Zu ihnen gehört zweifellos das Verdikt Thomas Manns, das dieser gleich nach Ende des Zweiten Weltkrieges über die Literatur des Dritten Reiches aussprach: »Es mag Aberglaube sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an. Sie sollten alle eingestampft werden.«
Dieses Urteil, das jeden literarisch halbwegs Bewanderten ob seiner alttestamentarischen Unerbittlichkeit abstoßen dürfte, entfaltete nur langsam seine Wirkung. In den beiden ersten Nachkriegsjahrzehnten gab es nicht nur genügend Leser, die ihre eigene Urteilsfähigkeit nicht auf diese Art in Frage gestellt sehen wollten, sondern es lebten und schrieben noch zahlreiche der Schriftsteller, deren Bücher Thomas Mann gerne vernichtet gesehen hätte.
Der zweite Versuch, diese Literatur aus dem kulturellen Gedächtnis zu löschen, verlief daher weniger plump. 1967 verwirft der sich zum Großkritiker aufschwingende Marcel Reich-Ranicki die Dichotomie zwischen guter Exil- und schlechter Reichsliteratur als wenig lebensnah, weil es auf beiden Seiten Licht- und Schattenfiguren gegeben habe.
Doch diese Versöhnlichkeit betrifft eher die menschliche Seite und dient Reich-Ranicki nur als Legitimation, um im gleichen Atemzug über die Qualität um so entschiedener zu urteilen: »Es hieße literarhistorische Wahrheit entstellen, wollte man verschweigen, daß die wesentlichen Werke in deutscher Sprache damals außerhalb Deutschlands geschrieben wurden.« Dieses Diktum steht bis heute wie eine Mauer zwischen der Gegenwart und der Literatur des Dritten Reiches, um jegliche Rezeptionsversuche zu unterbinden.
Der Literaturwissenschaftler Günter Scholdt (*1946) schreibt mit seinem neuesten Buch gegen diese Mauer an. Ausgehend von der These, daß es im Dritten Reiche nichtnationalsozialistische Literatur gab, die es nicht verdient hat, für den NS-Kitsch in Mithaftung genommen zu werden, wirft er nicht nur Schlaglichter auf die Innere Emigration, sondern erschließt einen ganzen Kontinent lesenswerter Bücher.
Denn Scholdt beschränkt seine Schilderung nicht auf die Autoren, die längst im hohen Rang der Literaturgeschichte Platz nehmen dürfen, weil man an ihnen einfach nicht vorbeikommt (z. B. Ernst Jünger und Gottfried Benn). Ihm geht es gerade auch um diejenigen, die vergessen sind. Diejenigen, bei denen die Gefolgsleute Reich-Ranickis leichtes Spiel haben, weil niemand mehr ihre Bücher in die Hand nimmt.
Doch Scholdts Anspruch erschöpft sich nicht im bunten Mosaik. Er will neben der Darstellung der Gründe für die Verdammnis, unter der diese Bücher bis heute stehen, auch den Grundstein für ihre literarische Rehabilitierung legen. Dabei liegen Scholdt ganz besonders das humoristische und satirische Erzählen, das für jede Diktatur einen Lackmustest bedeutet, sowie die Heimatliteratur am Herzen.
Bei letzterer kann er zeigen, daß Themen und Formen dieser Literatur keine NS-Affinität belegen, sondern Resultat einer weltweit empfundenen Ausreizung der Provokation sind: »Heimatliteratur beschäftigt sich vorwiegend mit Eigenheiten, Problemen, Sprache, Mentalität und gemeinsam erfahrener Geschichte eines als besonders und vertraut empfundenen Raums. Das geschieht in solidarischer Weise«.
Aber auch moderne Stilelemente lassen sich bei vielen Autoren nachweisen, ohne daß sie damals mit Schreibverbot belegt worden wären. Überhaupt war die Literatur dieser Zeit erstaunlich vielfältig, was nicht nur den konkurrierenden Kulturbürokratien geschuldet war, sondern auch der Tatsache, daß das Verlagswesen im Dritten Reich nicht (wie in der DDR) verstaatlicht wurde.
So konnte sich neben Klassizismus, Heimatliteratur und Moderne der Magische Realismus zum charakteristischen Stil dieser Jahre entwickeln. Dessen gegenwärtige Geringschätzung führt Scholdt auf zwei Gründe zurück. Zum einen auf die an Kafka erinnernde Unentrinnbarkeit: »Magischen Realisten geht es selten um Heilung einer gestörten Welt.« Zum anderen wird der Stil nicht als Stil ernst genommen, weil man in ihm nur ein Mittel zum Zweck der verdeckten Schreibweise vermutet und ihn nicht »als bewußte poetische Entscheidung für die überzeitlich-existentielle Weltsicht« versteht.
Im ersten Hauptteil des Buches werden Schlüsseltexte der Inneren Emigration vorgestellt, wobei der Leser vor allem bei der Epik auf bekannte Namen trifft. Weitere Schlüsseltexte betreffen Geschichtsromane, Dramatik, Lyrik und Essayistik. Die Inhaltsangaben sind präzise, die Zitate repräsentativ gewählt, Bezüge zu anderen Autoren und Büchern werden immer wieder hergestellt, und die Wertungen sind wohltuend differenziert. Man merkt schnell, daß es gegenwärtig kaum jemanden geben dürfte, der sich in der Literatur der NS-Zeit besser auskennt. Die einzelnen Autoren, die einer Wiederentdeckung harren, hier aufzuzählen würde den Rahmen sprengen.
Dankenswerterweise hat Scholdt seinem Buch einen Kanon der lesenswerten Bücher für jedes Jahr zwischen 1933 und 1945 beigegeben. So hat jeder Leser einen Kompaß in der Hand, mit dem sich das unbekannte Gebiet leicht erkunden läßt.
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Günter Scholdt: Schlaglichter auf die »Innere Emigration«. Nichtnationalsozialistische Belletristik in Deutschland 1933 – 1945, Rückersdorf üb. Nürnberg: Lepanto 2022. 474 S., 29,50 €
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