Ab 1945 bestand der verständliche Wunsch, alle für die Misere Verantwortlichen wenigstens temporär publizistisch lahmzulegen. Wer als Autor das Regime gestützt oder von ihm profitiert hatte, sollte erst mal schweigend bedenken, was er oder sie anderen angetan hatte.
Die von den Besatzungsmächten verfügte Denazifizierung stieß also zunächst auf mehrheitliche Zustimmung, sofern es wirklich Schuldige traf und das Ganze nicht zur Kollektivanklage, politischen Disziplinierung oder administrativ entartete. (Die alliierte Verbotsliste enthielt nicht weniger als 40 000 Buchtitel.) Doch die scheinbar simple Forderung, Nazismus auch kulturell zu bekämpfen, erwies sich in praxi als tückisches Unterfangen.
In der Ostzone bzw. DDR nutzte man sie zum sozioökonomischen Umsturz. Die ins Land zurückgerufenen »demokratischen Schriftsteller« ließen sich dabei als kommunistische Handlanger instrumentalisieren, was Andersdenkenden zunehmend die Luft abdrückte. In den Westzonen operierte man, nachdem die publizistische Infrastruktur im alliierten Sinne umgemodelt war, etwas weniger rigide. Wollte man doch im Ost-West-Konflikt mit einem freiheitlicheren Image punkten.
Dennoch unterwarf man die Deutschen einem hochnotpeinlichen Fragebogen- und Spruchkammerverfahren, das etlichen Verstrickten zunächst das Publizieren untersagte. An der zentralen Frage, wer überhaupt im unheilbringend-haftbaren Sinne »Nazi« war, scheiterte man jedoch, was alle Seiten enttäuschte – entweder über die als zu lasch betrachtete Reinigung oder über eine inadäquate Gesinnungszensur.
Wer aber war eigentlich »Nazi«? Gewiß gehörten Autoren wie Hanns Johst, Will Vesper, Richard Euringer, Hans Zöberlein, Eberhard Wolfgang Möller, Wilhelm Schäfer oder (mit Einschränkung) Emil Strauß dazu, ebenso Parteibarden wie Gerhard Schumann oder Heinrich Anacker. Doch bloße Mitgliedschaft in einer NS-Organisation, auf die sich etwa auch Günter Eich, Gerhard Nebel oder Wilhelm Lehmann beruflicher Rücksichten wegen einließen, besagt wenig jenseits der Binsenweisheit, daß bekenntnis- und opferbereite Nonkonformisten zu allen Zeiten Ausnahmen sind. Lippenbekenntnisse zu diversen öffentlichen Anlässen (beispielsweise von Oskar Loerke, Hans Fallada, Otto Flake oder Hans Carossa) sind daher keine politischen Todsünden schlechthin. Zusätzlich erschweren vier Faktoren klare Schuldsprüche:
Es gab unter den Systemkonformen nicht nur fanatisierte Haßtäter, verbitterte oder konjunkturgeile Opportunisten, sondern etliche idealistisch Verblendete wie Ernst Bertram oder Bernt von Heiseler, darunter nur kurzfristig Affizierte wie Gottfried Benn, oder vom Gemeinschaftspathos des »Tags von Potsdam« Berauschte wie Reinhold Schneider, die ihre Einschätzung jedoch bald korrigierten und erkennbar auf Gegenkurs gingen.
Wie gewichtet man Teilübereinstimmungen bei nachweislichen Vorbehalten gegenüber staatsterroristischen bzw. mörderischen Maßnahmen? Wie selektive Wahrnehmungen? War die religiös gebundene, bürgerliche Autorin Ina Seidel eine klassische Nazine, waren es Gertrud Fussenegger, Gertrud von den Brincken, die bedeutendste Autorin des Baltikums, oder Agnes Miegel, die Sängerin Ostpreußens? Hinsichtlich der mörderischen Programmpunkte des Regimes erkennbar nicht. Doch standen sie im Bann von Hitlers oratorischer Suggestion oder waren durch bestimmte Grenz- und Nachkriegserfahrungen bestimmt bzw. verführt worden.
