Sie sind im Boomeralter und etwas darunter, tragen eingerollte Friedensfahnen mit sich, eine etwas jüngere Frau mit Rock und Stulpen hat eine Trommel mit Taubenemblem um den Bauch gebunden. Sie rätseln am Fahrkartenautomaten: „Ha, müsset mir jetzet links oder rechts aischteige, die alde Fraage: links oder rechts“, witzelt eine. Alle lachen äußerst hintergründig, wir lachen jovial mit, da wir über Blicke längst eingemeindet sind.
Faszinierend: Statt ein Gruppenticket zu lösen, kaufen sich die Schwaben einzeln ihre Fahrscheine – sollen ja keine Ungereimtheiten bei der Aufteilung der Kosten entstehen.
Vom Hauptbahnhof laufen wir im Pulk mit anderen Teilnehmern zum Veranstaltungsort. Wir werden direkt vor die Bühne gespült. Wir stehen eng, und es wird immer enger. So eng kenne ich es – pegidaerfahren – nicht. Bei vielen Frauen kommt Panik auf: „Ich muß hier raus, raus an den Rand!“ Ein kleines beklemmendes Lauffeuer entsteht. Es wird zu Rettungseinsätzen kommen.
Ein Geschiebe und Gedränge, und dauernd fluten weitere Leute nach. Auf Zehenspitzen überrage ich zwar die meisten, aber auch mir wird es mulmig. Wir bewegen uns langsam an den Rand des Parks, der die Strecke zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule säumt. Irgendwann kann man freier atmen.
Zur Beklemmung hat beigetragen, daß die „Antifaschistische Aktion“ gerade in diesem Sektor ihre Fahnen wehen ließ (plus Hammer& Sichel-Fahnen, obwohl die per Ansage verboten waren) und über die erste Hälfte der Kundgebung beständig skandierte: „Nazis raus! Nazis raus!“
Auf einem großen Banner die Losung „Jürgen Elsässer ist nicht willkommen!“ (Angeblich haben Elsässer und seine Leute nach einem Gerangel irgendwann die Kundgebung verlassen, wir bekamen es nicht mit.)
Wir selbst wurden nicht als „Nazis“ identifiziert, aber etwa zwei dutzendmal herzlich von Lesern gegrüßt. Besonders beeindruckend der Typ, der barfuß zugange war. Ohnehin kann man unsere Leute nur schwer identifizieren. Oft war es hippieske Klientel, die uns freundliches zurief, oft bürgerliche.
Allgemein zu den Demoteilnehmern: recht hoher Altersdurchschnitt, wenige Leute unter Dreißig, viele über Fünfzig. Kaum Schüler und Studenten. Ein paar Trupps verteilten Exemplare der Junge Welt, zwei junge, cool wirkende Menschen (m/w) Exemplare der Neue Internationale, Monatszeitung der Gruppe arbeiter/innen/macht.
Stereotypisch friedensbewegt (sprich: Wollkleidung, Regenbogenfarben, Stirnband) sehen die wenigsten Kundgebungsteilnehmer aus, man trägt Jack Wolfskin-Textilien oder North Face, viele Rentnerpaare sehen dem Autorenduo Iny Lorentz frappierend ähnlich.
Ausländer, also erkennbare, anwesend? Ja, drei gesehen – vom fahrenden Volk, sie gingen bettelnd mit Kaffeebechern umher.
Kurz nach vierzehn Uhr trat Alice Schwarzer ans Mikrophon. In meiner nahen Umgebung raunte es aus den Mündern der Frauen 70plus, meist forsche Gesichter, Gesichter des Typs, die zum Frühschwimmen oder zur Gymnastikstunde gehen: „Das ist Alice! Alice spricht!” Alle freuten sich. Jäher Jubel. Es geht los.
