Die geliebte Literatur befinde sich in der Dekadenz, als zeitgenössische käme sie kaum noch an die klassischen Vorbilder heran, es regierten die Egotrips, die gefühligen Ich-Erzählungen, die »narzißtischen Selbstentblößungen«, die »Bauchnabelperspektiven literarischer Pfeifenheinis und Flötentussis«.
Die Literatur habe ihren Status als »zentrales Instrument zur Übermittlung von Erfahrung, Weltwissen, Deutungsmustern und der Kritik am Bestehenden weitgehend verloren«, die Postmoderne habe trotz kritischer Ansätze der Analyse von Machtstrukturen zu einer »ironisch-distinktiven Haltung« oder zu »anti-sozialistischen Säuberungen« geführt, sei zu einem »Sidekick der neoliberalen Wirtschaft« verkommen, kurz: Es herrsche eine »literarische Anämie der Gegenwartsliteratur« vor.
Speziell dem »linken Diskursfeld«, das Stahl beleben möchte, mangele es an einem »übergreifenden Motiv«, die alten Bindeelemente wie die »Klasse« seien verschwunden, Kultur sei in diesem Segment vor allem zu einer Bekenntniswelt verfallen, die nicht um die soziale Frage, sondern um Intersextoiletten oder Gendersternchen kämpfe oder um das Thema der »Literarischen Aneignung« ringe – ein Theorem, ein »gedanklicher Mao-Anzug«, nach dessen Dogma niemand mehr über jemanden schreiben darf, der er nicht selber ist, also kein Mann mehr über eine Frau und kein Weißer über einen Indianer usw.
Der gebildete und kulturliebende Autor leidet unter diesen identitätspolitischen Primitivismen, die er seinen potentiellen Genossen aber kaum als solche entblößen kann, auf Gefahr des Ausschlusses. So ist dieses Buch doppelt interessant: Es zeigt die Aporien linken Denkens – dort, wo es noch zu denken wagt –, und es stellt ein Konzept vor, von dem Stahl sich die Rettung erhofft. Und das in vielfachen Anläufen und anhand verschiedener brennender Themen (Fake News, Elite, Alternative, Ökologie, Corona u. a.), die wiederum zeigen, daß er das Ohr am Puls der Zeit hat, im Grunde ein sensibler Beobachter ist. Die Widersprüche wiederum kommen durch sein ideologiebasiertes Vokabular zustande. Hier läßt sich eine Form linker Logik hautnah studieren, ein argumentativer Eiertanz, vorausgesetzt, man begegnet ihr nicht wertend, sondern analytisch.
Angesichts eines grundlegenden Theoriedefizits vor dem Hintergrund der zahlreichen Krisen befragt Stahl die Literatur nach ihren Hilfsmöglichkeiten und traut ihr viel zu – in der Theorie. Es müßte eine andere Literatur her; er faßt sie unter dem Begriff des »Analytischen Realismus« – diesen zu entwerfen bildet den roten Faden der immer neu einsetzenden Reflexionen. Sie müsse volksnah sein, nicht ästhetisiert und dennoch künstlerisch anspruchsvoll.
Sie brauche eine »Analyse der Gesellschaft, ihrer Kraft- und Problemfelder«, die »versucht die wirkenden Kräfte dahinter« zu entschleiern, sie soll durch einen »Realismus der Weltwahrnehmung« gekennzeichnet sein, kann aber auch eine »soziale Utopie« beinhalten. Würde Stahl seine Scheuklappen ablegen, dann könnte er in Tellkamp etwa oder in Raspail fast alles vorfinden, aber seine Aversion hindert ihn.
Komplett aus der Reihe fällt ein Abschnitt über »Sprache und Diskursstrategien der Neuen Rechten«, es sei denn, er sieht die »rechte Gefahr« tatsächlich als genuines Problem an. Man kann das bei jemandem, der einen geschmacklosen Afrikanerwitz für »rechtes Gedankengut« hält, nicht ausschließen. Hier könnten die Wahrnehmungsdifferenzen nicht größer sein.
Während die Rechte die Grenzen des Sagbaren durch selbsterlebte Sanktionen eingeengt sieht, meint Stahl sie erweitert zu sehen, weil die Dinge überhaupt gesagt und benannt werden können, was nicht hätte passieren dürfen. Demnach habe die Rechte die Hegemonie (Gramsci) bereits errungen, und die Linke müsse sie nun zurückerobern: »Der linke Mythos ist zerbrochen«.
So kommt zu allen gesunden Denkanstößen und Reibungspunkten noch ein gutes Stück unfreiwilliger Komik hinzu. Man hat immerhin das Gefühl, daß man sich mit dem Mann kultiviert unterhalten könnte, wenn er es denn zuließe. Bis dahin kann man mit seinem gedankenreichen Buch vorliebnehmen.
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Enno Stahl: Realismus und Engagement. Literatur als Gesellschaftsanalyse und soziale Utopie, Köln: PapyRossa 2022. 197 S., 18 €
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