Robert Pfaller: Zwei Enthüllungen über Scham

Das Buch hält letztlich nicht, was sein Titel verspricht.

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

Wäh­rend es das Phä­no­men der Scham­kul­tur als eine die Gegen­warts­po­li­tik kenn­zeich­nen­de Kol­lek­tiv­n­eu­ro­se tref­fend beschreibt, bleibt die Bestim­mung der Ursa­chen banal. Zudem fin­den sich die stärks­ten Pas­sa­gen eben weni­ger in den Dar­stel­lun­gen des Autors selbst als in den von ihm ver­sam­mel­ten Zitaten.

Dar­an und an her­bei­ge­zo­ge­nen Auto­ri­täts­be­wei­sen bie­tet der Autor viel zuviel auf, so daß die Quer­ver­wei­se die eige­ne Aus­sa­ge über­wu­chern. Die Beschrei­bung unse­rer kul­tu­rel­len Ver­stellt­hei­ten stimmt: »Dem ver­meint­li­chen Ras­sis­mus und Sexis­mus wird nicht etwa mit For­de­run­gen nach Gleich­be­rech­ti­gung oder Besei­ti­gung sämt­li­cher Vor­ur­tei­le zu begeg­nen ver­sucht, son­dern mit einem umge­kehr­ten Ras­sis­mus und Sexis­mus: Wer die fal­sche Haut­far­be oder Sexua­li­tät oder das fal­sche Alter hat, soll sich schä­men – und das heißt, nach der Vor­stel­lung die­ser Akteu­re am bes­ten schwei­gen oder aus der Öffent­lich­keit ver­schwin­den.« Dies führt zu bizar­ren Hand­lungs­an­wei­sun­gen: Nur Indi­ge­ne sol­len Feder­schmuck, nur Japa­ner Kimo­no tra­gen, nur Schwar­ze über Skla­ve­rei spre­chen dürfen.

Die Dis­kurs­kul­tur wur­de durch sol­che Vor­ga­ben erstickt. Alle sol­len sich schä­men: profit­orientierte Unter­neh­mer, wei­ße Män­ner, Über­ge­wich­ti­ge, Rech­te sowie­so, gera­de weil ­alles Ver­wor­fe­ne mitt­ler­wei­le nicht nur als ver­wor­fen, son­dern damit gleich­falls als irgend­wie rechts zu gel­ten hat. Die Ver­un­glimpf­ten sol­len nicht zu Wort kom­men, sie haben beschämt zu schweigen.

Robert Pfal­ler sieht die Scham jedoch als nicht schuld­ge­lei­tet an. Der »Irr­tum der Anthro­po­lo­gen« bestehe dar­in, daß eine Außen­lei­tung der Scham und des Schä­mens erfol­gen wür­de: »Das ers­te gra­vie­ren­de Miß­ver­ständ­nis der Scham besteht […] in der Auf­fas­sung, die Scham wür­de sich an ande­re Men­schen als Urteils­in­stanz rich­ten, die Schuld hin­ge­gen an das eige­ne Gewis­sen, das Über-Ich oder an eine ›höhe­re Instanz‹. […] In psy­cho­ana­ly­ti­schen Begrif­fen bedeu­tet das: Die Scham wäre eine unrei­fe, infan­ti­le Form von Mora­li­tät, aus­schließ­lich von der Furcht vor dem Ver­lust der Lie­be ande­rer geleitet.«

Dies iden­ti­fi­ziert Pfal­ler als eine Angst, von der es sich zu befrei­en gilt. Die Scham bestra­fe sich allein selbst. Sie stel­le sich zudem ein, wenn das Als-ob der gesell­schaft­li­chen Kon­struk­tio­nen zusam­men­bricht, wenn also der Kai­ser nackt dasteht wie in Ander­sens Mär­chen. Oder ­bes­ser: Wenn plötz­lich allen offen­bar wird, daß er ja nackt ist. Das zwei­te Miß­ver­ständ­nis in der Deu­tung der Scham erkennt der Autor als einen »Irr­tum der Psy­cho­ana­ly­ti­ker« in der Annah­me, Scham wer­de vom Über-Ich ver­ur­sacht, wenn es das Ich in einem Defi­zit erkenne.

