Die Antiquiertheit des Menschen

Bewußtsein, Geist und freier Wille

von Eva Rex -- PDF der Druckfassung aus Sezession 109/ August 2022

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In sei­nem bemer­kens­wer­ten Buch Der dena­tu­rier­te Mensch und sei­ne Rech­te (2018) stellt der fran­zö­si­sche Jurist und Men­sch­rechts­be­ob­ach­ter Gré­gor Pup­pinck die The­se auf, daß der Mensch der Gegen­wart es sich zum Haupt­an­lie­gen gemacht habe, mit sei­nem Wil­len die »Herr­schaft des indi­vi­du­el­len Geis­tes über die Mate­rie« durchzusetzen.

Das über­schnei­de sich just mit der Ziel­set­zung des Trans­hu­ma­nis­mus, der den Anspruch erhe­be, nichts Gerin­ge­res anzu­stre­ben, als die als unzu­läng­lich emp­fun­de­ne irdi­sche Stoff­lich­keit mit mensch­li­cher Ver­stan­des­kraft unwi­der­ruf­lich zu besiegen.

Auf den ers­ten Blick mag das erstau­nen, möch­te man doch glau­ben, daß eine tech­no­lo­gie­ver­ses­se­ne Ideo­lo­gie wie der Trans­hu­ma­nis­mus sich kom­plett der mate­ria­lis­ti­schen Welt­auf­fas­sung ver­pflich­tet habe, der zufol­ge es gar kei­nen Geist gibt und auch kei­nen wie auch immer gear­te­ten imma­te­ri­el­len mensch­li­chen Wil­len. »Du, dei­ne Freu­den und dei­ne Sor­gen, dei­ne Erin­ne­run­gen und dein Ehr­geiz, dein Gefühl für per­sön­li­che Iden­ti­tät und frei­en Wil­len sind in Wirk­lich­keit nichts ande­res als das Ver­hal­ten einer rie­si­gen Ansamm­lung von Ner­ven­zel­len und der mit ihnen ver­bun­de­nen Mole­kü­le«, (1) kon­sta­tier­te der Bio­lo­ge Fran­cis Crick, der 1962 für die Ent­schlüs­se­lung der DNS-Struk­tur mit dem Nobel­preis aus­ge­zeich­net wurde.

Mit ihm bla­sen zahl­rei­che Hirn­for­scher ins glei­che Horn des deter­mi­nis­ti­schen Reduk­tio­nis­mus, nach dem Mot­to: Die Wis­sen­schaft hat fest­ge­stellt, daß der Schä­del kei­nen Geist ent­hält – nur Neu­ro­nen und Mil­lio­nen von Ver­schal­tun­gen. Folgt man hin­ge­gen Pup­pinck, so bezeugt die neue­re Ent­wick­lung der Men­schen­rech­te einen grund­le­gen­den Wan­del des Ver­ständ­nis­ses vom Men­schen, des­sen Wür­de zuneh­mend vom Wil­len des Indi­vi­du­ums abge­lei­tet wird und nicht mehr, wie bis­lang, von der Inte­gri­tät sei­nes Kör­pers. Am Bei­spiel der rasant sich ver­än­dern­den Recht­spre­chung am Euro­päi­schen Gerichts­hof mani­fes­tie­re sich ein all­ge­mein­gül­ti­ger »Vor­rang des Wil­lens vor dem Leib«, die neu­en Rech­te sei­en »Rech­te des Men­schen an sich selbst«.

