In seinem bemerkenswerten Buch Der denaturierte Mensch und seine Rechte (2018) stellt der französische Jurist und Menschrechtsbeobachter Grégor Puppinck die These auf, daß der Mensch der Gegenwart es sich zum Hauptanliegen gemacht habe, mit seinem Willen die »Herrschaft des individuellen Geistes über die Materie« durchzusetzen.
Das überschneide sich just mit der Zielsetzung des Transhumanismus, der den Anspruch erhebe, nichts Geringeres anzustreben, als die als unzulänglich empfundene irdische Stofflichkeit mit menschlicher Verstandeskraft unwiderruflich zu besiegen.
Auf den ersten Blick mag das erstaunen, möchte man doch glauben, daß eine technologieversessene Ideologie wie der Transhumanismus sich komplett der materialistischen Weltauffassung verpflichtet habe, der zufolge es gar keinen Geist gibt und auch keinen wie auch immer gearteten immateriellen menschlichen Willen. »Du, deine Freuden und deine Sorgen, deine Erinnerungen und dein Ehrgeiz, dein Gefühl für persönliche Identität und freien Willen sind in Wirklichkeit nichts anderes als das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und der mit ihnen verbundenen Moleküle«, (1) konstatierte der Biologe Francis Crick, der 1962 für die Entschlüsselung der DNS-Struktur mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde.
Mit ihm blasen zahlreiche Hirnforscher ins gleiche Horn des deterministischen Reduktionismus, nach dem Motto: Die Wissenschaft hat festgestellt, daß der Schädel keinen Geist enthält – nur Neuronen und Millionen von Verschaltungen. Folgt man hingegen Puppinck, so bezeugt die neuere Entwicklung der Menschenrechte einen grundlegenden Wandel des Verständnisses vom Menschen, dessen Würde zunehmend vom Willen des Individuums abgeleitet wird und nicht mehr, wie bislang, von der Integrität seines Körpers. Am Beispiel der rasant sich verändernden Rechtsprechung am Europäischen Gerichtshof manifestiere sich ein allgemeingültiger »Vorrang des Willens vor dem Leib«, die neuen Rechte seien »Rechte des Menschen an sich selbst«.
Das wiederum entspricht unserer alltäglichen Wahrnehmung. Auf Schritt und Tritt erleben wir, daß in unserer modernen Welt alles – bis hin zur »Wahl« des Geschlechts – als Ergebnis freier Willensentscheidung zu gelten hat, eine Aufforderung zur willensbetonten Selbstermächtigung, die tatkräftig von Politik, global agierenden Unternehmen und medialen Kampagnen unterstützt wird. Selbst ein technokratischer Weltenlenker wie Klaus Schwab betont in seinem Buch Die vierte industrielle Revolution (2016) die Wirkmächtigkeit menschlicher Willenskraft: »Stellen Sie sich eine Welt vor, in der wir unsere Wunschkörper selbst gestalten können. In dieser Welt können wir auch die mit uns lebenden Pflanzen und Tiere entwerfen. Wir können Organismen verändern und sie so formen, wie wir sie haben wollen. […] Und das ist nicht die Welt von morgen. Man braucht dazu keine Phantasie. Das ist die Welt von heute.« (2)
Man fragt sich allerdings, wer das handelnde Subjekt in dieser Wunschliste sein soll, wenn es erklärtermaßen keine Willensfreiheit gibt? Wen genau hat der WEF-Chef im Sinn, wenn er das Vergemeinschaftungswort »wir« benutzt? Sehen sich vielleicht die Angehörigen der Eliten von ihrer Doktrin der Nichtexistenz des freien Willens ausgenommen?
Um die Begriffsverwirrung komplett zu machen, lohnt es sich, einen Blick auf die Veröffentlichungen von Davos-Herold Yuval Noah Harari zu werfen (dem es als »gefeierter« Historiker offenbar zukommt, dem Club der Weltelite einen philosophisch-geistesgeschichtlichen Nimbus zu verleihen). Seine penetrant als gesicherte Wahrheiten ausgegeben Hypothesen betonen einerseits die enge materialistische Weltsicht eines Schmalspur-Anthropologen: Entscheidungen, die der Mensch fällt, seien nicht dem Wirken seines freien Willens zuzuschreiben, in Wirklichkeit würden sie durch automatisch im Gehirn ablaufende Algorithmen gefällt (die wiederum durch maschinelle Algorithmen »gehackt« werden können).
