Günter Scholdt: Schlaglichter auf die ­»Innere Emigration«

Manche Werturteile haben eine erstaunliche Lebensdauer.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Zu ihnen gehört zwei­fel­los das Ver­dikt Tho­mas Manns, das die­ser gleich nach Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges über die Lite­ra­tur des Drit­ten Rei­ches aus­sprach: »Es mag Aber­glau­be sein, aber in mei­nen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutsch­land über­haupt gedruckt wer­den konn­ten, weni­ger als wert­los und nicht gut in die Hand zu neh­men. Ein Geruch von Blut und Schan­de haf­tet ihnen an. Sie soll­ten alle ein­ge­stampft werden.«

Die­ses Urteil, das jeden lite­ra­risch halb­wegs Bewan­der­ten ob sei­ner alt­tes­ta­men­ta­ri­schen Uner­bitt­lich­keit absto­ßen dürf­te, ent­fal­te­te nur lang­sam sei­ne Wir­kung. In den bei­den ers­ten Nach­kriegs­jahr­zehn­ten gab es nicht nur genü­gend Leser, die ihre eige­ne Urteils­fä­hig­keit nicht auf die­se Art in Fra­ge gestellt sehen woll­ten, son­dern es leb­ten und schrie­ben noch zahl­rei­che der Schrift­stel­ler, deren Bücher Tho­mas Mann ger­ne ver­nich­tet gese­hen hätte.

Der zwei­te Ver­such, die­se Lite­ra­tur aus dem kul­tu­rel­len Gedächt­nis zu löschen, ver­lief daher weni­ger plump. 1967 ver­wirft der sich zum Groß­kri­ti­ker auf­schwin­gen­de Mar­cel Reich-­Ra­ni­cki die Dicho­to­mie zwi­schen guter Exil- und schlech­ter Reichs­li­te­ra­tur als wenig lebens­nah, weil es auf bei­den Sei­ten Licht- und Schat­ten­fi­gu­ren gege­ben habe.

Doch die­se Ver­söhn­lich­keit betrifft eher die mensch­li­che Sei­te und dient Reich-Rani­cki nur als Legi­ti­ma­ti­on, um im glei­chen Atem­zug über die Qua­li­tät um so ent­schie­de­ner zu urtei­len: »Es hie­ße lite­r­ar­his­to­ri­sche Wahr­heit ent­stel­len, woll­te man ver­schwei­gen, daß die wesent­li­chen Wer­ke in deut­scher Spra­che damals außer­halb Deutsch­lands geschrie­ben wur­den.« Die­ses Dik­tum steht bis heu­te wie eine Mau­er zwi­schen der Gegen­wart und der Lite­ra­tur des Drit­ten Rei­ches, um jeg­li­che Rezep­ti­ons­ver­su­che zu unterbinden.

Der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Gün­ter Scholdt (*1946) schreibt mit sei­nem neu­es­ten Buch gegen die­se Mau­er an. Aus­ge­hend von der The­se, daß es im Drit­ten Rei­che nicht­na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Lite­ra­tur gab, die es nicht ver­dient hat, für den NS-Kitsch in Mit­haf­tung genom­men zu wer­den, wirft er nicht nur Schlag­lich­ter auf die Inne­re Emi­gra­ti­on, son­dern erschließt einen gan­zen Kon­ti­nent lesens­wer­ter Bücher.

Denn Scholdt beschränkt sei­ne Schil­de­rung nicht auf die Autoren, die längst im hohen Rang der Lite­ra­tur­ge­schich­te Platz neh­men dür­fen, weil man an ihnen ein­fach nicht vor­bei­kommt (z. B. Ernst ­Jün­ger und Gott­fried Benn). Ihm geht es gera­de auch um die­je­ni­gen, die ver­ges­sen sind. Die­je­ni­gen, bei denen die Gefolgs­leu­te Reich-­Ra­ni­ckis leich­tes Spiel haben, weil nie­mand mehr ihre Bücher in die Hand nimmt.