Das wie­der­um ent­spricht unse­rer all­täg­li­chen Wahr­neh­mung. Auf Schritt und Tritt erle­ben wir, daß in unse­rer moder­nen Welt alles – bis hin zur »Wahl« des Geschlechts – als Ergeb­nis frei­er Wil­lens­ent­schei­dung zu gel­ten hat, eine Auf­for­de­rung zur wil­lens­be­ton­ten Selbst­er­mäch­ti­gung, die tat­kräf­tig von Poli­tik, glo­bal agie­ren­den Unter­neh­men und media­len Kam­pa­gnen unter­stützt wird. Selbst ein tech­no­kra­ti­scher Wel­ten­len­ker wie Klaus Schwab betont in sei­nem Buch Die vier­te indus­tri­el­le Revo­lu­ti­on (2016) die Wirk­mäch­tig­keit mensch­li­cher Wil­lens­kraft: »Stel­len Sie sich eine Welt vor, in der wir unse­re Wunsch­kör­per selbst gestal­ten kön­nen. In die­ser Welt kön­nen wir auch die mit uns leben­den Pflan­zen und Tie­re ent­wer­fen. Wir kön­nen Orga­nis­men ver­än­dern und sie so for­men, wie wir sie haben wol­len. […] Und das ist nicht die Welt von mor­gen. Man braucht dazu kei­ne Phan­ta­sie. Das ist die Welt von heu­te.« (2)

Man fragt sich aller­dings, wer das han­deln­de Sub­jekt in die­ser Wunsch­lis­te sein soll, wenn es erklär­ter­ma­ßen kei­ne Wil­lens­frei­heit gibt? Wen genau hat der WEF-Chef im Sinn, wenn er das Ver­ge­mein­schaf­tungs­wort »wir« benutzt? Sehen sich viel­leicht die Ange­hö­ri­gen der Eli­ten von ihrer Dok­trin der Nicht­exis­tenz des frei­en Wil­lens ausgenommen?

Um die Begriffs­ver­wir­rung kom­plett zu machen, lohnt es sich, einen Blick auf die Ver­öf­fent­li­chun­gen von Davos-Herold Yuval Noah Hara­ri zu wer­fen (dem es als »gefei­er­ter« His­to­ri­ker offen­bar zukommt, dem Club der Welt­eli­te einen phi­lo­so­phisch-geis­tes­ge­schicht­li­chen Nim­bus zu ver­lei­hen). Sei­ne pene­trant als gesi­cher­te Wahr­hei­ten aus­ge­ge­ben Hypo­the­sen beto­nen einer­seits die enge mate­ria­lis­ti­sche Welt­sicht eines Schmal­spur-Anthro­po­lo­gen: Ent­schei­dun­gen, die der Mensch fällt, sei­en nicht dem Wir­ken sei­nes frei­en Wil­lens zuzu­schrei­ben, in Wirk­lich­keit wür­den sie durch auto­ma­tisch im Gehirn ablau­fen­de Algo­rith­men gefällt (die wie­der­um durch maschi­nel­le Algo­rith­men »gehackt« wer­den können).

Auf­kei­men­de Wün­sche sind kein Zeug­nis von Indi­vi­dua­li­tät, son­dern lose umher­trei­ben­de Schol­len in einem neu­ro­phy­sio­lo­gi­schen Infor­ma­ti­ons­strom, der die Gedan­ken formt. Es gebe kei­nen Beleg dafür, daß der Mensch – Hara­ri nennt ihn kühl-abwer­tend »Sapi­ens« – über eine See­le ver­fügt. Das »Ich« ist eine Illu­si­on, eine Erfin­dung, kraft derer arme Erden­we­sen ihrer eige­nen Exis­tenz Sinn verleihen.

Nicht auf­grund sei­ner über­ra­gen­den Ver­stan­des­leis­tun­gen hat »Sapi­ens« es voll­bracht, sich die Welt unter­tan zu machen, son­dern auf­grund sei­ner zufäl­lig ent­stan­de­nen Fähig­keit zur Koope­ra­ti­on mit ihm fern­ste­hen­den Grup­pen (modern gespro­chen: »Netz­wer­ke« zu bil­den). Ande­rer­seits gesteht Hara­ri dem Men­schen durch­aus so etwas wie »Wil­len«, »Bewußt­sein« und »Geist« zu, ver­bleibt jedoch im Vagen, was genau das bedeu­ten könnte.