Zählte nicht das »Right or wrong my country« selbst für Regimegegner? Ernst Jünger etwa unterschied stets zwischen Hoch- und Landesverrat. Spätestens mit 1939 öffneten sich Loyalitätsfallen auch für jene, die zwar Hitler und den Krieg haßten, eine Niederlage angesichts Versailler Erfahrungen aber auch nicht wollten. Das galt sogar für NS-Gegner wie Hermann Stresau oder Heinrich Böll. Andere scheinbare Repräsentanten des »Neuen Deutschland« waren im Zuge der Polarisierung zwar ins nationalistische, aber nicht unbedingt nazistische Lager gelangt. Darunter durch revolutionäre Deklassierung geschockte Frontoffiziere des Ersten Weltkriegs wie Werner Beumelburg, Franz Schauwecker, Walter Bloem oder August Binding. Andere kamen aus Furcht vor der kommunistischen Drohung.
Auch stellte sich – besonders für die propagandistisch beschallte, junge Generation – ganz pragmatisch die Frage, wie sich eine vom Staat initiierte Schuld individuell zurechnen ließ. Sollte man allen, die geirrt und gefehlt, durch schlimme Erfahrung aber ihre politische Lektion gelernt hatten, künftig generell die Schreibkarriere verbauen? So verständlich es war, daß Leser klassische Naziautoren ablehnten, so wenig spricht im Einzelfall dafür, denen Bewährung zu verweigern, die, erwacht aus dem politischen Kater, auf neuer Basis nochmals beginnen wollten. Doch genau das geschah, wo vergangene Schreibsünden per Medienkampagnen offengelegt wurden. Und NS-Konformen gelang eine Nachkriegskarriere in der Regel nur, wenn sie sich schnellstens zur öffentlichen Reue bereitfanden und am besten noch von früheren Gesinnungskollegen distanzierten. Renegaten neigen bekanntlich ohnehin zu rigiden Abgrenzungen.
Prominente Parteifunktionäre jedoch (Johst, Schumann, Euringer) bekamen (nicht nur für Apologien) keine Chance mehr. Nach ihrer Sanktionierung in Spruchkammerverfahren verblieben ihnen bestenfalls publizistische Nischen. An den damaligen Mainstream andocken ließ sich höchstens kurzfristig im Kalten Krieg per Antikommunismus. Das galt etwa für Edwin Erich Dwinger, dessen vom Bolschewistenterror handelnde Erlebnisberichte aus russischer Gefangenschaft im Ersten Weltkrieg eine gewisse Massenresonanz fanden.
Auch Agnes Miegel zählte im Kreis der Vertriebenen noch als öffentlicher Faktor, und selbst Willy Brandt besuchte sie 1961 zu ihrem 75. Geburtstag in Bad Nenndorf. In dem Maße jedoch, wie die hohe Politik später in Vertriebenen nur mehr politische Altlasten sah, geriet auch sie in den Strudel billiger moralischer Abwertung und Selbstprofilierung, die darin gipfelten, die zahlreichen Agnes-Miegel-Straßen umzubenennen. An solchem retrospektiven »Heldentum« hat es ja zu keiner Zeit gefehlt.
Der Fall Hans Grimm war anders gelagert. Er litt unter einer – wie er glaubte – falschen Betrachtung besonders der deutsch-englischen Zeitgeschichte und schrieb zeitlebens dagegen an. Nostalgisch trauerte er vergebenen politischen Chancen nach und überdehnte dabei seinen politischen Spielraum. Denn dieser unbequeme NS-Sympathisant – nie Parteigenosse und zu Goebbels’ Entrüstung auch im Dritten Reich widerspenstig und couragiert – präsentierte ausgerechnet nach dem Krieg mit seiner in 50 000 Exemplaren verbreiteten Erzbischofschrift (1950) eine Teilapologie des sozusagen ohne Hitler konzipierten Nationalsozialismus. Seine revitalisierten Lippoldsberger Dichtertreffen und die Kandidatur für die Deutsche Reichspartei standen quer zum politisch Erlaubten, und man erteilte ihm 1953 Redeverbot.
Dieser Flügel des Overton-Fensters hatte sich krachend geschlossen. Verweigerte man doch selbst Autoren mit verklungenen NS-Neigungen Rehabilitierungschancen. So statuierte man etwa am einstigen HJ-Führer Hans Baumann ein deutliches Exempel gemäß dem Ausschlußprinzip »Einmal Nazi, immer Nazi«. Der Autor hatte vor der Machtergreifung im katholischen Jugendbund »Neudeutschland«, später in der HJ, vielverbreitete eingängige Lieder geschrieben und komponiert. Darunter »Es geht eine helle Flöte«, »Nur der Freiheit gehört unser Leben«, »Hohe Nacht der klaren Sterne« und (bereits 1932) jenes voll jugendlicher Arroganz verfaßte »Es zittern die morschen Knochen«, das ihn zeit seines Lebens kontaminierte.