Zunächst wird eine längere Friedensbotschaft von Jeffrey Sachs (der Ökonom ist auch Corona-Maßnahmen-Skeptiker) auf Amerikanisch eingespielt. „Ick kapier nüscht“, verlautet es neben mir. Ein paar Leute skandieren „Sahra, Sahra!“
Wir stehen mit dem Rücken direkt am Absperrzaun, der von zahlreichen Polizisten bewacht wird. Sie lassen Leute raus, aber keinen rein. Alle weiterhin Zuströmenden werden abgewiesen: der Platz sei überfüllt. Die potentiellen Mitdemonstranten beschweren sich, einige versuchen, durch die Gitter zu klettern. Sie werden zurückgeschoben.
Dann spricht Hans-Peter Waldrich. Er (*1944) ist ein westdeutscher Friedensaktivist der ersten Stunde. Er warnt eindringlich vor einer atomaren Eskalation. Das wäre zugleich eine Klimakatastrophe. Seine Angst wirkt authentisch. Es gibt Szenenapplaus.
Es folgt Erich Vad, Brigadegeneral a. D. und vormals militärpolitischer Berater Angela Merkels, außerdem Sezession-Autor, ein einziges Mal, Heft 1, über Schmitt und Krieg. Es ist, wie er bekennt, sein erster Auftritt auf einer Kundgebung. Er meistert ihn gut und gibt sich staatstragend.
Wichtig ist seine Aussage, daß Waffenlieferungen ohne die Formulierung klarer politischer Ziele “reiner Militarismus” seien und daß, realistisch betrachtet, das politische Ziel einer Atommacht gegenüber nicht der Sieg über sie sein könne.
Als Dritte tritt dann unter tosendem Jubel Sahra Wagenknecht ans Mikrophon. Wie seltsam sich doch alles verdreht habe: Früher habe stets die Rechte für Kriegshetze gestanden und die progressiven Kräfte für Diplomatie. Sie ist eine mitreißende Rednerin in ihrem klaren, stets etwas fragenden Duktus. Natürlich klatsche ich mit. Kubitschek stößt mich in die Seite: „Da muß man nicht klatschen. Das stimmt doch nicht. Die macht gerade Klientelpolitik.“
Zum Vorwurf der fehlenden Distanzierung von rechts, den ihr zahlreiche Parteifreunde gemacht hatten, sagt Wagenknecht, ganz klar wolle sie keine faschistischen Embleme sehen, ansonsten sei „jeder Mensch guten Willens“ hier willkommen.
Lautstarker Jubel ertönt, als Wagenknecht feststellt, Annalena Baerbock bewege sich auf dem internationalen Parkett „wie ein Elefant im Porzellanladen“. Auch später wird immer wieder „Baerbock-muß-weg!“ skandiert.
Zwischendurch dreht sich eine jüngere Frau zu uns um und schaut uns wortlos an. An ihrem Jackenreißverschluß hat sie einen pinken Zettel mit der Aufschrift „Nazis verpißt euch, keiner vermißt euch“ befestigt. Nur, offenkundig sucht sie die Adressaten ihrer Botschaft vergeblich. Eine Handvoll Leute tragen Deutschlandfahnen. Ob sie die meint?
Schwarzer hatte dazu aufgefordert, die Kundgebungsteilnehmer sollten an ihrer Kleidung ein weißes „F“ (für Frieden) befestigen. Ich habe eine einzige F‑Frau gesehen. Friedenstauben waren weit verbreitet, des weiteren das ikonographische „Schwerter zu Pflugscharen“.
Eine Frau trägt ein großes Plakat mit der Käthe-Kollwitz-Grafik „Nie wieder Krieg!“. Erstaunlicherweise ist sie eine Doppelgängerin der von Kollwitz gezeichneten hohlwangigen Frauenfigur.
Einige Dutzend Leute haben sich als Litfaßsäulen verkleidet und tragen auf dem Bauch und dem Rücken ein Plakat mit der Aufschrift „Mit AfD und Co ist kein Frieden zu machen: Die Linke.“ Soweit ich sehe, löst das keine Diskussionen aus.