Es ist erstaun­lich mit­an­zu­se­hen, wel­cher Denk­an­stren­gung es bedarf, um den Geist aus dem Inven­tar anzu­er­ken­nen­der (und vor­mals aner­kann­ter) mensch­li­cher Eigen­schaf­ten zu til­gen. Noch ver­blüf­fen­der ist die Beob­ach­tung, wie Hara­ri hart­nä­ckig als »War­ner« vor den neu­en tech­no­lo­gi­schen Ent­wick­lun­gen wahr­ge­nom­men wird und nicht als Speer­spit­ze ihrer Durch­set­zung. Dabei reprä­sen­tiert er als Radi­kal-Dar­wi­nist genau jenes Men­schen­bild, von dem die Tech­no­kra­ten aus­ge­hen. Geziel­te Irre­füh­rung? Eher nicht. Hara­ri könn­te man als opti­sche Täu­schung beschrei­ben: Das Bild, das er abgibt, vari­iert je nach Betrach­tungs­win­kel und kann sowohl die eine wie auch die gegen­tei­li­ge Bot­schaft vermitteln.

Was also ist mit »Geist« gemeint, der empi­risch nicht nach­weis­bar ist? Was ist mensch­li­che Intel­li­genz, von der ein Trans­hu­ma­nist wie Goog­le-Chef­inge­nieur und Sin­gu­la­ri­täts-Ver­kün­der Ray Kurz­weil so trun­ken ist, daß er vor lau­ter Über­schwang mit ihr »das Uni­ver­sum flu­ten« will?  (3)

Im Ver­ständ­nis der Tech­no-Feti­schis­ten bezeich­net Intel­li­genz nichts ande­res als ein beson­ders spe­zia­li­sier­tes Pro­gramm zur Mus­ter­er­ken­nung, das sich im Lau­fe der Evo­lu­ti­on immer wei­ter ver­fei­nert hat. Evo­lu­ti­on wie­der­um ist die expo­nen­ti­ell gestei­ger­te Wei­ter­ent­wick­lung von Infor­ma­ti­on und ihrer Ver­ar­bei­tung. Nach­dem die Mate­rie in Gestalt des Men­schen »intel­li­gent« gewor­den ist, sieht man den Zeit­punkt gekom­men, an dem die Infor­ma­ti­on ein bes­se­res Beför­de­rungs­mit­tel gefun­den hat – die Maschi­nen­in­tel­li­genz, her­vor­ge­bracht durch den Men­schen, der in Zukunft mit sei­nen eige­nen Appa­ra­ten ver­schmel­zen wird. Durch Über­tra­gung mensch­li­cher Gehirn­struk­tu­ren in die Pro­gram­me der Künst­li­chen Intel­li­genz wer­de Tech­no­lo­gie ler­nen, so Kurz­weil, die Mecha­nis­men der Natur zu über­neh­men, aller­dings unend­lich effi­zi­en­ter, schnel­ler und ohne an der chro­ni­schen Insuf­fi­zi­enz orga­ni­scher Lebe­we­sen zu kranken.

Auch Hara­ri redu­ziert den »Sapi­ens« auf ein über Jahr­tau­sen­de hin­weg sich ent­wi­ckeln­des »Daten­ver­ar­bei­tungs­sys­tem«. So mache es kei­nen Unter­schied, ob im wis­sen­schaft­li­chen Kon­text oder im moral­phi­lo­so­phi­schen Dis­kurs von einer Toma­te, einem Pavi­an, einer Fest­plat­te oder dem Men­schen die Rede sei. Da der »Sapi­ens«, wie jedes ande­re orga­ni­sche Lebe­we­sen, ein Gefan­ge­ner der in ihm ablau­fen­den che­mi­schen Pro­zes­se sei, müs­se man ihn nicht nur von jeg­li­chem eige­nen Wil­len, son­dern auch von Ver­ant­wor­tung lossprechen.

