Am späten Vormittag des 24. Juni 1922 kam Walther Rathenau, knapp fünf Monate zuvor zum deutschen Außenminister ernannt, bei einem politisch motivierten Attentat auf dem Weg zu seiner Dienststelle ums Leben.
Die Rekonstruktion des Tathergangs ergab folgendes: Der Minister saß zigarrerauchend auf dem Rücksitz seines offenen Wagens, abgesehen von seinem Fahrer unbegleitet. Ein ebenfalls offener Wagen, in dessen Fond zwei Männer mit langen Ledermänteln und Lederkappen saßen, wartete in einer Seitenstraße in der Nähe von Rathenaus Haus, setzte sich in Bewegung, als der Wagen des Ministers vorbeifuhr, und folgte ihm in immer geringer werdendem Abstand. Als der Fahrer Rathenaus das Tempo aufgrund einer Kurve drosseln mußte, überholte der zweite Wagen. Als er fast vorüber war, hob einer der Insassen eine »lange Pistole« und schoß auf Rathenau, der andere warf eine Eierhandgranate. Mit rasanter Geschwindigkeit entfernte sich das Auto der Attentäter, während Rathenaus Chauffeur stoppte.
Eine Vielzahl an dramatischen und tragischen, mitunter skurrilen Einzelheiten über diesen Anschlag, über diesen Tod ist bekannt. Vieles andere wird rätselhaft bleiben. Dazu zählt die Reaktion großer Teile der Öffentlichkeit, die sich plötzlich hinter dem Ermordeten formierte und ihn zum Symbol der in seiner Person angegriffenen und nun zu verteidigenden Republik erhob.
Dies war insofern überraschend, als sich Rathenau zu Lebzeiten niemals eines derartig großen Rückhalts hatte erfreuen können. Der einflußreiche Industrielle, zugleich prominent als Intellektueller und Schriftsteller, im Persönlichen schwer durchschaubar, widersprüchlich, künstlerisch begabt, der später auch den Weg in die Politik gefunden hatte, sah sich immer wieder Anfeindungen ausgesetzt, nicht zuletzt wegen seiner jüdischen Herkunft.
Anerkennung fand er im Ersten Weltkrieg als »Vater des ›wirtschaftlichen Generalstabes‹« für seine Verdienste um die Organisation der Kriegsrohstoffe. Andererseits galt er als Kriegsgewinnler und wurde als »Wirtschaftsdiktator«, als »Schloßbesitzer und Mehrheitssozialist«, als »das paradoxeste aller paradoxen Lebewesen des alten Deutschlands« bezeichnet. Kurt Tucholsky sprach von »byzantinischem Opportunismus«.
Als in der Weimarer Nationalversammlung der Vorschlag eingebracht wurde, Rathenau zum Reichspräsidenten zu wählen, mußte die Sitzung aufgrund des Heiterkeitsanfalls unterbrochen werden, da sich die Abgeordneten »beseligt auf ihren Sitzen kugelten«, wie er selbst enttäuscht überlieferte. Unter Reichskanzler Joseph Wirth wurde Rathenau, der der linksliberalen DDP beigetreten war, Wiederaufbau- und schließlich Außenminister. Als solcher galt er als Erfüllungspolitiker, weil er bereit war, über die Forderungen der Sieger zu verhandeln. Hinzu kam, daß er am 16. April 1922 den Vertrag von Rapallo unterzeichnet hatte. Dieser gilt heute als erster Schritt, mit dem Deutschland nach Kriegsende seine außenpolitische Handlungsfähigkeit wiedererlangte, stand damals aber in dem Ruch, ein erster Schritt in Richtung Bolschewismus zu sein.
Trotz aller Ambivalenzen und ungeachtet der Tatsache, daß er nicht der erste als Repräsentant des Weimarer Staates wahrgenommene Politiker war, der einem offensichtlich von Gegnern der Republik ausgeführten Anschlag zum Opfer fiel, galt er kurzzeitig als der patriotische Märtyrer schlechthin. Die Atmosphäre war explosiv. Man prügelte DNVP-Abgeordnete aus dem Plenarsaal des Reichstags. Karl Helfferich, der Rathenau stets scharf attackiert hatte, wurde lauthals für dessen Ermordung verantwortlich gemacht. Reichskanzler Wirth verkündete: »Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden des Volkes träufelt […] dieser Feind steht rechts«.
