Fast ist man geneigt, dahinter eine Verschwörung böser Geister zu sehen, die entschieden haben, diesem Teil der Welt den Weg zum »Reingeistigen« zu verschließen! Denn genau hier, im »Reingeistigen«, liegt Guénons ureigenste Sphäre. In Frankreich erscheint er bei Gallimard, in Rußland sind über zwanzig seiner Bücher erhältlich. In Deutschland dagegen gab es neben dem wichtigen Werk Die Krisis der Neuzeit (1950) im Hegner Verlag lange Zeit nur drei in den achtziger Jahren publizierte kleinere Schriften, Der König der Welt, Die Symbolik des Kreuzes und Stufen des Seins in der Edition Ambra.
All diese Bücher waren jahrzehntelang bibliophile Raritäten und erzielten im Antiquariat teilweise horrende Preise. Erst 2020 läutete Matthes & Seitz eine Wende ein und brachte Die Krise der modernen Welt als Neuübersetzung heraus. Und es bleibt zu hoffen, daß diese längst überfällige Entdeckerarbeit fortgesetzt wird und uns weitere Meilensteine des Denkers zugänglich macht.
Nun aber bietet uns ein anderer Verlag – Königshausen & Neumann – eine Aufsatzsammlung mit dem Titel Tradition, Metaphysik, Initiation an, wofür dem Übersetzer und Autor des informativen Vorworts, Felix Herkert, gedankt sei.
In den hier versammelten Essays umreißt Guénon Begriffe und Bereiche, die dem Esoterischen angehören und auf dem Wege der »Verwirklichung« transzendenter Zustände von entscheidender Bedeutung sind. Unter anderem die Überlieferung, die Einweihung und die Symbolik in Ost und West. Dabei sind seine Definitionen nicht nur Ein‑, sondern vor allem auch Abgrenzungen von der herkömmlichen Verwendung der behandelten Termini.
Mit unermüdlichem Elan und beinahe haarspalterischer Pedanterie wehrt er sich bei seinen Betrachtungen gegen auch wirklich jede Möglichkeit des modernen Mißverstehens. Selbst die leiseste Hoffnung, daß ein zeitgenössischer Abendländer überhaupt in der Lage sei, den wahren Geist des Gesagten zu erfassen, ist aus seiner Sicht ein ganz und gar illegitimes Zugeständnis an die feindliche Seite und eigentlich Verrat an der Sache. (Wobei er sich selbst immer stillschweigend ausnimmt.)
Daß diese strenge Trennung notwendig ist, daran besteht kein Zweifel. Zu groß ist das Verwaschene der traditionalen Konzepte im Lager der positivistischen Akademiker. Und doch schießt Guénon oft genug über das Ziel hinaus: Natürlich ist der heutige Gebrauch des Wortes »Philosophie« nicht mit dem ursprünglichen pythagoreischen und sokratischen vereinbar, doch verdient er es, eben weil er pythagoreisch und sokratisch ist, kaum, über Bord geworfen zu werden. Denn Philosophie ist eben nicht bloß Sophophilie, die Weisheitsliebe, vielmehr Liebesweisheit und damit ein Mysterium und in ihrem einstigen Sinne dem Reingeistigen sehr viel näher als der spätere aristotelische Begriff »Metaphysik«.
Doch Guénon ist in seiner Art weit mehr ein Aristoteliker und Scholastiker als ein Platoniker – ganz im Gegenteil zu seinen Mitstreitern wie Julius Evola, Titus Burckhardt oder Frithjof Schuon. Er zitiert viel öfter den Stageriten und den Aquinat als beispielsweise Plotin, Jamblichos oder Dionysius Areopagita. Er mißtraut zutiefst allem Menschlichen, das er stets als profan interpretiert. Daher auch seine Relativierung der hellenischen Geistigkeit – wegen ihrer anthropomorphen Impulse, so als hätte es die Vorsokratiker nicht gegeben mit ihrer rauhen, negativen Theologie, oder die Neuplatoniker, wie Plotin, mit ihrem schwindelerregenden Höhenflug.
Daher auch seine Kritik der Renaissance – deren Väter den Menschen freilich niemals in diesem Sinne verstanden haben. Ein Blick in Mirandolas Schrift Über die Würde des Menschen genügt, um sich vom Gegenteil zu überzeugen: »[…] bei der Pflege der intellektualen Keime wird er ein Engel und Gottes Sohn sein. Und wenn er mit dem Lose keines Geschöpfs zufrieden, sich in den Mittelpunkt seiner Ganzheit zurückziehen wird, dann wird er zu einem Geist mit Gott gebildet werden, in der einsamen Dunkelheit des Vaters, der über alles erhaben ist […].« Oder in die Briefe des Marsilio Ficino: »Erkenne dich selbst, du göttliches Geschlecht im sterblichen Gewande […]. Blicket zum Himmel auf als göttliche Bürger des himmlischen Vaterlandes, ihr Bewohner der Erde […]. Suche dich außerhalb der Welt«.
Als reiner »Pneumatiker«, wie Schuon ihn bezeichnete, als jemand der die Kontemplation über die Tat stellt, verachtet Guénon auch alle Anwendung des Höheren. Nicht nur die Magie, sondern auch die an sich durch und durch traditionale Institution des Orakels ist für ihn ein Ausdruck der allerniedrigsten Ebene. Und so überläßt er die Trigramme des chinesischen I Ging, denen er einen »genuin metaphysischen Sinn« zuspricht, in ihrer divinatorischen Applikation »herumziehenden Gauklern«.
Um so befremdlicher erscheint es da, wenn er problemlos akzeptiert, daß »gewisse Rosenkreuzer« einzelne Buchexemplare mit »geistigen Einflüssen aufladen«. Oder wenn er im Nebensatz ganz lapidar behauptet, die Priesterweihe verleihe jenen, die sie empfangen haben, »gewisse Fähigkeiten«, die sie »zuvor nicht besaßen«.
Doch wie dem auch sei: Guénon ist und bleibt eine durch nichts zu ersetzende intellektuelle (oder sollen wir sagen: intellektuale) Herausforderung für jeden, der die Moderne ablehnt.
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René Guénon: Tradition, Metaphysik, Initiation. Ausgewählte Texte, übersetzt und eingeleitet von Felix Herkert, Würzburg: Königshausen & Neumann 2022. 184 S., 20 €
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