Wie aber kann ein Kurz­weil, der in sei­nen über­schweng­lich-idea­lis­ti­schen Pro­phe­zei­un­gen von der »Macht der Ideen« schwärmt, wie kön­nen all die ande­ren Akteu­re, Visio­nä­re und »Neu­star­ter«, die dar­an­ge­hen, die Welt nach ihrem Wil­len umzu­ge­stal­ten, den schaf­fen­den Geist glatt­weg negie­ren? Und wie kommt es, daß all die Human Engi­nee­rer, »Enhan­cer« und bio­tech­ni­schen Schwarz­ma­gi­er, die sich in über­bor­den­der Selbst­ver­got­tung anma­ßen, nicht mehr Geschöpf, son­dern Schöp­fer von makel­lo­sen Über­men­schen zu wer­den, die Grund­la­ge ihres Han­delns – den frei­en Wil­len – zu einem Hirn­ge­spinst erklären?

Wir haben es hier einer­seits mit einer Über­hö­hung der mensch­li­chen Kogni­ti­ons­kraft zu tun, ande­rer­seits mit ihrer Leug­nung. Schi­zo­phre­nie? Oder ist es der aus­ufern­de Stolz des Erschaf­fers, der ange­sichts der Über­le­gen­heit sei­ner Pro­duk­te in Selbst­haß umschlägt? Gün­ther Anders präg­te dafür sei­ner­zeit den Begriff »pro­me­t­hei­sche Scham«. (4) Was also ist unter dem viel­be­schwo­re­nen Begriff »Bewußt­sein« zu ver­ste­hen, wel­ches beim Errei­chen der soge­nann­ten Sin­gu­la­ri­tät DIE ent­schei­den­de Rol­le spielt – wenn näm­lich der Appa­rat selbst zu einem sol­chen erwacht?

Noch zu Zei­ten Arthur Koest­lers galt, auf­bau­end auf beha­vio­ris­ti­schen Annah­men, in den Natur­wis­sen­schaf­ten, aber auch in nicht­ver­wand­ten aka­de­mi­schen Dis­zi­pli­nen, ein gänz­lich ande­res Ver­ständ­nis von Bewußt­sein als heut­zu­ta­ge. In sei­nem Buch Das Gespenst in der Maschi­ne (1968) beschreibt Koest­ler ein­dring­lich die Aus­prä­gun­gen des reduk­tio­nis­ti­schen Mate­ria­lis­mus, gegen den er sein Leben lang ankämpf­te: »Auf der Basis die­ser Theo­rie gin­gen die Beha­vio­ris­ten dar­an, die Psy­cho­lo­gie von allen ›imma­te­ri­el­len und unzu­gäng­li­chen Begrif­fen‹ zu ›säu­bern‹. Aus­drü­cke wie ›Bewußt­sein‹, ›geis­ti­ger Vor­gang‹, ›Wil­le‹, ›Ziel­be­wußt­sein‹ und ›Vor­stel­lung‹ wur­den dem­entspre­chend für unwis­sen­schaft­lich erklärt, als sozu­sa­gen obs­zön ange­se­hen und aus dem Voka­bu­lar der Psy­cho­lo­gie verbannt.

Nach Wat­sons eige­nen Wor­ten muß­te der Beha­vio­rist ›alle sub­jek­ti­ven Begrif­fe strei­chen, wie zum Bei­spiel Emp­fin­dung, Wahr­neh­mung, Wil­le; ja sogar die Wor­te ›Den­ken‹ und ›Emo­ti­on‹, da sie nur sub­jek­tiv defi­nier­bar sind‹. Es han­del­te sich hier um die ers­te radi­ka­le ideo­lo­gi­sche ›Säu­be­rungs­ak­ti­on‹ in der Wis­sen­schaft; sie voll­zog sich zeit­lich noch vor den ideo­lo­gi­schen Säu­be­rungs­ak­tio­nen in der Poli­tik der tota­li­tä­ren Staa­ten, doch lag ihr die glei­che Ziel­stre­big­keit beses­se­ner Fana­ti­ker zugrunde.«

Für Beha­vio­ris­ten, die man mit ihrer auf die Spit­ze getrie­be­nen Ver­ding­li­chung alles Leben­di­gen als Vor­gän­ger des Trans­hu­ma­nis­mus betrach­ten kann, exis­tier­te »Bewußt­sein« als ernst­zu­neh­men­de Grö­ße schlicht­weg nicht. Für die heu­ti­gen Pro­gres­sis­ten, Cyber-Apo­lo­ge­ten, aber auch für Eso­te­ri­ker, Hyper­sen­si­ble, Acht­sam­keits-Jün­ger und Woke jeg­li­cher Cou­leur erscheint Bewußt­sein als das wich­tigs­te Merk­mal des Mensch­seins – und als Schlüs­sel­wort für alle Art von »Erwacht-Sein«. Wie ist es dazu gekommen?

