A Natural History aus der Feder des britischen Althistorikers Greg Woolf, aktuell Professor für Alte Geschichte an der University of California. Woolf, der sich vor allem durch seine Arbeiten zum Römischen Reich einen Namen gemacht hat, nähert sich dem antiken Urbanismus dabei über zwei für seinen akademischen Fachbereich eher unkonventionelle Zugänge: einen evolutionstheoretischen und einen ökologischen.
Doch während der ökologische Zugang, der im englischen Originaltitel durch A Natural History repräsentiert wird, im Buch erhellende Perspektiven eröffnet, hat sich Woolf mit dem evolutionstheoretischen Strang teilweise selbst ein Bein gestellt. Nicht, weil er für die Analyse untauglich wäre, ganz im Gegenteil, denn Woolf vermag aufzuzeigen, wie die Ausbreitung der Städte von der Levante bis in den weiteren Mittelmeerraum einem langsamen Durchsickern aus Weiterentwicklung und Nachahmung glich, die nicht zielgerichtet auf einen festgelegten und beabsichtigten Endzustand städtischer Hochkulturen zusteuerte, sondern eine Abfolge aus Erfolgen und Mißerfolgen, von Aufstieg und Fall darstellte. Sondern, weil dieser Strang ihn dazu verleitet, mit dem ersten Teil, »Ein urbanes Lebewesen«, einen langatmigen Anlauf in das eigentliche Thema zu nehmen.
Inwiefern der Mensch durch die Evolution alle biologischen Voraussetzungen zum urbanen Leben mitbekommen hat, ist ohne Frage ein interessanter Zusammenhang, allerdings hätten diese Voraussetzungen auch auf weniger Seiten elaboriert werden können, so daß der Leser nicht erst nach rund einem Viertel des Buches in die Entstehung der antiken Metropolen einsteigt.
Gleichwohl lohnt es sich, den langen Anlauf zu nehmen, denn auf ihn folgt eine stringente, wenn auch nur exkursorische Darlegung antiker Stadtgeschichte: wie aus unscheinbaren Dörfern und vergleichsweise unspektakulären ersten städtischen Siedlungen schlußendlich Metropolen mit opulenten Tempelbauten und Einwohnerzahlen von rund 35 000 wurden. Städte mit nur 35 000 Einwohnern?
Den Mythos auszuräumen, daß antike Metropolen vergleichbar mit den unsrigen Ballungszentren gewesen wären, gehört zu den wesentlichen Anliegen Woolfs. Rom auf seinem Bevölkerungszenit von rund einer Million Einwohner in der Spätantike gehört zu den absoluten Ausnahmen und war keinesfalls die Regel.
Vielmehr fielen sowohl die Handelsbeziehungen und Migrationsbewegungen als auch die Siedlungsanzahl und ‑dichte im Vergleich zu den Waren- und Menschenströmen sowie zur Zersiedelung des 21. Jahrhunderts mickrig aus: »Eine aktuelle, auf einem modernen Verständnis von Demographie beruhende Schätzung«, hält Woolf fest, »kommt zu dem Schluß, daß die Anzahl an Griechen, die zwischen 750 und 600 v. Chr. (also in jener Periode, in der die meisten neuen Siedlungen entstanden) die ägäische Welt verließen, um anderswo am Mittelmeer oder am Schwarzen Meer eine neue Heimat zu finden, sich zwischen 500 und 1000 Personen pro Jahr bewegte.«
Und ergänzt hinsichtlich der Stadtgröße: »Die meisten Städte blieben sehr klein, mit Bevölkerungszahlen im unteren Tausenderbereich.« Dabei hängt das urbane Potential der Siedlungen bzw. die maximale Bevölkerungszahl, die eine Siedlung zu tragen vermag, von ihrer geographischen Position ab. Hier führt Woolf Faktoren wie die Bodenfruchtbarkeit, die Lage an einem Fluß oder an einem maritimen Knotenpunkt an.
Obgleich gerade anhand dieser ökologischen Aspekte die Regelhaftigkeiten im sozialen Prozeß der Stadtbildung über seine Erläuterungen immer wieder augenfällig werden, bleibt Woolf ganz der klassische Historiker: Er versteht den Aufstieg und den Niedergang antiker Städte zuvorderst als eine Kette von Einzelfällen, die durch ihre Singularität und nicht durch ihre Gemeinsamkeiten definiert werden.
Greift man ungeachtet dessen Woolfs Analysen auf und nimmt eine stringent umwelthistorische Perspektive ein, wird die Grundvoraussetzung, die alle Urbanisierungsprozesse verbindet, deutlich: der Energiefluß. »Im 6. Jahrhundert schälte sich eine kleine Zahl von Städten aus der großen Masse heraus. Einige waren zentrale Knotenpunkte, die aufgrund geographischer Verhältnisse oder menschlicher Anstrengung besser angebunden waren als andere. Einige der neuen führenden Städte verfügten über kostbare Ressourcen an Land, Feldfrüchten, Metallen oder Gestein.«
Abgesehen von einigen natürlich gegebenen Grundvoraussetzungen – Land, Feldfrüchte usw. –, profitierten die griechischen Städte von ihrer maritimen Lage. Der Seehandel ließ einen Ressourcentransport respektive Energiefluß zu, den eine Siedlung im Hinterland fernab jedweder Wasserstraße nie zu bündeln vermochte. Daraus ergab sich wiederum ein Bevölkerungswachstum, das den vom Energiefluß bedingten zweiten Antreiber der antiken Metropolenbildung darstellte: »Demographie trieb alles an, denn die Volkskraft war von fundamentaler Bedeutung. […] Mehr Menschen bedeutete mehr Energie für den Ackerbau, den Bergbau, den Bau von Gebäuden und den Kampf.«
Zum Einstieg in die antike Städtewelt mit umwelthistorischen Anklängen liegt mit Woolfs Metropolis ein lesenswertes Buch vor, indes der bereits bewanderte Leser auf der Suche nach Details zur Geschichte einzelner antiker Zentren und zu ihrem Sozialgefüge sich anderweitig umschauen sollte.
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Greg Woolf: Metropolis. Aufstieg und Niedergang antiker Städte, Stuttgart: Klett-Cotta 2022. 608 S., 35 €
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