Als Alice Schwarzer im goldfarbenen Flattergewand das Mikrophon ergreift, löst sich die Versammlung erst langsam, dann zügiger, schließlich rasant auf – zumindest von den Rändern her. Dabei wird Schwarzer den längsten Redebeitrag liefern, aber sie kann es nicht recht. Hier gilt er eher als zu vernachlässigendes Nachspiel. Der Höhepunkt (Wagenknecht) ist durch. Und es ist einfach saukalt. Es schneit, es sind 0,5 Grad Celsius.
Leider ist Schwarzers Stimme wirklich eher talkshowkompatibel – erstens spricht sie nicht auf den Punkt, tritt weniger als Rednerin denn als launige Erzählerin auf, als säße sie mit einem Gesprächspartner auf der Couch. Zweitens vernuschelt sie ihre Sätze, drittens versteht man sie auch akustisch schlecht, sie ist zu weit vom Mikrophon weg.
Sie lobt die Ostdeutschen, die sich mit noch viel größerer Mehrheit als der Westen gegen den Krieg ausspreche. „Und wir sind ja hier im östlichen Teil der Republik.“ Stimmt, ich darf klatschen.
Als sie sagt, der Weg von der Gewalt im Ehebett bis zur Gewalt an der Front sei ein kurzer, denn überall dort dominiere männliche Gewalt, branden Lachsalven auf. Es ist ein freundliches Lachen. „Nu, dafür hom wir die hier, sollse!“, sächselt ein Mann glucksend neben mir. Schwarzer wird nicht müde zu betonen, daß bei allen Friedensinitiativen der vergangenen hundert Jahre Feministinnen in der ersten Reihe gestanden haben. Da sind zahlreiche Teilnehmer bereits auf dem Heimweg.
Distanzierte sich Schwarzer „endlich“ „ordentlich“ von „rechts“? Nein, sie sagt, die Unterscheidung zwischen links und rechts fände sie heute äußerst kompliziert – der Frontverlauf ist längst ein anderer. Und: „Nicht unser Volk ist falsch, unsere Volksvertreter sind es!“ Auffällig, daß Schwarzer kaum gendert.
Zum Ausklang wird auf der Bühne „Imagine“ abgespielt, logisch, soviel Nostalgie muß sein. Neben mir erklärt ein Vater in Funktionskleidung (um die vierzig, um die fünfzig? Nach Gewalt im Bett schaut er nicht aus, aber wer weiß das schon) seinem halbwüchsigen Sohn: „Das ist ein berühmtes Lied von George Lennon. Damals in den achtziger Jahren war das der Hit.“
Die Stimmung ist insgesamt so heiter wie harmlos. Sowohl bei PEGIDA als auch später auf den Corona-Demos war die Atmosphäre wesentlich dichter, „solidarischer“ gewesen. Hier nun in Berlin stand man halt in dem Wissen, mit der eigenen Haltung (gegen Waffenlieferungen und einen Abnutzungskrieg, für diplomatische Bemühungen) ein kleiner Teil einer großen Mehrheit zu sein.
Von der Polizei hieß es noch im Verlauf der Kundgebung, man habe „bis zu 13.000“ Teilnehmer gezählt, was fraglos als seltsam höhnische Aussage gewertet werden muß.
Sahra Wagenknecht schätzte von der Bühne „rund 50.000“, was deutlich glaubwürdiger erschien. Das von Schwarzer und Wagenknecht initiierte (und mittlerweile von vielen AfD-Funktionären unterzeichnete) Manifest haben mittlerweile über 650. 000 Personen unterzeichnet.
Alice Schwarzer hatte gerufen, dies hier sei „der Beginn einer neuen Bürgerbewegung.“ Das dürfte zu bezweifeln sein. Es war ein unkompliziertes Ventil, mehr nicht. Auch eine zehnfache Teilnehmerzahl könnte das Anliegen wohl kaum befeuern.
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Le Chasseur
In Ramstein findet heute übrigens eine Demo unter dem Motto "Ami go home!" statt: https://www.rheinpfalz.de/lokal/kaiserslautern_artikel,-ami-go-home-demo-in-ramstein-und-an-der-air-base-_arid,5472358.html