Enno Stahl: Realismus und Engagement

von Jörg Seidel --

Die Sorgen, die Enno Stahl – Autor bei Junge Welt und taz – umtreiben, kann man teilen.

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Die gelieb­te Lite­ra­tur befin­de sich in der Deka­denz, als zeit­ge­nös­si­sche käme sie kaum noch an die klas­si­schen Vor­bil­der her­an, es regier­ten die Ego­trips, die gefüh­li­gen Ich-Erzäh­lun­gen, die »nar­ziß­ti­schen Selbst­ent­blö­ßun­gen«, die »Bauch­na­bel­per­spek­ti­ven lite­ra­ri­scher Pfei­fen­hei­nis und Flötentussis«.

Die Lite­ra­tur habe ihren Sta­tus als »zen­tra­les Instru­ment zur Über­mitt­lung von Erfah­rung, Welt­wis­sen, Deu­tungs­mus­tern und der Kri­tik am Bestehen­den weit­ge­hend ­ver­lo­ren«, die Post­mo­der­ne habe trotz kri­ti­scher Ansät­ze der Ana­ly­se von Macht­struk­tu­ren zu einer »iro­nisch-distink­ti­ven Hal­tung« oder zu »anti-sozia­lis­ti­schen Säu­be­run­gen« geführt, sei zu einem »Side­kick der neo­li­be­ra­len Wirt­schaft« ver­kom­men, kurz: Es herr­sche eine »lite­ra­ri­sche Anämie der Gegen­warts­li­te­ra­tur« vor.

Spe­zi­ell dem »lin­ken Dis­kurs­feld«, das Stahl bele­ben möch­te, man­ge­le es an einem »über­grei­fen­den Motiv«, die alten Bin­de­ele­men­te wie die »Klas­se« sei­en ver­schwun­den, Kul­tur sei in die­sem Seg­ment vor allem zu einer Bekennt­nis­welt ver­fal­len, die nicht um die sozia­le Fra­ge, son­dern um Inter­sextoi­let­ten oder Gen­der­stern­chen kämp­fe oder um das The­ma der »Lite­ra­ri­schen Aneig­nung« rin­ge – ein Theo­rem, ein »gedank­li­cher Mao-Anzug«, nach des­sen Dog­ma nie­mand mehr über jeman­den schrei­ben darf, der er nicht sel­ber ist, also kein Mann mehr über eine Frau und kein Wei­ßer über einen India­ner usw.

Der gebil­de­te und kul­tur­lie­ben­de Autor lei­det unter die­sen iden­ti­täts­po­li­ti­schen Pri­mi­ti­vis­men, die er sei­nen poten­ti­el­len Genos­sen aber kaum als sol­che ent­blö­ßen kann, auf Gefahr des Aus­schlus­ses. So ist die­ses Buch dop­pelt inter­es­sant: Es zeigt die Apo­rien lin­ken Den­kens – dort, wo es noch zu den­ken wagt –, und es stellt ein Kon­zept vor, von dem Stahl sich die Ret­tung erhofft. Und das in viel­fa­chen Anläu­fen und anhand ver­schie­de­ner bren­nen­der The­men (Fake News, Eli­te, Alter­na­ti­ve, Öko­lo­gie, Coro­na u. a.), die wie­der­um zei­gen, daß er das Ohr am Puls der Zeit hat, im Grun­de ein sen­si­bler Beob­ach­ter ist. Die Wider­sprü­che wie­der­um kom­men durch sein ideo­lo­gie­ba­sier­tes Voka­bu­lar zustan­de. Hier läßt sich eine Form lin­ker Logik haut­nah stu­die­ren, ein argu­men­ta­ti­ver Eier­tanz, vor­aus­ge­setzt, man begeg­net ihr nicht wer­tend, son­dern analytisch.

Ange­sichts eines grund­le­gen­den Theo­rie­de­fi­zits vor dem Hin­ter­grund der zahl­rei­chen Kri­sen befragt Stahl die Lite­ra­tur nach ihren Hilfs­mög­lich­kei­ten und traut ihr viel zu – in der Theo­rie. Es müß­te eine ande­re Lite­ra­tur her; er faßt sie unter dem Begriff des »Ana­ly­ti­schen Rea­lis­mus« – die­sen zu ent­wer­fen bil­det den roten Faden der immer neu ein­set­zen­den Refle­xio­nen. Sie müs­se volks­nah sein, nicht ästhe­ti­siert und den­noch künst­le­risch anspruchsvoll.

Sie brau­che eine »Ana­ly­se der Gesell­schaft, ihrer Kraft- und Pro­blem­fel­der«, die »ver­sucht die wir­ken­den Kräf­te dahin­ter« zu ent­schlei­ern, sie soll durch einen »Rea­lis­mus der Welt­wahr­neh­mung« gekenn­zeich­net sein, kann aber auch eine »sozia­le Uto­pie« beinhal­ten. Wür­de Stahl sei­ne Scheu­klap­pen able­gen, dann könn­te er in Tell­kamp etwa oder in Ras­pail fast alles vor­fin­den, aber sei­ne Aver­si­on hin­dert ihn.

Kom­plett aus der Rei­he fällt ein Abschnitt über »Spra­che und Dis­kurs­stra­te­gien der Neu­en Rech­ten«, es sei denn, er sieht die »rech­te Gefahr« tat­säch­lich als genui­nes Pro­blem an. Man kann das bei jeman­dem, der einen geschmack­lo­sen Afri­ka­ner­witz für »rech­tes Gedan­ken­gut« hält, nicht aus­schlie­ßen. Hier könn­ten die Wahr­neh­mungs­dif­fe­ren­zen nicht grö­ßer sein.

Wäh­rend die Rech­te die Gren­zen des Sag­ba­ren durch selbst­er­leb­te Sank­tio­nen ein­ge­engt sieht, meint Stahl sie erwei­tert zu sehen, weil die Din­ge über­haupt gesagt und benannt wer­den kön­nen, was nicht hät­te pas­sie­ren dür­fen. Dem­nach habe die Rech­te die Hege­mo­nie (Gramsci) bereits errun­gen, und die Lin­ke müs­se sie nun zurück­er­obern: »Der lin­ke Mythos ist zerbrochen«.

So kommt zu allen gesun­den Denk­an­stö­ßen und Rei­bungs­punk­ten noch ein gutes Stück unfrei­wil­li­ger Komik hin­zu. Man hat immer­hin das Gefühl, daß man sich mit dem Mann kul­ti­viert unter­hal­ten könn­te, wenn er es denn zulie­ße. Bis dahin kann man mit sei­nem gedan­ken­rei­chen Buch vorliebnehmen.

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Enno Stahl: Rea­lis­mus und Enga­ge­ment. Lite­ra­tur als Gesell­schafts­ana­ly­se und sozia­le Uto­pie, Köln: Papy­Ros­sa 2022. 197 S., 18 €

 

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