Aufkeimende Wünsche sind kein Zeugnis von Individualität, sondern lose umhertreibende Schollen in einem neurophysiologischen Informationsstrom, der die Gedanken formt. Es gebe keinen Beleg dafür, daß der Mensch – Harari nennt ihn kühl-abwertend »Sapiens« – über eine Seele verfügt. Das »Ich« ist eine Illusion, eine Erfindung, kraft derer arme Erdenwesen ihrer eigenen Existenz Sinn verleihen.
Nicht aufgrund seiner überragenden Verstandesleistungen hat »Sapiens« es vollbracht, sich die Welt untertan zu machen, sondern aufgrund seiner zufällig entstandenen Fähigkeit zur Kooperation mit ihm fernstehenden Gruppen (modern gesprochen: »Netzwerke« zu bilden). Andererseits gesteht Harari dem Menschen durchaus so etwas wie »Willen«, »Bewußtsein« und »Geist« zu, verbleibt jedoch im Vagen, was genau das bedeuten könnte.
Es ist erstaunlich mitanzusehen, welcher Denkanstrengung es bedarf, um den Geist aus dem Inventar anzuerkennender (und vormals anerkannter) menschlicher Eigenschaften zu tilgen. Noch verblüffender ist die Beobachtung, wie Harari hartnäckig als »Warner« vor den neuen technologischen Entwicklungen wahrgenommen wird und nicht als Speerspitze ihrer Durchsetzung. Dabei repräsentiert er als Radikal-Darwinist genau jenes Menschenbild, von dem die Technokraten ausgehen. Gezielte Irreführung? Eher nicht. Harari könnte man als optische Täuschung beschreiben: Das Bild, das er abgibt, variiert je nach Betrachtungswinkel und kann sowohl die eine wie auch die gegenteilige Botschaft vermitteln.
Was also ist mit »Geist« gemeint, der empirisch nicht nachweisbar ist? Was ist menschliche Intelligenz, von der ein Transhumanist wie Google-Chefingenieur und Singularitäts-Verkünder Ray Kurzweil so trunken ist, daß er vor lauter Überschwang mit ihr »das Universum fluten« will? (3)
Im Verständnis der Techno-Fetischisten bezeichnet Intelligenz nichts anderes als ein besonders spezialisiertes Programm zur Mustererkennung, das sich im Laufe der Evolution immer weiter verfeinert hat. Evolution wiederum ist die exponentiell gesteigerte Weiterentwicklung von Information und ihrer Verarbeitung. Nachdem die Materie in Gestalt des Menschen »intelligent« geworden ist, sieht man den Zeitpunkt gekommen, an dem die Information ein besseres Beförderungsmittel gefunden hat – die Maschinenintelligenz, hervorgebracht durch den Menschen, der in Zukunft mit seinen eigenen Apparaten verschmelzen wird. Durch Übertragung menschlicher Gehirnstrukturen in die Programme der Künstlichen Intelligenz werde Technologie lernen, so Kurzweil, die Mechanismen der Natur zu übernehmen, allerdings unendlich effizienter, schneller und ohne an der chronischen Insuffizienz organischer Lebewesen zu kranken.
Auch Harari reduziert den »Sapiens« auf ein über Jahrtausende hinweg sich entwickelndes »Datenverarbeitungssystem«. So mache es keinen Unterschied, ob im wissenschaftlichen Kontext oder im moralphilosophischen Diskurs von einer Tomate, einem Pavian, einer Festplatte oder dem Menschen die Rede sei. Da der »Sapiens«, wie jedes andere organische Lebewesen, ein Gefangener der in ihm ablaufenden chemischen Prozesse sei, müsse man ihn nicht nur von jeglichem eigenen Willen, sondern auch von Verantwortung lossprechen.
Wie aber kann ein Kurzweil, der in seinen überschwenglich-idealistischen Prophezeiungen von der »Macht der Ideen« schwärmt, wie können all die anderen Akteure, Visionäre und »Neustarter«, die darangehen, die Welt nach ihrem Willen umzugestalten, den schaffenden Geist glattweg negieren? Und wie kommt es, daß all die Human Engineerer, »Enhancer« und biotechnischen Schwarzmagier, die sich in überbordender Selbstvergottung anmaßen, nicht mehr Geschöpf, sondern Schöpfer von makellosen Übermenschen zu werden, die Grundlage ihres Handelns – den freien Willen – zu einem Hirngespinst erklären?
Wir haben es hier einerseits mit einer Überhöhung der menschlichen Kognitionskraft zu tun, andererseits mit ihrer Leugnung. Schizophrenie? Oder ist es der ausufernde Stolz des Erschaffers, der angesichts der Überlegenheit seiner Produkte in Selbsthaß umschlägt? Günther Anders prägte dafür seinerzeit den Begriff »prometheische Scham«. (4) Was also ist unter dem vielbeschworenen Begriff »Bewußtsein« zu verstehen, welches beim Erreichen der sogenannten Singularität DIE entscheidende Rolle spielt – wenn nämlich der Apparat selbst zu einem solchen erwacht?