Obwohl seine Nachkriegskarriere als Bestsellerautor von Jugendromanen und ‑liedern, Übersetzer von Sachbüchern für Kinder sich ideell auf gänzlich neuer Grundlage vollzog, scheiterten alle Versuche, ihn jenseits der Nazi-Schublade einzustufen. Man hätte mit ihm verfahren können, wie es selbst die auf »Antifaschismus« abonnierte DDR mit Franz Fühmann, Erich Loest oder Ehm Welk hielt. Schließlich war er zu Beginn des Dritten Reichs noch keine 19 Jahre gewesen.
Aber Pardon wurde nicht gegeben trotz seines großen Erfolgs selbst im Ausland, wo ihn 1968 die New York Herald Tribune für das beste Jugendbuch prämierte oder man ihm 1972 den Mildred L. Batchelder Award verlieh. Als 1962 der Zeit-Feuilletonchef Rudolf Walter Leonhardt bekannte, an seinen Liedern nichts Anstößiges zu entdecken, protestierten Joachim Kaiser, Peter Rühmkorf, Gudrun Pausewang und Marcel Reich-Ranicki. Letzterer scheute sich nicht, Baumanns in christlichem Geist verfaßtes Schauspiel Im Zeichen der Fische, das vor römischer Kulisse Freiheit und Toleranz im Konflikt mit der Staatsräson zeigte, als inhumanes Machwerk zu brandmarken.
Baumann hatte es 1959 (in richtiger Einschätzung von Vorurteilen) pseudonym für den Gerhart-Hauptmann-Preis eingereicht und die Jury der Berliner Volksbühne überzeugt. Es sei ein preiswürdiges Bekenntnis für »Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit und Freiheit«. Doch nach Aufdeckung seiner Urheberschaft wurde das Urteil umgehend skandalisiert. Aus Rücksicht auf die besondere Lage der Frontstadt verzichtete er auf die Preisverleihung zugunsten eines Stipendiums und der Empfehlung des Dramas fürs Theater am Kurfürstendamm. Doch dann schlugen die »antifaschistischen« Wellen hoch. Man zahlte Baumann nichts und erkannte ihm 1962 den Preis sogar ab.
Noch vier Jahre später ließ sich aus solcher Ausgrenzung gutmenschlicher Honig saugen, wie Ingeborg Bachmann als Vorzeigesensitiva der Gruppe 47 belegt. Medienwirksam entrüstete sie sich über ihren Verleger Klaus Piper, der Baumann beauftragt hatte, Gedichte der russischen Dissidentin Anna Achmatowa zu übersetzen, und verließ ihn – verlagstechnisch gewiß kein schlechter Tausch – zugunsten von Suhrkamp. Solche Denunziationen dienten als weithin verstandene Verhaltenssignale, ehemalige NS-Autoren im respektablen Literaturlager nicht mehr zu dulden.
Seit den 1960ern wurde auch der Lyriker Hans Egon Holthusen öffentlich (von Mascha Kaléko und Jean Améry) vorgeführt. Jugendlich verblendet, war er 1933 der SS beigetreten. Doch spätestens der Soldatentod seines Bruders förderte ein Umdenken, so daß er vor Kriegsende immerhin der widerständigen Freiheitsaktion Bayern angehörte.
In keiner höheren NS-Funktion tätig, gelang es ihm eine Zeitlang, in der Nachkriegsszene auch als Kritiker Fuß zu fassen. Und sein Einfluß erlaubte es, Ingeborg Bachmann für ein Harvard-Studium zu empfehlen, was sie mit begeisterten Briefen vergalt. Mitte der 1950er praktizierte die Autorin ihre antifaschistische Kontaktscheu nämlich noch nicht so beflissen wie ein Jahrzehnt später, als sie die Beziehung zum skandalisierten Holthusen einschlafen ließ. Heute ist Holthusen längst vergessen.