Doch Scholdts Anspruch erschöpft sich nicht im bun­ten Mosa­ik. Er will neben der Dar­stel­lung der Grün­de für die Ver­damm­nis, unter der die­se Bücher bis heu­te ste­hen, auch den Grund­stein für ihre lite­ra­ri­sche Reha­bi­li­tie­rung legen. Dabei lie­gen Scholdt ganz beson­ders das humo­ris­ti­sche und sati­ri­sche Erzäh­len, das für jede Dik­ta­tur einen Lack­mus­test bedeu­tet, sowie die Hei­mat­li­te­ra­tur am Herzen.

Bei letz­te­rer kann er zei­gen, daß The­men und For­men die­ser Lite­ra­tur kei­ne NS-Affi­ni­tät bele­gen, son­dern Resul­tat einer welt­weit emp­fun­de­nen Aus­rei­zung der Pro­vo­ka­ti­on sind: »Hei­mat­li­te­ra­tur beschäf­tigt sich vor­wie­gend mit Eigen­hei­ten, Pro­ble­men, Spra­che, Men­ta­li­tät und gemein­sam erfah­re­ner Geschich­te eines als beson­ders und ver­traut emp­fun­de­nen Raums. Das geschieht in soli­da­ri­scher Weise«.

Aber auch moder­ne Stil­ele­men­te las­sen sich bei vie­len Autoren nach­wei­sen, ohne daß sie damals mit Schreib­ver­bot belegt wor­den wären. Über­haupt war die Lite­ra­tur die­ser Zeit erstaun­lich viel­fäl­tig, was nicht nur den kon­kur­rie­ren­den Kul­tur­bü­ro­kra­tien geschul­det war, son­dern auch der Tat­sa­che, daß das Ver­lags­we­sen im Drit­ten Reich nicht (wie in der DDR) ver­staat­licht wurde.

So konn­te sich neben Klas­si­zis­mus, Hei­mat­li­te­ra­tur und Moder­ne der Magi­sche Rea­lis­mus zum cha­rak­te­ris­ti­schen Stil die­ser Jah­re ent­wi­ckeln. Des­sen gegen­wär­ti­ge Gering­schät­zung führt Scholdt auf zwei Grün­de zurück. Zum einen auf die an Kaf­ka erin­nern­de Unent­rinn­bar­keit: »Magi­schen Rea­lis­ten geht es sel­ten um Hei­lung einer gestör­ten Welt.« Zum ande­ren wird der Stil nicht als Stil ernst genom­men, weil man in ihm nur ein Mit­tel zum Zweck der ver­deck­ten Schreib­wei­se ver­mu­tet und ihn nicht »als bewuß­te poe­ti­sche Ent­schei­dung für die über­zeit­lich-exis­ten­ti­el­le Welt­sicht« versteht.

Im ers­ten Haupt­teil des Buches wer­den Schlüs­sel­tex­te der Inne­ren Emi­gra­ti­on vor­ge­stellt, wobei der Leser vor allem bei der Epik auf bekann­te Namen trifft. Wei­te­re Schlüs­sel­tex­te betref­fen Geschichts­ro­ma­ne, Dra­ma­tik, Lyrik und Essay­is­tik. Die Inhalts­an­ga­ben sind prä­zi­se, die Zita­te reprä­sen­ta­tiv gewählt, Bezü­ge zu ande­ren Autoren und Büchern wer­den immer wie­der her­ge­stellt, und die Wer­tun­gen sind wohl­tu­end dif­fe­ren­ziert. Man merkt schnell, daß es gegen­wär­tig kaum jeman­den geben dürf­te, der sich in der Lite­ra­tur der NS-Zeit bes­ser aus­kennt. Die ein­zel­nen Autoren, die einer Wie­der­ent­de­ckung har­ren, hier auf­zu­zäh­len wür­de den Rah­men sprengen.

Dan­kens­wer­ter­wei­se hat Scholdt sei­nem Buch einen Kanon der lesens­wer­ten Bücher für jedes Jahr zwi­schen 1933 und 1945 bei­gege­ben. So hat jeder Leser einen Kompaß in der Hand, mit dem sich das unbe­kann­te Gebiet leicht erkun­den läßt.

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Gün­ter Scholdt: Schlag­lich­ter auf die ­»Inne­re Emi­gra­ti­on«. Nicht­na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche ­Bel­le­tris­tik in Deutsch­land 1933 – 1945, Rück­ers­dorf üb. Nürn­berg: Lepan­to 2022. 474 S., 29,50 €

 

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Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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