Noch zu Zeiten Arthur Koestlers galt, aufbauend auf behavioristischen Annahmen, in den Naturwissenschaften, aber auch in nichtverwandten akademischen Disziplinen, ein gänzlich anderes Verständnis von Bewußtsein als heutzutage. In seinem Buch Das Gespenst in der Maschine (1968) beschreibt Koestler eindringlich die Ausprägungen des reduktionistischen Materialismus, gegen den er sein Leben lang ankämpfte: »Auf der Basis dieser Theorie gingen die Behavioristen daran, die Psychologie von allen ›immateriellen und unzugänglichen Begriffen‹ zu ›säubern‹. Ausdrücke wie ›Bewußtsein‹, ›geistiger Vorgang‹, ›Wille‹, ›Zielbewußtsein‹ und ›Vorstellung‹ wurden dementsprechend für unwissenschaftlich erklärt, als sozusagen obszön angesehen und aus dem Vokabular der Psychologie verbannt.
Nach Watsons eigenen Worten mußte der Behaviorist ›alle subjektiven Begriffe streichen, wie zum Beispiel Empfindung, Wahrnehmung, Wille; ja sogar die Worte ›Denken‹ und ›Emotion‹, da sie nur subjektiv definierbar sind‹. Es handelte sich hier um die erste radikale ideologische ›Säuberungsaktion‹ in der Wissenschaft; sie vollzog sich zeitlich noch vor den ideologischen Säuberungsaktionen in der Politik der totalitären Staaten, doch lag ihr die gleiche Zielstrebigkeit besessener Fanatiker zugrunde.«
Für Behavioristen, die man mit ihrer auf die Spitze getriebenen Verdinglichung alles Lebendigen als Vorgänger des Transhumanismus betrachten kann, existierte »Bewußtsein« als ernstzunehmende Größe schlichtweg nicht. Für die heutigen Progressisten, Cyber-Apologeten, aber auch für Esoteriker, Hypersensible, Achtsamkeits-Jünger und Woke jeglicher Couleur erscheint Bewußtsein als das wichtigste Merkmal des Menschseins – und als Schlüsselwort für alle Art von »Erwacht-Sein«. Wie ist es dazu gekommen?
Ideengeschichtlich verdankt die im Mindset westlicher Gesellschaften auffällig ausgeprägte »Bewußtseins-Verklärung« ihr Dasein dem Aufklärungsgedanken des neuzeitlichen Humanismus, der später in den modernen Subjektivismus übergehen sollte. Der Subjektivismus in heutiger Ausprägung (»die Welt ist so, wie ich sie sehe«) geht wiederum auf René Descartes’ Beobachtung zurück, daß alle Objekterkenntnis von dem einzig Feststellbaren abhänge, das dem Menschen zur Verfügung stehe – dem Bewußtsein des meditierenden Subjekts. »Ich denke, also bin ich.«
Denken ist demnach mit Bewußtsein gleichzusetzen. Weitergeführt in die Gegenwart und postmodern gesteigert, müßte man formulieren: Ich fühle, also bin ich. Ich bin, was ich fühle. Der Subjektivismus, wie wir ihn heute in Gestalt des fordernden Individualismus kennen, erhebt Fühlen und Begehren zur obersten Instanz und ist in einen geradezu aberwitzigen Bewußtseins-Kult ausgeartet. »Er degradiert«, so Puppinck, »die Wirklichkeit zu einem bedeutungslosen Anschein und gibt, indem er dies tut, jedem einzelnen die Macht, dem äußeren Anschein zum Trotz und im Widerspruch zu ihm bekanntzugeben, wer er ist«. Wenn ich mich als Mann wie eine Frau fühle, BIN ich eine Frau. Gefühlte Benachteiligung IST Benachteiligung.
Wie erklären sich materialistische Wissenschaftler Herkunft und Beschaffenheit des Bewußtseins? Für die meisten von ihnen definiert es sich nicht als eigene Qualität, sondern läßt sich lediglich als Epiphänomen von Gehirnaktivität erklären. Da ist es nur konsequent, daß Forscher darangehen (aktuell im »Human Brain Project«), das menschliche Gehirn Nervenzelle für Nervenzelle »nachzubauen«, und versuchen, es auf unverderbliches Trägermaterial zu überführen, in der Hoffnung, durch Simulation von Gehirnaktivität einer Maschine menschliches Denken – und damit Bewußtsein – einzuhauchen.