An Gerd Gaiser, einer der größten Hoffnungen der Nachkriegsliteratur seit dem Romanerstling Eine Stimme hebt an (1950, Fontane-Preis 1951), kühlten 47er ihr Mütchen: Hans Magnus Enzensberger, Walter Jens, Reich-Ranicki und im Nachklapp Karlheinz Deschner. Gaiser verfügte über den Blick eines Malers und eine exakte psychologische Beobachtungsgabe, mit der er sich eindringlich den Nöten seiner ums Überleben kämpfenden Landsleute und ihren Wertekrisen widmete. Klassische Bildung verband er mit einem Faible für Regionaltopographie bis in Urzeiten hinein, den detaillierten Realismus seiner Sozialpanoramen mit magischen Sehweisen.
Seine Prosa lebte von (auch archaisierenden) sprachschöpferischen Eigenheiten, die er anfangs ein wenig übertrieb. Anstößig für Kritiker wirkte mehr noch, daß er eine rasend ins Traditionslose driftende Gegenwart partiell mit Hamsuns Blick zu fassen suchte. In Schlußball, seinem größten Erfolg, äußert sich ein zuweilen etwas holzschnittartiger Moralismus. Aber trotz eines (besser vermiedenen) ausländischen Täters ist dies kein rassistischer Text. Sonst müßte man solche Phobie zugleich etlichen Ländern unterstellen, die ihn in Übersetzungen verlegten. Und wenn das, was Gaiser etwa in Das Schiff im Berg leistete, Blut-und-Boden-Gesinnung verriete, entfiele schlechthin jede Berechtigung zum Verfassen anspruchsvoller Regionalliteratur.
In seinen Anfängen (1941: Reiter am Himmel) hatte er sich allerdings mit »Führer«-gläubigen Hymnen böse verrannt. Gegenüber Horst Bienek räumte er damalige Irrtümer ein. Als politischer »Phantast« habe er sich »zwischen den zwei Kriegen« in »allerlei Gedankenspuk« verfangen. Doch sei dies »ganz und gar vorbei«. Der Krieg hatte ihn fraglos verändert. Dennoch warf man ihm mangelnde Auseinandersetzung mit der Vergangenheit vor, weil er sich nicht auf Kommando an öffentlichen Bußritualen beteiligte oder aus zweiter Hand vornehmlich über KZ-Opfer schrieb. Statt dessen stellen Werke wie Die sterbende Jagd, Aniela, Gianna aus dem Schatten oder Gib acht in Domokosch von persönlichen Erfahrungen her durchaus Fragen der Schuld und hinsichtlich eines problematischen Engagements. Ansonsten zeigt er auch Täter per Binnensicht mit Motiven, die nicht gänzlich ins Dämonische entrückt sind. Und er hob die Tragik nicht auf, zwischen Staatsverbrechen und nationalen Banden verstrickt zu sein.
All dies machte ihn zum Intimfeind Reich-Ranickis, der ihn weit über den Tod hinaus publizistisch verfolgte. 1963 präsentierte er als »Der Fall Gerd Gaiser« eine raffinierte Zitatcollage von Reiter am Himmel mit späteren Werken. Darin unterstellte er dem Autor, sein einstiger Rassenhaß und seine alles grundierende Blubo-Neigung hätten sich höchstens sublimiert. Die Sicht dieses »verbitterten Außenseiters« zeige einen Mann, »der 1945 zu einem elegischen Barden wurde, der aber nicht aufgehört hat, ein völkischer Beobachter zu sein.«
Reich-Ranicki, so Thorsten Hinz in seinem äußerst empfehlenswerten kaplaken-Band Literatur in der Schuldkolonie, »nimmt ihm übel, daß er auf explizite Selbstanklagen und Schuldbekenntnisse verzichtet«: »Als besonderer Frevel Gaisers erscheint ihm, daß er das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg im Mythos aufhebe und in ihnen eine Wiederkehr des Immergleichen entdecke. Das ist der Kern des Konflikts. Während die von Adorno inspirierten Autoren und Literaturfunktionäre die Ansicht vertreten, zwischen 1933 und 1945 sei das weltgeschichtliche Kontinuum aufgesprengt worden, was eine besondere, untilgbare Schuldqualität impliziere, fügen sich für Gaiser diese Jahre durchaus in das menschheitliche Erfahrungsspektrum ein, das im Mythos symbolisch ausgeformt ist. Im Vollgefühl der Macht konnte Reich-Ranicki befinden: ›Sein Werk dient nicht der Wahrheit‹. Es ist das Verdammungsurteil eines Dogmatikers, dessen inquisitorische Macht bald in ungeahnte Höhen anwachsen sollte.«
Eine literaturpäpstliche Polemik von 1966 verschärfte sogar noch den Ton: »Gern möchte ich wissen, was ein Mann wie Gerd Gaiser auf der Zuhörertribüne des Auschwitz-Prozesses fühlen und denken würde. Das meine ich ganz ohne Ironie und Bosheit. Er hat damals mitgemacht, seitdem viele Bücher verfaßt, die aber, meiner Ansicht nach, fast immer von demselben Geist zeugen.« Solche Vernichtungssätze überschreiten die Grenze von Literatur- zur unbewiesenen Schmähkritik. Gleichwohl entfalteten sie den gewünschten Säuberungseffekt, nicht zuletzt für Schulbuchverlage gegenüber ihrem früheren Favoriten.
