Während es das Phänomen der Schamkultur als eine die Gegenwartspolitik kennzeichnende Kollektivneurose treffend beschreibt, bleibt die Bestimmung der Ursachen banal. Zudem finden sich die stärksten Passagen eben weniger in den Darstellungen des Autors selbst als in den von ihm versammelten Zitaten.
Daran und an herbeigezogenen Autoritätsbeweisen bietet der Autor viel zuviel auf, so daß die Querverweise die eigene Aussage überwuchern. Die Beschreibung unserer kulturellen Verstelltheiten stimmt: »Dem vermeintlichen Rassismus und Sexismus wird nicht etwa mit Forderungen nach Gleichberechtigung oder Beseitigung sämtlicher Vorurteile zu begegnen versucht, sondern mit einem umgekehrten Rassismus und Sexismus: Wer die falsche Hautfarbe oder Sexualität oder das falsche Alter hat, soll sich schämen – und das heißt, nach der Vorstellung dieser Akteure am besten schweigen oder aus der Öffentlichkeit verschwinden.« Dies führt zu bizarren Handlungsanweisungen: Nur Indigene sollen Federschmuck, nur Japaner Kimono tragen, nur Schwarze über Sklaverei sprechen dürfen.
Die Diskurskultur wurde durch solche Vorgaben erstickt. Alle sollen sich schämen: profitorientierte Unternehmer, weiße Männer, Übergewichtige, Rechte sowieso, gerade weil alles Verworfene mittlerweile nicht nur als verworfen, sondern damit gleichfalls als irgendwie rechts zu gelten hat. Die Verunglimpften sollen nicht zu Wort kommen, sie haben beschämt zu schweigen.
Robert Pfaller sieht die Scham jedoch als nicht schuldgeleitet an. Der »Irrtum der Anthropologen« bestehe darin, daß eine Außenleitung der Scham und des Schämens erfolgen würde: »Das erste gravierende Mißverständnis der Scham besteht […] in der Auffassung, die Scham würde sich an andere Menschen als Urteilsinstanz richten, die Schuld hingegen an das eigene Gewissen, das Über-Ich oder an eine ›höhere Instanz‹. […] In psychoanalytischen Begriffen bedeutet das: Die Scham wäre eine unreife, infantile Form von Moralität, ausschließlich von der Furcht vor dem Verlust der Liebe anderer geleitet.«
Dies identifiziert Pfaller als eine Angst, von der es sich zu befreien gilt. Die Scham bestrafe sich allein selbst. Sie stelle sich zudem ein, wenn das Als-ob der gesellschaftlichen Konstruktionen zusammenbricht, wenn also der Kaiser nackt dasteht wie in Andersens Märchen. Oder besser: Wenn plötzlich allen offenbar wird, daß er ja nackt ist. Das zweite Mißverständnis in der Deutung der Scham erkennt der Autor als einen »Irrtum der Psychoanalytiker« in der Annahme, Scham werde vom Über-Ich verursacht, wenn es das Ich in einem Defizit erkenne.
Dagegen wird in komplizierter Argumentation der »Blick von unten auf das Ich« problematisiert. Offenbar soll der Mensch es lernen, sich mit seiner »ontischen Mitgift« (Günther Anders), also mit seinen naturgegebenen oder von sozialen Prägungen ausgelösten Mängeln, abzufinden bzw. auszusöhnen.
Weshalb produziert unsere Gegenwartskultur in so enormem Maße Scham? Pfaller resümiert: »Denn in Schamkulturen unternehmen Menschen sehr viel, damit niemand sich zu schämen braucht. In unserer Kultur dagegen scheint umgekehrt sehr viel unternommen zu werden, damit das Gegenteil der Fall ist.« Er erkennt unsere Gesellschaft als »Abstiegsgesellschaft« (Oliver Nachtwey): »Wenn Menschen von der Zukunft nichts mehr erhoffen, verlernen sie es wohl auch, von sich selbst etwas zu erwarten. […] An die Stelle verbindender Interessen treten trennende Identitäten. […] In der entsolidarisierten Gesellschaft sind alle einander unausweichlich peinlich – und sie genießen mehr oder weniger heimlich ihre Fähigkeit, die anderen so zu empfinden.«
So finden sich einige starke Sätze. Nur drängt sich der Eindruck auf, dies alles wäre gut in einem bündigen Essay zu formulieren gewesen. Daß daraus ein ganzes Buch wurde, liegt daran, daß Pfaller seine Argumentationen und Urteile mit einem Übermaß an Zitaten und dem Nachweis enormer Belesenheit ausstaffiert.
Fragwürdig ferner, wenn sich die in mangelnder Systematik schwer zu erlesenden Grundgedanken allein auf Freuds Psychoanalyse und deren moderne Varianten berufen. Das Phänomen der derzeitigen Schamkultur ist zu sehr von politischen Kräften und deren Zielstellungen bestimmt, als daß es sich allein psychoanalytisch fassen ließe.
Zu 140 Seiten Buch liefert Robert Pfaller einen ausufernden 65seitigen Apparat an Anmerkungen und bibliographischen Verweisen. Mag sein, die Unklarheit mancher Gedankenführung und die diffuse Gliederung sind einer Verzettelung des Autors in einem allzu breiten Spektrum geschuldet.
Eine Reduzierung wäre zugunsten von Stringenz dringend notwendig gewesen. Mag aber sein, daß selbst das Lektorat den Gedanken nicht mehr vollständig folgen konnte oder wollte. Verständlich. Zudem wird Zitat an Zitat gestrickt, so als hätte Pfaller eine permanente Rückversicherung nötig. Wichtiger wären klare eigene Gedanken gewesen.
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Robert Pfaller: Zwei Enthüllungen über Scham, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2022. 207 S., 22 €
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