Indes: Wie auch immer die Ergebnisse solcher Unternehmungen ausfallen mögen – die perfekte Simulation intelligenter Leistungen bedeutet nicht, daß diese auf die gleiche Weise zustande gekommen sind wie beim Menschen – durch Überlegen, Vermuten, Intuition und Phantasie, kurz: über imaginative Prozesse. Das liegt daran, daß der Computer rationales Denken gemäß den ihm zur Verfügung stehenden Algorithmen lediglich simuliert, Einsicht in rationale Gesetze fehlt ihm jedoch. Ob er diese jemals erreichen wird, bezweifeln viele Forscher. Der Computer kann nur das verarbeiten und fortentwickeln, was in ihn hineingelegt wurde. Der Mensch wiederum ist in der Lage, völlig Neues zu entwickeln, kreativ, spontan und unberechenbar zu sein. Nur der Mensch ist zu Kommunikationsakten, Selbstbeobachtung, künstlerischen Handlungen sowie moralischen Urteilen fähig.
Das sollte auch nicht verwundern, schließlich arbeitet der Computer mit Befehlen, der Mensch hingegen mit Bedeutungen, die wandelbar, elastisch, jedenfalls nicht eindeutig festgelegt sind, und die sich vor allem nicht in Zahlencodes abbilden lassen. Daß physiologische Prozesse (seien sie organischer oder technologisch-simulierender Art) das Bewußtsein erzeugen, darf getrost bezweifelt werden. Ist es nicht genau umgekehrt? Anders gefragt: Steckt der Geist im Gehirn oder wird das Gehirn durch den Geist gebildet?
Genau diese Frage ist es, die Psychologen und Neurobiologen bei der Untersuchung des Phänomens »Willensfreiheit« umtreibt. Für den Verhaltensneurobiologen Boris Kotchoubey stellt sich die moderne Wissenschaft ein Armutszeugnis aus, indem sie beharrlich dem »Zerebralkult« frönt, dem dadurch die Annahme von der Existenz der Willensfreiheit zum Opfer falle. (5) Das Mittel, das die Neurowissenschaft benutzt, um ihre eingeschränkte Sicht der Dinge durchzusetzen, so Kotchoubey, sei »viel zu simpel, um wahr zu sein«.
Es bestehe darin, die Funktionen, die unser Denken traditionell dem Geist zuschrieb, einfach dem Gehirn umzuadressieren. Statt des Ausdrucks »ich habe entschieden« werde uns vorgeschlagen zu sagen, »meine Neuronen haben entschieden«. »Ich behaupte nicht«, sagt Kotchoubey, »daß diese Erklärungen falsch sind. Die Sache ist schlimmer: sie erklären gar nichts.« Wenn man nämlich erkläre, daß man durch die Aktivität des Mandelkerns Angst erlebe und durch die Aktivität des Stirnlappens schwierige Probleme löse, dann sei das genauso wahr, wie daß man durch die Aktivität seiner Arme einen Baum fälle und durch die Aktivität seiner Beine laufe. Aber es wäre Unsinn, die Aktivität der Arme und Beine als Ursache dessen anzubieten, warum man einen Baum fällen oder zu einem Ort laufen soll.
Der einzige Grund, weshalb die Existenz des freien Willens noch immer bestritten werde, hält Kotchoubey fest, liege in der unplausiblen Vorstellung, willentliche Entscheidungen müßten vollkommen und perfekt bewußt sein. »Doch dies ist nicht notwendig«, unterstreicht er. (6) »Jede Entscheidung beruht immer auch auf einer Vielzahl unbewußter Einflüsse. Die Möglichkeit, sich diese alle bewußt zu machen (um eine hundertprozentig freie Entscheidung zu treffen), ist eine philosophische Abstraktion, die mit dem realen Leben nichts zu tun hat«.
Die gesamte Literatur gegen den freien Willen gründe sich im wesentlichen darauf, daß Freiheit als die Abwesenheit von äußeren Einflüssen betrachtet werde und daß eine Willensentscheidung oder eine Handlung, die Einflüssen und Bedingungen unterliegt, als unfrei oder determiniert gewertet werde. Doch Einflußfaktoren seien nicht mit Ursachen zu verwechseln.