Um Joachim Fernau, den geistreich-unterhaltsamen Erzähler und Geschichtsdenker mit Millionenauflagen, kümmerten sich seit den Endsechzigern andere Mainstreamer in der Zeit‑, Spiegel- oder Pardon-Redaktion. Auch in sogenannten Fachkreisen dominierte Abfälliges, ein wenig getragen von Neid, wie elegant sich über trockene Historie und Politik plaudern ließ.
Das gilt etwa für Deutschland, Deutschland über alles … (1952), Abschied von den Genies (1953), Rosen für Apoll (1961), Cäsar läßt grüßen (1971), Halleluja. Die Geschichte der USA (1977) oder Sprechen wir über Preußen (1981). Verbohrt denunzierte man den in München wie Florenz lebenden Weltmann als »völkischen« Reaktionär, nur weil er die Historie auch von nationalen Kategorien her beurteilte und seine ironisch-sarkastischen Urteile nicht eben von linksdemokratischen Dogmen geprägt waren.
Mit deutschen und implizit eigenen mentalen »Erbsünden« hat er sich 1966 im Nibelungenbuch auseinandergesetzt: Disteln für Hagen. Bestandsaufnahme der deutschen Seele. Dieser Bestseller animierte seine Gegner zum medialen Fangschuß, abgefeuert 1967 in der Zeit, wie üblich als biographische Entlarvung. Der Altphilologe Peter Wapnewski bezog sich dabei auf Fernaus Pressebeitrag vom August 1944 über die (möglicherweise zur Kriegswende taugliche) »Wunderwaffe« V1. Wapnewski sah darin »den schändlichsten Durchhalteartikel dieses Krieges«, mit dem Fernau »seine Gläubigen vor die Panzer und Maschinenpistolen« getrieben habe. Daher besitze er kein Recht mehr, weiterhin deutsche Belange zu kommentieren.
Fernau war weder Nazi noch PG oder Judenfeind gewesen, aber hatte im Krieg gemäß seinem Auftrag in einer Propagandakompanie funktioniert. Diesen Vorwurf mußte er quittieren, nicht aber Wapnewskis maßlosen Anspruch, ihm gleichsam »definitiv« die literarische »Approbation« zu entziehen. So antwortete er seinem »furchterregend-deutschen Richter« in der Zeit (solche Chance zur Gegenrede bot sich damals noch), erläuterte ihm die damaligen Umstände des Artikels und monierte dessen Unerbittlichkeit nach 23 Jahren: »Herr der Himmel, beschütze uns vor Deinen Gerechten!« Dann bat er »um den geringen Anstand«, ihn künftig »in Ruhe zu lassen.« Natürlich war dies ein frommer Wunsch. »Seine Ruhe ist hin«, belehrte ihn denn auch, Faust persiflierend, umgehend hämisch der Spiegel.
Unter »Nazi« zählte für die neue Orthodoxie auch Ernst von Salomon, obwohl er im Dritten Reich weder PG noch konform gewesen war und gar in Widerstandskreisen verkehrt hatte. Aber solche Abrechnungen betrafen ja das nationale Lager pauschal. Das mochte plausibel erscheinen, insofern Salomon beim Rathenau-Attentat 1922 (mit fünf Jahren Zuchthaus geahndete) Handlangerdienste geleistet hatte. Doch wenn frühere »Politsünden« nicht verjährten und »Totengräber der Republik« gesucht wurden, hätte man objektiverweise auch etliche KPD-nahe bzw. radikale Linksintellektuelle einbeziehen müssen. Ohnehin zählten seine Weimarer Umtriebe lediglich als Begleitmusik einer beinharten Kritikerschelte für sein 1951 erschienenes Buch Der Fragebogen.
