zu anderen dunklen Episoden zu ziehen und dabei anderes auszublenden. Denemarková erweist sich als zeitgeistig-westlerisch, wenn sie wiederholt Viktor Orbán oder die Kaczynski-Brüder mal direkt, mal indirekt mit chinesischen Diktaturelementen in Relation setzt.
Mutig wäre es demgegenüber, den Problemen von Zensur, Dissidenz und Nonkonformität im eigenen Beritt, in den westlichen Ländern etwa, nachzuspüren. Wieviel von Chinas Meinungskontrolle steckt in der BRD, wieviel in Frankreich? Das wäre mutig, Ungarn- und Polen-Bashing ist es nicht. Auch die vermeintliche tschechisch-chinesische Parallele der Verwechslung von »Politik mit Business« ist keine Prager und Pekinger Spezialität. Erkennt man darin nicht vielmehr das Signum unserer Zeit als solcher?
Selbst Denemarková eingewobenes Diktum, wonach in China gelte: »Wir haben alles, vorausgesetzt du hältst Schritt und die Klappe«, ist kein chinesisches Alleinstellungsmerkmal. In jeder spätmodernen Gesellschaft, die sich über Konsum und Beteiligung an diesem Konsum identifiziert, ist der Ausschluß von Konsum und Teilhabe (durch gesellschaftliche Ächtung, Entziehung ökonomischer Möglichkeiten usw.) eine Waffe zur Brechung potentiellen Widerstands.
Wenn dann noch die politische Sprache in China als Beispiel für eine »Trennung zwischen Gut und Böse« herangezogen wird oder der Umstand, daß das chinesische System bis in die Privatsphäre der Bürger hineinregiert, müßte es der Autorin doch dämmern, daß eine entsprechende moralpolitische Scheidelinie längst auch »im Westen« (hier: in EU-Europa, in den USA) gezogen wurde und daß spätestens seit der Coronakrise auch in unseren Breitengraden neue Formen der Übergriffigkeit reüssieren.
Derartige selektive Blickwinkel, gepaart mit dem konstanten Drang, eine Kontinuitäts- und Logiklinie zwischen Stalins Sowjetunion, Hitlers NS-Deutschland und dem heutigen China zu konstruieren, vergällen mitunter die Leselust an einem Werk, das man – bei aller vorhandenen Liebe zu belletristischen Wälzern – auch auf 350 oder 450 Seiten hätte einkürzen können.
Diese Kritik soll nicht den Wert des Romans an sich in Frage stellen: Er lehrt den Leser intensiv, »die geheimnisvolle Mehrdeutigkeit des menschlichen Tuns im Totalitarismus zu begreifen«. Neben einer Umfangskürzung hätte dem Roman aber auch eine Reduktion linksliberaler Belehrungssätze gutgetan.
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Radka Denemarková: Stunden aus Blei. Roman, Hamburg: Hoffmann und Campe 2022. 880 S., 32 €
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