Ideen­ge­schicht­lich ver­dankt die im Mind­set west­li­cher Gesell­schaf­ten auf­fäl­lig aus­ge­präg­te »Bewußt­seins-Ver­klä­rung« ihr Dasein dem Auf­klä­rungs­ge­dan­ken des neu­zeit­li­chen Huma­nis­mus, der spä­ter in den moder­nen Sub­jek­ti­vis­mus über­ge­hen soll­te. Der Sub­jek­ti­vis­mus in heu­ti­ger Aus­prä­gung (»die Welt ist so, wie ich sie sehe«) geht wie­der­um auf René ­Des­car­tes’ Beob­ach­tung zurück, daß alle Objekt­er­kennt­nis von dem ein­zig Fest­stell­ba­ren abhän­ge, das dem Men­schen zur Ver­fü­gung ste­he – dem Bewußt­sein des medi­tie­ren­den Sub­jekts. »Ich den­ke, also bin ich.«

Den­ken ist dem­nach mit Bewußt­sein gleich­zu­set­zen. Wei­ter­ge­führt in die Gegen­wart und post­mo­dern gestei­gert, müß­te man for­mu­lie­ren: Ich füh­le, also bin ich. Ich bin, was ich füh­le. Der Sub­jek­ti­vis­mus, wie wir ihn heu­te in Gestalt des for­dern­den Indi­vi­dua­lis­mus ken­nen, erhebt Füh­len und Begeh­ren zur obers­ten Instanz und ist in einen gera­de­zu aber­wit­zi­gen Bewußt­seins-Kult aus­ge­ar­tet. »Er degra­diert«, so Pup­pinck, »die Wirk­lich­keit zu einem bedeu­tungs­lo­sen Anschein und gibt, indem er dies tut, jedem ein­zel­nen die Macht, dem äuße­ren Anschein zum Trotz und im Wider­spruch zu ihm bekannt­zu­ge­ben, wer er ist«. Wenn ich mich als Mann wie eine Frau füh­le, BIN ich eine Frau. Gefühl­te Benach­tei­li­gung IST Benachteiligung.

Wie erklä­ren sich mate­ria­lis­ti­sche Wis­sen­schaft­ler Her­kunft und Beschaf­fen­heit des Bewußt­seins? Für die meis­ten von ihnen defi­niert es sich nicht als eige­ne Qua­li­tät, son­dern läßt sich ledig­lich als Epi­phä­no­men von Gehirn­ak­ti­vi­tät erklä­ren. Da ist es nur kon­se­quent, daß For­scher dar­an­ge­hen (aktu­ell im »Human Brain Pro­ject«), das mensch­li­che Gehirn Ner­ven­zel­le für Ner­ven­zel­le »nach­zu­bau­en«, und ver­su­chen, es auf unver­derb­li­ches Trä­ger­ma­te­ri­al zu über­füh­ren, in der Hoff­nung, durch Simu­la­ti­on von Gehirn­ak­ti­vi­tät einer Maschi­ne mensch­li­ches Den­ken – und damit Bewußt­sein – einzuhauchen.