Daß es überhaupt erscheinen konnte (sein Druck wurde gegen Amerikas Votum fast verschwörerisch unter Nutzung gewisser Differenzen zwischen den Besatzungsmächten ermöglicht), belegt die relative Freizügigkeit der damaligen Kulturszene. Vergleichbare Provokationen zögen heute harte »zivilgesellschaftliche« wie »Verfassungsschutz«-Maßnahmen nach sich. Der renommierte Theaterkritiker Georg Hensel zählte den Fragebogen noch 1987 zu den »wichtigsten Büchern, die in den vergangenen dreißig Jahren veröffentlicht worden sind«, und man darf ergänzen: bis heute.
Denn dieses – laut Rowohlts Klappentext – Dokument einer »Gewissens- und Wahrheitserforschung für unser Halbjahrhundert« enthält über die geschilderte Epoche hinaus politische Lektionen, die überdauern. Zur wichtigsten gehört, daß sich offiziell statuierte historische »Wahrheit« fast nie mit individuellen Erlebnissen deckt.
Für Millionen Zeitgenossen, die sich einer inkriminierenden Maschinerie ausgesetzt sahen, lag seine Bedeutung im stellvertretenden Protest gegen die inquisitorische »Gewissenserforschung« einer mit Missionsanspruch exportierten (US-)Demokratie. Salomon sprach unverblümt vom »Terror« des Entnazifizierungsfragebogens, verwahrte sich gegen vorschnelle Urteile und führte das primitive Erfassungsschema mit subtilen Reflexionen und Erinnerungen von einigem Quellenwert ad absurdum.
Die Zwangsbefragung ironisierte er dabei durch breite Darlegung seiner Vita: Kadett im Ersten Weltkrieg, Freikorpsmann im Baltikum, Untergrundkämpfer in der »Organisation Consul«, Zuchthaus wegen republikfeindlicher Straftaten, Autorschaft und idyllisches Intermezzo als »Boche in Frankreich«, Überleben im NS-Staat mit einer hochgefährdeten Partnerin, Zweiter Weltkrieg und Internierung durch die Amerikaner.
Im Lager tröstete ihn die Aussicht, darüber zu berichten – mit einer nicht eben amerikafreundlichen Tendenz, die etwa lautet: Wenn ihr uns Demokratie lehren wollt, benehmt euch besser! Wer uns verurteilen will, informiere sich erst mal über die Komplexität der Verhältnisse! Mit 131 Fragen herablassender US-Sozialingenieure ist es nicht getan. Ich knalle euch einen 800-Seiten-Wälzer auf den Tisch als Widerpart eurer Bigotterie. Auf Abrechnung zielt besonders die Schilderung seiner 15monatigen Haft, die übrigens – wie für eine halbe Million Leidensgenossen ebenso – »irrtümlich« erfolgte. Sie enthielt die peinliche Enthüllung, daß dieses Los sogar seine jüdische Freundin Ille traf, die er im Dritten Reich zu ihrem Schutz als Ehefrau ausgegeben hatte.
Die Provokation des konsequent aus innerdeutscher Perspektive geschriebenen Buchs wurde durch den besonderen Salomon-Stil noch gesteigert: eine sarkastische Spottlust, mit der er auch prekäre politische Ereignisse pointiert in grotesk-amüsante Anekdoten kleidete. Was seinen Gegnern bei diesem Thema so bitter aufstieß, war im Kern seine spezifische Art geistiger Notwehr, persönlicher Schuldtherapie und Reaktion auf eine tiefgefühlte Absurdität der Historie, die sich in einer ausschließlich dem Sieger bekömmlichen Offizialgeschichte zur Re-Education nicht fassen ließ.