Am 27. Juni kam es zu einem umfassenden Demonstrationsstreik. Vom Zentrum bis zur KPD waren die Reihen geschlossen, in Berlin fand sich eine Million Menschen zusammen, als der Sarg Rathenaus überführt wurde. Es kam zu grotesken Auseinandersetzungen, wie etwa einem Streit über die Verhüllung eines Marmorstandbildes Kaiser Wilhelms I. während des Traueraktes im Reichstag; es kam zu Verwüstungen von DNVP- und DVP-Einrichtungen. Verletzte und Tote waren zu beklagen, in Braunschweig versuchten KPD-Anhänger das Landeszentralgefängnis zu stürmen. Der britische Botschafter wähnte sich am Vorabend einer weiteren Revolution.
Das Abebben der Tumulte und die Rückkehr zur politischen Spaltung ohne eindeutigen Schwerpunkt auf republikanischer Seite lassen sich ebensowenig rational erklären wie deren Entstehung. Die Regierung hatte die Lage genutzt, um Tatsachen zu schaffen. So wurde die Einrichtung eines Staatsgerichtshofs beschlossen – für Vergehen gegen die Republik und ihre Repräsentanten.
Die Männer im Ledermantel, die Rathenau ermordet hatten, waren schnell identifiziert, ebenso ihre unmittelbaren Helfer. Bei dem Schützen handelte es sich um den Kieler Jurastudenten Erwin Kern, die Handgranate hatte Hermann Fischer geworfen, Ingenieur aus Chemnitz, ehemalige Offiziere der eine wie der andere. Nach den beiden Flüchtigen wurde aufwendig gefahndet. Eine Belohnung von zwei Millionen Reichsmark war auf ihre Ergreifung ausgesetzt. Fahndungspannen auf seiten der Polizei, abenteuerliche Versteckspiele auf seiten von Kern und Fischer – letztere erfuhren nicht unerhebliche Hilfe von Sympathisanten.
So wurde der Polizei immer wieder die falsche Richtung gewiesen, und als sich herumgesprochen hatte, daß die Gesuchten mit Fahrrädern unterwegs seien, waren in den fraglichen Gegenden bemerkenswert viele Radfahrer-Paare unterwegs, die ähnliche Kleidung trugen wie die auf den Steckbriefen beschriebenen Täter. Die letzte Station von Kern und Fischer sollte die bei Naumburg gelegene Burg Saaleck werden, in der sie sich mit Unterstützung des Besitzers Hans Wilhelm Stein verborgen hielten. Hier wurden sie entdeckt. Ein Polizist traf Kern tödlich, Fischer erschoß sich anschließend selbst.
Insgesamt dreizehn Helfer, die Kern und Fischer bei der Vorbereitung und Durchführung des Attentats unterstützt hatten, standen im Oktober vor dem – neuen – Staatsgerichtshof in Leipzig. Als Motiv erkannte man antisemitische Triebe, »blinde Feindseligkeit gegen den ›Juden Rathenau‹«, wie es der Oberreichsanwalt Ludwig Ebermayer in seinen 1930 erschienenen Erinnerungen formulierte. Es habe keinen Grund gegeben, »den Mord aus der Klasse der gemeinen Verbrechen herauszuheben und ihm den Schimmer eines politischen Verbrechens zuzugestehen«.
Gegen zehn der Angeklagten wurden vergleichsweise hohe Haftstrafen verhängt. Der Staatsgerichtshof zeigte sich damit weit entfernt von einer Justiz, die 1919 den Eisner-Attentäter Graf Arco zwar verurteilt, ihm aber ausdrücklich bescheinigt hatte, aus »glühender Liebe zum Vaterland« gehandelt zu haben, oder die 1920 Matthias Erzberger zumindest eine Mitverantwortung am Anschlag auf ihn zugeschrieben und die »ideale Gesinnung« des Pistolenschützen hervorgehoben hatte. Beim Rathenau-Mord hingegen erhielt etwa der Schriftsteller Ernst von Salomon wegen Beihilfe fünf Jahre Zuchthaus, obwohl er, wie Ernst Jünger monierte, »nur ein Nummernschild gemalt hatte«.
Mag dies auch eine Verkürzung sein, so illustriert die Bemerkung anschaulich die eine Seite dessen, was der Historiker Martin Sabrow als »integratives Urteil« bezeichnet. Sabrow, der seine Untersuchungen über den Rathenau-Mord und dessen Einordnung in den 1990er Jahren publizierte, erklärt, daß mit den harten Strafen die republikanische Seite befriedigt worden sei. Das Zugeständnis an die Gegner sei gewesen, daß die über die erkennbar Beteiligten hinausgehenden Zusammenhänge von Anfang an ausgeklammert worden seien.