Indes: Wie auch immer die Ergeb­nis­se sol­cher Unter­neh­mun­gen aus­fal­len mögen – die per­fek­te Simu­la­ti­on intel­li­gen­ter Leis­tun­gen bedeu­tet nicht, daß die­se auf die glei­che Wei­se zustan­de gekom­men sind wie beim Men­schen – durch Über­le­gen, Ver­mu­ten, Intui­ti­on und Phan­ta­sie, kurz: über ima­gi­na­ti­ve Pro­zes­se. Das liegt dar­an, daß der Com­pu­ter ratio­na­les Den­ken gemäß den ihm zur Ver­fü­gung ste­hen­den Algo­rith­men ledig­lich simu­liert, Ein­sicht in ratio­na­le Geset­ze fehlt ihm jedoch. Ob er die­se jemals errei­chen wird, bezwei­feln vie­le For­scher. Der Com­pu­ter kann nur das ver­ar­bei­ten und fort­ent­wi­ckeln, was in ihn hin­ein­ge­legt wur­de. Der Mensch wie­der­um ist in der Lage, völ­lig Neu­es zu ent­wi­ckeln, krea­tiv, spon­tan und unbe­re­chen­bar zu sein. Nur der Mensch ist zu Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ak­ten, Selbst­be­ob­ach­tung, künst­le­ri­schen Hand­lun­gen sowie mora­li­schen Urtei­len fähig.

Das soll­te auch nicht ver­wun­dern, schließ­lich arbei­tet der Com­pu­ter mit Befeh­len, der Mensch hin­ge­gen mit Bedeu­tun­gen, die wan­del­bar, elas­tisch, jeden­falls nicht ein­deu­tig fest­ge­legt sind, und die sich vor allem nicht in Zah­len­codes abbil­den las­sen. Daß phy­sio­lo­gi­sche Pro­zes­se (sei­en sie orga­ni­scher oder tech­no­lo­gisch-simu­lie­ren­der Art) das Bewußt­sein erzeu­gen, darf getrost bezwei­felt wer­den. Ist es nicht genau umge­kehrt? Anders gefragt: Steckt der Geist im Gehirn oder wird das Gehirn durch den Geist gebildet?

Genau die­se Fra­ge ist es, die Psy­cho­lo­gen und Neu­ro­bio­lo­gen bei der Unter­su­chung des Phä­no­mens »Wil­lens­frei­heit« umtreibt. Für den Ver­hal­tens­neu­ro­bio­lo­gen Boris Kot­chou­bey stellt sich die moder­ne Wis­sen­schaft ein Armuts­zeug­nis aus, indem sie beharr­lich dem »Zere­bral­kult« frönt, dem dadurch die Annah­me von der Exis­tenz der Wil­lens­frei­heit zum Opfer fal­le. (5) Das Mit­tel, das die Neu­ro­wis­sen­schaft benutzt, um ihre ein­ge­schränk­te Sicht der Din­ge durch­zu­set­zen, so Kot­chou­bey, sei »viel zu sim­pel, um wahr zu sein«.

Es bestehe dar­in, die Funk­tio­nen, die unser Den­ken tra­di­tio­nell dem Geist zuschrieb, ein­fach dem Gehirn umzu­adres­sie­ren. Statt des Aus­drucks »ich habe ent­schie­den« wer­de uns vor­ge­schla­gen zu sagen, »mei­ne Neu­ro­nen haben ent­schie­den«. »Ich behaup­te nicht«, sagt Kot­chou­bey, »daß die­se Erklä­run­gen falsch sind. Die Sache ist schlim­mer: sie erklä­ren gar nichts.« Wenn man näm­lich erklä­re, daß man durch die Akti­vi­tät des Man­del­kerns Angst erle­be und durch die Akti­vi­tät des Stirn­lap­pens schwie­ri­ge Pro­ble­me löse, dann sei das genau­so wahr, wie daß man durch die Akti­vi­tät sei­ner Arme einen Baum fäl­le und durch die Akti­vi­tät sei­ner Bei­ne lau­fe. Aber es wäre Unsinn, die Akti­vi­tät der Arme und Bei­ne als Ursa­che des­sen anzu­bie­ten, war­um man einen Baum fäl­len oder zu einem Ort lau­fen soll.