Dage­gen wird in kom­pli­zier­ter Argu­men­ta­ti­on der »Blick von unten auf das Ich« pro­ble­ma­ti­siert. Offen­bar soll der Mensch es ler­nen, sich mit sei­ner »onti­schen Mit­gift« (Gün­ther Anders), also mit sei­nen natur­ge­ge­be­nen oder von sozia­len Prä­gun­gen aus­ge­lös­ten Män­geln, abzu­fin­den bzw. auszusöhnen.

Wes­halb pro­du­ziert unse­re Gegen­warts­kul­tur in so enor­mem Maße Scham? Pfal­ler resü­miert: »Denn in Scham­kul­tu­ren unter­neh­men ­Men­schen sehr viel, damit nie­mand sich zu schä­men braucht. In unse­rer Kul­tur dage­gen scheint umge­kehrt sehr viel unter­nom­men zu wer­den, damit das Gegen­teil der Fall ist.« Er erkennt unse­re Gesell­schaft als »Abstiegs­ge­sell­schaft« (­Oli­ver Nachtwey): »Wenn Men­schen von der Zukunft nichts mehr erhof­fen, ver­ler­nen sie es wohl auch, von sich selbst etwas zu erwar­ten. […] An die Stel­le ver­bin­den­der Inter­es­sen tre­ten tren­nen­de Iden­ti­tä­ten. […] In der ent­so­li­da­ri­sier­ten Gesell­schaft sind alle ein­an­der unaus­weich­lich pein­lich – und sie genie­ßen mehr oder weni­ger heim­lich ihre Fähig­keit, die ande­ren so zu empfinden.«

So fin­den sich eini­ge star­ke Sät­ze. Nur drängt sich der Ein­druck auf, dies alles wäre gut in einem bün­di­gen Essay zu for­mu­lie­ren gewe­sen. Daß dar­aus ein gan­zes Buch wur­de, liegt dar­an, daß Pfal­ler sei­ne Argu­men­ta­tio­nen und Urtei­le mit einem Über­maß an Zita­ten und dem Nach­weis enor­mer Bele­sen­heit ausstaffiert.

Frag­wür­dig fer­ner, wenn sich die in man­geln­der Sys­te­ma­tik schwer zu erle­sen­den Grund­ge­dan­ken allein auf Freuds Psy­cho­ana­ly­se und deren moder­ne Vari­an­ten beru­fen. Das Phä­no­men der der­zei­ti­gen Scham­kul­tur ist zu sehr von poli­ti­schen Kräf­ten und deren Ziel­stel­lun­gen bestimmt, als daß es sich allein psy­cho­ana­ly­tisch fas­sen ließe.

Zu 140 Sei­ten Buch lie­fert Robert Pfal­ler einen aus­ufern­den 65seitigen Appa­rat an Anmer­kun­gen und biblio­gra­phi­schen Ver­wei­sen. Mag sein, die Unklar­heit man­cher Gedan­ken­füh­rung und die dif­fu­se Glie­de­rung sind einer Ver­zet­te­lung des Autors in einem all­zu brei­ten Spek­trum geschuldet.

Eine Redu­zie­rung wäre zuguns­ten von Strin­genz drin­gend not­wen­dig gewe­sen. Mag aber sein, daß selbst das Lek­to­rat den Gedan­ken nicht mehr voll­stän­dig fol­gen konn­te oder woll­te. Ver­ständ­lich. Zudem wird Zitat an Zitat gestrickt, so als hät­te Pfal­ler eine per­ma­nen­te Rück­ver­si­che­rung nötig. Wich­ti­ger wären kla­re eige­ne Gedan­ken gewesen.

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Robert Pfal­ler: Zwei Ent­hül­lun­gen über Scham, Frank­furt a. M.: S. Fischer 2022. 207 S., 22 €

 

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Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

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