Als Chefredakteur und Herausgeber des Springer-Flaggschiffs Die Welt prägte er die öffentliche Meinung über Jahrzehnte. Sein Kollege und Freund Thomas Kielinger, der lange Jahre Korrespondent der Welt in London war, hat dieses hinterlassene Opus magnum nun veröffentlicht.
Nebenbei erfährt der Leser im Vorwort, daß Kremp – ähnlich wie Günter Grass – im Krieg zunächst als Flakhelfer gedient hatte und Anfang 1945 zur Waffen-SS eingezogen worden war, an der Front allerdings von einer Truppe der Fallschirmjäger übernommen wurde. Über dieses biographische Detail hat Kremp selbst geschwiegen. Die »Verschwörung der Flakhelfer« (Günter Maschke) – vom Krieg gezeichnet, von den Siegern verschont und von ihnen auf Macht- und Souveränitätsverzicht für Deutschland getrimmt – prägte alle Bereiche der bundesrepublikanischen Gesellschaft.
In diesem detailreichen Buch beschreibt Kremp in 14 Kapiteln Vorgeschichte und Anfangsjahre des Zweiten Weltkrieges. Dabei ist er bestrebt, Verhalten und Vorhaben der handelnden Politiker aus ihrer Zeit heraus zu schildern und nicht wie üblich aus der Perspektive des Jahres 1945. Was trieb Hitler an, als er in der Frage der Rückkehr der Freien Stadt Danzig zu Deutschland die Eskalationsspirale befeuerte?
Kremp meint, Hitler habe va banque gespielt und gedacht, Polen – mit Großbritannien im Rücken – würde im Nervenkrieg schließlich klein beigeben, und er könnte einen weiteren gewaltlosen Erfolg einfahren. Auf den Krieg, der ausbrach, sei keine Seite vorbereitet gewesen. Der Verfasser stellt fest, Hitlers Vorstellung von der politischen Rolle Deutschlands in Europa und der Welt unterscheide sich kaum von den Zielen anderer Politiker wie Churchill, Roosevelt oder Stalin. Hitler habe über kein »festliegendes Programm«, über keinen »Stufenplan zur Weltherrschaft« verfügt, sondern faßte seine Entscheidungen situationsbedingt – er unterlag der Logik der Zwänge.
Nach der Kriegserklärung der Westmächte Frankreich und England an Deutschland befand sich Hitler in einem Krieg, den er eigentlich hatte vermeiden wollen. Die Westalliierten hatten keine effiziente Strategie, dem verbündeten Polen zu helfen. Sie verfolgten eine Eskalationsstrategie, wollten dabei aber Deutschland nicht direkt angreifen, sondern seine kriegswirtschaftlich wichtigen Ressourcen – das über Norwegen verschiffte schwedische Eisenerz und das in Rumänien geförderte Erdöl.
Kremp untersucht das Verhalten der Sowjetunion. Von den Westmächten umworben, wandte Stalin sich Hitler zu, der ihm mehr zu bieten hatte. Motiv des Kremlherrschers sei es gewesen, vor der unausweichlichen Auseinandersetzung mit Deutschland Zeit zu gewinnen. Kremp räumt ein, daß sich die Sowjetunion mittelfristig auf einen Angriffskrieg vorbereitete.
Der siegreiche »Westfeldzug« der Wehrmacht – den Kremp spannend schildert – endete mit einem »Strategie-Infarkt« bei Dünkirchen. Das Entkommenlassen der rund 300 000 Mann starken britischen Festlandstruppen machte Großbritannien unangreifbar. Die »Luftschlacht um England« endete mit einer deutschen Niederlage, die deutsche Flotte war zu schwach, um ein Landungsunternehmen auf der Insel zum Erfolg zu führen. Der Angriff unterblieb daher.
Da England – mit den USA im Rücken – weiterkämpfen wollte, mußte Hitler sich mit seinem Bündnispartner Stalin auseinandersetzen. Frankreich war als »Englands Festlandsdegen« besiegt, die Sowjetunion zeigte sich – während die Wehrmacht im Westen kämpfte – äußerst aktiv und besetzte alle Gebiete (und ein wenig mehr), die ihr im »Geheimen Zusatzprotokoll« des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags vom 23. August 1939 als »Interessensphäre« eingeräumt worden waren.
Stalin schuf sich ein Glacis – entweder als Puffer oder als Aufmarschgebiet. Die Verhandlungen mit Sowjetaußenminister Molotow in Berlin im November 1940 um einen Beitritt zum Dreimächtepakt scheiterten. Kremp schreibt, mit Molotows Forderungen nach neuen Einflußzonen auf dem Balkan, in Nord- und Südeuropa habe dieser den Kern des Nichtangriffspaktes von 1939 politisch gekündigt.
Hitler zog daraus den Schluß, daß nun die Sowjetunion als »Englands Festlandsdegen« fungierte und gab die Ausarbeitung einer Angriffsoperation (»Fall Barbarossa«) in Auftrag. Er habe die UdSSR als Macht ausschalten wollen, um England zum Aufgeben zu zwingen und die im Hintergrund agierenden USA frühzeitig von einem militärischen Eingreifen in Europa abzuhalten. Hitlers Strategie schlug fehl.
Zu bemängeln sind häufige Wiederholungen von in früheren Kapiteln abgehandelten Themen und Begriffen sowie ein zuweilen manierierter Stil mit Schachtelsätzen von bis zu 26 Zeilen Länge, die ein gründliches Lektorat hätte beseitigen müssen. Dies ist wohl dem Umstand geschuldet, daß der Herausgeber sich offenbar scheute, in dem aus dem Nachlaß veröffentlichten Manuskript notwendige Streichungen vorzunehmen.
Im großen und ganzen handelt es sich um ein Werk, das sich wohltuend abhebt von dem »wissenschaftlichen Standard«, mit dem diese Thematik sonst von der universitären Forschung abgehandelt wird.
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Herbert Kremp: Morgen Grauen. Von den Anfängen des Zweiten Weltkriegs, Reinbek: Lau Verlag 2022. 712 S., 38 €
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