Sein Bericht illustriert besonders den inneren Zwiespalt eines Patrioten, der die Niederlage seines Landes fürchtet, doch als Dissident zugleich ahnt, daß sie notwendig ist. Er war glühender Nationalist, aber kein Rassist und bereute die blutige »Jugendsünde« seiner Beteiligung am Rathenau-Mord lebenslang. Zudem schämte er sich, daß seine anfangs martialisch verfochtene Staatsidee so schmutzig realisiert worden war und seinem Handeln damit jeglichen Sinn geraubt hatte. Die drastischen Lager-Schilderungen der letzten 150 Seiten mit Folter und Schikanen mögen zuweilen überzeichnen. Gegengeschichte neigt nun mal weniger zur Ausgewogenheit als zu herrschaftskritischer Entlarvung, und Mißhandelte haben ein gewisses Recht auf polemische Zuspitzung.
Wenn ihm Kritiker allerdings eine Gleichsetzung von NS- mit US-Unrecht vorhielten, ignorierten sie (als schlechte Interpreten) erstens die dialektische Spannung zwischen dem Schicksal des Ich-Erzählers und seiner Freundin, zweitens, daß Salomons Grundbotschaft differenzierter ausfällt. Natürlich sind auch schlimme Straf- keine Vernichtungslager, aber darauf zielt der Text nicht ab. Er belegt statt dessen viel grundsätzlicher, daß die »Pest des Besiegten« häufig auch die Sieger infiziert und ungezügelte Macht über andere meist üble Instinkte freisetzt. Siehe My Lai, Abu Ghraib oder Guantanamo!
Wer also dem Sieg 1945 das Bewußtsein absoluter moralischer Überlegenheit zugrundelegte, senkte nach Salomon die Hemmschwelle für Infamien und Korruptionen. Sein Tabubruch bestand zudem darin, sich das Vergleichsrecht nicht nehmen zu lassen, wie dies den Anwälten im Nürnberger Prozeß geschehen war. Statt um Gleichsetzung ging es ihm eher um die Weigerung, Re-Education-Dogmen anzuerkennen, die dem nazistischen Staatsterror quasi das Aufmerksamkeitsmonopol sicherten, während der Hinweis auf andere Untaten als anrüchige Relativierung zählte.
Somit waren Verdammungsurteile der »Lizenzpresse«, wie Salomon süffisant formulierte, vorprogrammiert. Und sofort zückte man dort auch die Nazikarte. Friedrich Luft, Chefkommentator des RIAS, sprach von einer »peinlichen Stinkbombe«, einer »faschistisch verschmockten Autobiographie« von »gemeinstem literarisch-politischen Kalkül«, Gerhart Pohl von »Gift« und einem »literarischen Attentat auf Deutschland«. Luft, Klaus Harpprecht oder die Welt am Sonntag erklärten Salomon zum literarischen Pendant des neonazistischen Generalmajors Remer, der maßgeblich zum Scheitern des 20. Juli beigetragen und die 1952 verbotene Sozialistische Reichspartei mitbegründet hatte. Alfred Polgar warf ihm vor, er mache »Stimmung für Faschismus und Hitlerei«. Theodor Eschenburg sekundierte. Der antidemokratische Deutsche finde in seinem Buch eine »beglückende Bestätigung«. Ins gleiche Horn stießen Karl Korn, Axel Eggebrecht, Ernst Glaeser und bis heute etliche akademische Deuter.
Zuspruch erfuhr Salomon durch eine Fülle von Privatpost, dazu in Minderheitsstellungnahmen von Gesinnungsfreunden wie Bruno Brehm, Hans Zehrer, Dietrich-Sander oder Armin Mohler, der allen Verrissen zum Trotz bilanzierte: Der »Chor der Leser kauft und liest«. Und in der Tat: Sechsstellige Absatzzahlen indizierten einen der letzten großen Publikumssiege gegen das etablierte Feuilleton. Doch es war lediglich ein Schwanengesang. Bald triumphierte das fast totale Umerziehungsprogramm.
Insofern traf es Friedrich Sieburg glimpflich. Der blendende Feuilletonist und bewunderte wie gefürchtete Kritiker hatte in seiner Funktion als Botschaftsrat in Paris einschlägig für die neuen Herren geworben, was man ihm später ankreidete. Doch neben zahlreichen Gegnern fand der langjährige Redakteur der FZ bzw. FAZ dort auch einflußreiche Verteidiger. Enge Beziehungen zur französischen Kulturszene kamen hinzu. Und selbst anders gesinnten Kollegen wie Reich-Ranicki oder Raddatz nötigten seine immense Bildung und stilistische Klasse zähneknirschend Anerkennung ab. Als Geheimtip für Kenner hat er somit überlebt.