In der Tat wurde bereits von Zeitgenossen nicht nur vereinzelt über eine planende und lenkende Geheimorganisation spekuliert, die – vermeintlich im September 1921 zerschlagene – »Organisation Consul« (O.C.) war schnell in den Blickpunkt gerückt. Offensichtliche Verbindungslinien waren reichlich vorhanden. So brachten Kern und Fischer kurz vor ihrem Tod einen Hochruf auf »Kapitän Ehrhardt« aus – den Führer der nach ihm benannten Freikorps-Brigade, aus der wiederum die von ihm formierte O.C. hervorging, als »paramilitärischer Geheimbund« (Sabrow).
Ebermayer wies den Vorwurf, man habe die Zusammenhänge nicht sehen wollen, zurück. Es sei eingehend gegen die O.C. ermittelt worden. Wenn dies zu keinem Ergebnis geführt habe, so habe der Grund darin gelegen, »daß eben überhaupt keine strafbaren Handlungen vorlagen oder daß, wenn dies der Fall war, die Beteiligten es verstanden, ihr strafbares Verhalten so zu verbergen, daß ihnen nichts nachzuweisen war«.
Sabrow räumt ein, letztlich hätten Kern und Fischer »die Wahrheit über die Hintergründe des Rathenaumordes […] mit sich ins Grab genommen«. Allerdings ordnet er die Tat in ein umfassendes Konzept ein, in seine These von der »verdrängten Verschwörung«. Er sieht hier, mitunter etwas um Stringenz bemüht, aber faktengestützt-schlüssig, den Rathenau-Mord in Verbindung mit anderen Anschlägen auf führende Köpfe des Weimarer Staates. Im Zusammenhang mit dem zweiten Attentat auf Erzberger am 26. August 1921 war die Existenz der O.C. öffentlich bekanntgeworden, ein letztlich im Sande verlaufendes Gerichtsverfahren gegen die Organisation wurde erst 1924 durchgeführt. Folgt man Sabrow, so waren die Verquickungen mit Staat und Reichswehr zu groß, als daß ein Interesse an Aufdeckungen bestanden hätte.
Neben dem Nutzen, den die O.C. in Zeiten restriktiver Rüstungsbeschränkungen durch den Frieden von Versailles für das Land hatte, habe sie aber vor allem den Umsturz verfolgt. Geschehen sollte dies mittels einer »Provokationsstrategie«. Demnach stand der Rathenau-Mord – die Täter waren sämtlich der O.C. verbunden – in einer Reihe von Anschlägen, deren Ziel darin bestand, Unruhen auszulösen. Formuliert ist der weiterführende Gedanke bei Friedrich Wilhelm Heinz, der an verschiedenen Attentatsvorbereitungen, so auch gegen Rathenau, beteiligt war.
In seinem – bedingt als Erinnerungen zu bezeichnenden – Werk Sprengstoff von 1930 heißt es dazu: »Wir dürfen nicht zuerst losschlagen. Die Kommunisten müssen es tun! […] Wenn die Rote Armee Berlin erobert hat und die Scheidemänner von den eigenen Genossen umgelegt sind, wenn die Reichswehr mit dem Spuk nicht mehr fertig wird und man uns in aller Unschuld ruft, dann haben wir das Heft wieder in der Hand.« Sabrow betont, daß bei der Auswahl der Personen, auf die die Anschläge verübt werden sollten, nichts darauf hinweise, »daß Antisemitismus das treibende Motiv« gewesen sei.
Daß es sich bei dem Anschlag auf Rathenau – wie auch bei anderen – nicht um die Tat einer kleinen isolierten Gruppe handelte, dürfte feststehen; wie hoch Einfluß und Wirkmächtigkeit der O.C. tatsächlich zu veranschlagen sind, sei dahingestellt. Sabrow erweitert die Perspektive noch einmal, wenn er nicht nur die Anschläge auf Politiker in Verbindung bringt. Er postuliert darüber hinaus, den Rathenau-Mord als Teil »eines gegenrevolutionären Komplotts zum Sturz der Weimarer Republik«, als »missing link« zwischen dem Kapp-Lüttwitz-Putsch vom März 1920 und dem Hitler-Ludendorff-Putsch vom November 1923 zu betrachten.
Die großen, mitunter vielleicht auch nur ex post konstruierten Linien überdecken allerdings leicht Eigenantriebe der Beteiligten, etwa gerade eines Erwin Kern. Erinnerungen der Unterstützer des Attentats auf Rathenau – wie Sprengstoff oder Ernst von Salomons Die Geächteten – weisen eine bemerkenswerte, nicht widerspruchsfreie Gemeinsamkeit auf. Über Rathenau, der schließlich durch sie ermordet wurde, wird mit Hochachtung gesprochen – in deutlichem Unterschied zu anderen von ihnen zu Opfern bestimmten Personen wie Erzberger oder Scheidemann.