Was für ein irres Werk! Welch Kärrnerarbeit, welch Fundgrube! Die Germanisten Mieder und Nolte (beide in Vermont, USA, lebend) müssen ungezählte Stunden, Wochen, Monate, wenn nicht Jahre über den Ergüssen des Propagandaministers (1897 – 1945) gebrütet haben. Das sind etwa 13 000 Seiten allein die Goebbels-Tagebücher betreffend, weitere 2327 Seiten kommen hinzu.
Den Forschern scheint die Mühe selbst peinlich zu sein. Sie betonen, daß sie – anders als bei den Vorgängerbänden – dieses Mammutwerk niemandem widmen wollen. Es gehe ja nur um Forschung, und nicht um Anhängerschaft – als müßte dies eigens betont werden. Zuvor hatten sich die beiden Wissenschaftler sprichwörtlichen Wendungen bei u. a. Nietzsche, Willy Brandt und Otto von Bismarck (siehe Sezession 90 / 2020) gewidmet.
Mieder und Nolte unternehmen in ihren Präliminarien viel, um ihre Abscheu vor dem Forschungsobjekt zu unterstreichen. Ja, Goebbels mag eine »verlogene Fratze« gehabt haben. Viel interessanter sind seine Lieblingswendungen. Denn damals (damals?) wurden »die Deutschen von Sprichwörtern und Redensarten bombardiert und entweder gelähmt oder zum Mitmachen gezwungen.«
Mieder und Nolte nun haben die Goebbelssche Phraseologie aufs Korn genommen, und das ist so interessant wie verdienstvoll. Wir haben es mit »vorgeformten Wortwaffen« und manipulativer Macht zu tun – nicht zuletzt ein aktuelles Thema!
Das Autorenduo geht die Sache strikt wissenschaftlich an. Die von Goebbels genutzten Sprichwörter werden nicht nur registriert (das reine Register macht knapp 400 Seiten aus!), sondern auch hinsichtlich ihrer Polysemantizität und Polyfunktionalität untersucht. Man liest dieses Buch gewissermaßen auch als Psychokrimi. Die Chiffren der Propaganda sind seither ja nicht verstummt! Welche sprichwörtlichen Wendungen bevorzugte also der promovierte (und wie die Autoren nicht umhinkommen zu betonen: kreative, charismatische und wortgewaltige) Germanist Goebbels?
Achtundzwanzigmal findet sich die Wendung, daß »die Bäume nicht in den Himmel wachsen«. Gar sechzigmal macht der Fanatiker in seinen Aufzeichnungen jemandem »einen Strich durch die Rechnung«. Dreißigmal fordert er dazu auf, den Tag nicht vor dem Abend zu loben. Auch beliebt: zwischen zwei Stühlen sitzen, vom Leder ziehen, jemandem das Wasser abgraben.
Goebbels liebte lateinische Wendungen wie »ad calendas graecas« und »cum grano salis«. Er war rhetorisch flexibel: Es werde beispielsweise noch »viel Wasser« die Wupper / den Main / den Rhein »herunterfließen, bis …« Goebbels liebte somatische Redensarten: jemandem auf die Finger schauen; ohne mit der Wimper zu zucken; bis zum letzten Tropfen Blut. Sehr gern genommen wird der Körperteil »Faust« (»Faust in der Tasche«, »Faust auf den Tisch«, »eiserne Faust«, »Faust im Nacken«, »Faust unter der Nase«).
Die Leserin stellt fasziniert eine Art Faszination der (natürlich grundhaft angeekelten) Autoren an der »souveränen«, »witzigen«, »gekonnten«, »virtuosen« Sprachkunst dieses Unmenschen fest. Etliche der Goebbelsschen »Antisprichwörter« werden gar gelobt, etwa dieses: »Der Mensch denkt, und Gott lenkt! // Der Mensch dachte, und Gott lachte // Ich glaube, das zweite kommt der Wahrheit näher als das erste.«
Leider haben die zahlreichen Formulierungen, die Goebbels gebrauchte, um seinen autoritären Umgang mit anderen zu benennen, da aus akademischer Warte nicht sprichwörtlich, keinen Eingang in diese Sammlung gefunden: jemanden abseifen / abstechen / zusammenbügeln /zur Sau machen / an die Wand drücken et al.
Was für ein verrücktes und lehrreiches Buch!
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Wolfgang Mieder, Andreas Nolte: »Ich nehme kein Blatt vor den Mund«. Sprichwörtliches in den Tagebüchern von Joseph Goebbels, Würzburg: Königshausen & Neumann 2022. 533 S., 49,80 €
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