Der ein­zi­ge Grund, wes­halb die Exis­tenz des frei­en Wil­lens noch immer bestrit­ten wer­de, hält Kot­chou­bey fest, lie­ge in der unplau­si­blen Vor­stel­lung, wil­lent­li­che Ent­schei­dun­gen müß­ten voll­kom­men und per­fekt bewußt sein. »Doch dies ist nicht not­wen­dig«, unter­streicht er. (6) »Jede Ent­schei­dung beruht immer auch auf einer Viel­zahl unbe­wuß­ter Ein­flüs­se. Die Mög­lich­keit, sich die­se alle bewußt zu machen (um eine hun­dert­pro­zen­tig freie Ent­schei­dung zu tref­fen), ist eine phi­lo­so­phi­sche Abs­trak­ti­on, die mit dem rea­len Leben nichts zu tun hat«.

Die gesam­te Lite­ra­tur gegen den frei­en Wil­len grün­de sich im wesent­li­chen dar­auf, daß Frei­heit als die Abwe­sen­heit von äuße­ren Ein­flüs­sen betrach­tet wer­de und daß eine Wil­lens­ent­schei­dung oder eine Hand­lung, die Ein­flüs­sen und Bedin­gun­gen unter­liegt, als unfrei oder deter­mi­niert gewer­tet wer­de. Doch Ein­fluß­fak­to­ren sei­en nicht mit Ursa­chen zu verwechseln.

So sieht es auch Peter Bie­ri: Man müs­se von einer »schran­ken­lo­sen Frei­heit« aus­ge­hen, so der Phi­lo­soph, um sich »von den Ent­de­ckun­gen der Gehirn­for­schung erschre­cken zu las­sen«. Nur wer meint, daß die Frei­heit des Wil­lens die Fähig­keit sein müs­se, eine »völ­lig neue, geschichts­lo­se Kau­sal­ket­te in Gang zu set­zen«, kön­ne sich von der Aus­kunft, daß alles, was wir wol­len, Vor­be­din­gun­gen hat, irri­tie­ren las­sen. Ana­log dazu: »Nur wenn ein Neu­ro­wis­sen­schaft­ler die abso­lu­te Frei­heit zum Maß­stab macht, kann er glau­ben, daß sei­ne Ent­de­ckun­gen Frei­heit und Ver­ant­wor­tung als Illu­si­on ent­lar­ven kön­nen.« (7)

Nun kom­men wir zu einer inter­es­san­ten Über­ein­stim­mung: Wie wir gese­hen haben, neh­men in der west­li­chen Welt, dem radi­ka­len Sub­jek­ti­vis­mus fol­gend, Schlag­wor­te wie »Auto­no­mie«, »Selbst­be­stim­mung«, »per­sön­li­che Frei­heit« und »Selbst­ver­wirk­li­chung« auf der Ran­king-Lis­te der Wer­te die obers­ten Plät­ze ein. Als »frei« gilt der­je­ni­ge, der sich von der Vor­mund­schaft gesell­schaft­li­cher oder phy­si­scher Fest­le­gun­gen los­ge­sagt hat. So glaubt das hedo­nis­tisch-nar­ziß­ti­sche Indi­vi­du­um, daß erst, wenn jede Bedingt­heit neu­tra­li­siert ist, abso­lu­te Frei­heit erfah­ren wer­den kann. Wir erken­nen hier eine Par­al­le­le: Die Annah­me der Bedin­gungs­lo­sig­keit gilt als Grund­vor­aus­set­zung für Frei­heit. »Bedin­gungs­los« ist das Trend­wort der Zeit, mit dem abso­lu­te Frei­heit mar­kiert wird – man den­ke nur an das »bedin­gungs­lo­se Grundeinkommen«.