So sieht es auch Peter Bieri: Man müsse von einer »schrankenlosen Freiheit« ausgehen, so der Philosoph, um sich »von den Entdeckungen der Gehirnforschung erschrecken zu lassen«. Nur wer meint, daß die Freiheit des Willens die Fähigkeit sein müsse, eine »völlig neue, geschichtslose Kausalkette in Gang zu setzen«, könne sich von der Auskunft, daß alles, was wir wollen, Vorbedingungen hat, irritieren lassen. Analog dazu: »Nur wenn ein Neurowissenschaftler die absolute Freiheit zum Maßstab macht, kann er glauben, daß seine Entdeckungen Freiheit und Verantwortung als Illusion entlarven können.« (7)
Nun kommen wir zu einer interessanten Übereinstimmung: Wie wir gesehen haben, nehmen in der westlichen Welt, dem radikalen Subjektivismus folgend, Schlagworte wie »Autonomie«, »Selbstbestimmung«, »persönliche Freiheit« und »Selbstverwirklichung« auf der Ranking-Liste der Werte die obersten Plätze ein. Als »frei« gilt derjenige, der sich von der Vormundschaft gesellschaftlicher oder physischer Festlegungen losgesagt hat. So glaubt das hedonistisch-narzißtische Individuum, daß erst, wenn jede Bedingtheit neutralisiert ist, absolute Freiheit erfahren werden kann. Wir erkennen hier eine Parallele: Die Annahme der Bedingungslosigkeit gilt als Grundvoraussetzung für Freiheit. »Bedingungslos« ist das Trendwort der Zeit, mit dem absolute Freiheit markiert wird – man denke nur an das »bedingungslose Grundeinkommen«.
Und: Erst in der Fähigkeit, alle vorgefundenen Bedingtheiten zu überschreiten, fände das Subjekt seine wahre Identität – in der Machtausübung durch seinen Willen. Derweil ist es kein Widerspruch, wenn Merkmale abgestreift werden, die klassischerweise Identität begründen: Familienzugehörigkeit, Geschlecht, Religion, handelt es sich doch dabei um kollektive und nichtpersönliche Merkmale. Löst sich das Subjekt als nächstes noch aus der kollektiven Identität »Spezies« heraus, bleibt ihm nur noch das Merkmal, das allen organischen oder nicht-organischen Systemen zugrunde liegt: seine datenverarbeitende Funktion. Den Menschen in seinem falsch verstandenen Freiheitswahn trennt dann nichts mehr vom Tier, von der Pflanze, der Maschine.
In der Tat sind wir längst dabei, die kollektive Identität »Mensch« abzuschaffen, zum Beispiel in der Tierrechtsbewegung, deren Forderungen nach Personenrechten für Tiere zunehmend Gehör finden. Dies wird sich in Zukunft auch auf die Forderung nach Personenrechten für Computer ausweiten: »Warum sollte Leben auf kohlenstoffbasierte Proteine beschränkt bleiben?« fragt der Transhumanismus-Philosoph Nick Bostrom. Er spricht von »Kohlenstoffchauvinismus« und »Bionismus« und sieht darin – wen sollte es wundern? – eine Form von Rassismus. »Von einem moralischen Standpunkt aus ist es egal, ob jemandes Neuronen aus Silizium bestehen oder biologisch sind.« (8) Die Diskussion darüber, inwiefern Künstliche Intelligenz Personenstatus besitzen könnte, ist in den USA bereits in vollem Gange.
Die Zukunft wird zeigen, ob auch »nichtorganischen Wesenheiten« die verfassungsmäßigen Grundrechte zugebilligt werden und ob die unsachgemäße Behandlung oder Beleidigung des eigenen Computers als »rassistische Straftat« geahndet wird. Saudi-Arabien verlieh 2017 als erstes Land der Welt dem Roboter »Sophia« die Staatsbürgerschaft.
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(1) – Zitat aus »Die Beschwörung des Dämons Künstliche Intelligenz«, veröffentlicht im Juni 2022 auf axelkra.us
(2) – Zitat aus »Die Abschaffung der Seele«, veröffentlicht von Julia Weiss am 10. Mai 2022 auf
multipolar-magazin.de
(3) – Zitat aus »Transhumanismus – Provokation, Wahn oder Verbrechen?«, veröffentlicht von Kai Ehlers am 17. September 2019 auf kai-ehlers.de
(4) – Vgl. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1, München 1956.
(5) – Vgl. »Der Kult ums Hirn«, veröffentlicht von Boris Kotchoubey am 20. Januar 2012 auf
novo-argumente.com
(6) – Zitat aus »Why are you free?«, veröffentlicht von Thilo Spahl am 10. Oktober 2012 auf
novo-argumente.com
(7) – Zitat aus »Das Hirn entscheidet gar nichts«, veröffentlicht am 24. September 2004 auf tagesspiegel.de
(8) – Zitat aus »Die transhumanistische Bewegung«, 2015 veröffentlicht von Detlef Scholz auf
raum-und-zeit.com