Und: Erst in der Fähig­keit, alle vor­ge­fun­de­nen Bedingt­hei­ten zu über­schrei­ten, fän­de das Sub­jekt sei­ne wah­re Iden­ti­tät – in der Macht­aus­übung durch sei­nen Wil­len. Der­weil ist es kein Wider­spruch, wenn Merk­ma­le abge­streift wer­den, die klas­si­scher­wei­se Iden­ti­tät begrün­den: Fami­li­en­zu­ge­hö­rig­keit, Geschlecht, Reli­gi­on, han­delt es sich doch dabei um kol­lek­ti­ve und nicht­per­sön­li­che Merk­ma­le. Löst sich das Sub­jekt als nächs­tes noch aus der kol­lek­ti­ven Iden­ti­tät »Spe­zi­es« her­aus, bleibt ihm nur noch das Merk­mal, das allen orga­ni­schen oder nicht-orga­ni­schen Sys­te­men zugrun­de liegt: sei­ne daten­ver­ar­bei­ten­de Funk­ti­on. Den Men­schen in sei­nem falsch ver­stan­de­nen Frei­heits­wahn trennt dann nichts mehr vom Tier, von der Pflan­ze, der Maschine.

In der Tat sind wir längst dabei, die kol­lek­ti­ve Iden­ti­tät »Mensch« abzu­schaf­fen, zum Bei­spiel in der Tier­rechts­be­we­gung, deren For­de­run­gen nach Per­so­nen­rech­ten für Tie­re zuneh­mend Gehör fin­den. Dies wird sich in Zukunft auch auf die For­de­rung nach Per­so­nen­rech­ten für Com­pu­ter aus­wei­ten: »War­um soll­te Leben auf koh­len­stoff­ba­sier­te Pro­te­ine beschränkt blei­ben?« fragt der Trans­hu­ma­nis­mus-Phi­lo­soph Nick Bostrom. Er spricht von »Koh­len­stoff­chau­vi­nis­mus« und »Bio­nis­mus« und sieht dar­in – wen soll­te es wun­dern? – eine Form von Ras­sis­mus. »Von einem mora­li­schen Stand­punkt aus ist es egal, ob jeman­des Neu­ro­nen aus Sili­zi­um bestehen oder bio­lo­gisch sind.« (8) Die Dis­kus­si­on dar­über, inwie­fern Künst­li­che Intel­li­genz Per­so­nen­sta­tus besit­zen könn­te, ist in den USA bereits in vol­lem Gange.

Die Zukunft wird zei­gen, ob auch »nich­t­or­ga­ni­schen Wesen­hei­ten« die ver­fas­sungs­mä­ßi­gen Grund­rech­te zuge­bil­ligt wer­den und ob die unsach­ge­mä­ße Behand­lung oder Belei­di­gung des eige­nen Com­pu­ters als »ras­sis­ti­sche Straf­tat« geahn­det wird. Sau­di-Ara­bi­en ver­lieh 2017 als ers­tes Land der Welt dem Robo­ter »Sophia« die Staatsbürgerschaft.

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(1) – Zitat aus »Die Beschwö­rung des Dämons Künst­li­che Intel­li­genz«, ver­öf­fent­licht im Juni 2022 auf axelkra.us

(2) – Zitat aus »Die Abschaf­fung der See­le«, ver­öf­fent­licht von Julia Weiss am 10. Mai 2022 auf
multipolar-magazin.de

(3) – Zitat aus »Trans­hu­ma­nis­mus – Pro­vo­ka­ti­on, Wahn oder Ver­bre­chen?«, ver­öf­fent­licht von Kai Ehlers am 17. Sep­tem­ber 2019 auf kai-ehlers.de

(4) – Vgl. Gün­ther Anders: Die Anti­quiert­heit des Men­schen, Bd. 1, Mün­chen 1956.

(5) – Vgl. »Der Kult ums Hirn«, ver­öf­fent­licht von Boris Kot­chou­bey am 20. Janu­ar 2012 auf
novo-argumente.com

(6) – Zitat aus »Why are you free?«, ver­öf­fent­licht von Thi­lo Spahl am 10. Okto­ber 2012 auf
novo-argumente.com

(7) – Zitat aus »Das Hirn ent­schei­det gar nichts«, ver­öf­fent­licht am 24. Sep­tem­ber 2004 auf tagesspiegel.de

(8) – Zitat aus »Die trans­hu­ma­nis­ti­sche Bewe­gung«, 2015 ver­öf­fent­licht von Det­lef Scholz auf
raum-und-zeit.com

 

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