Dokumentation: Verenden und Neubeginn

pdf der Druckfassung aus Sezession Sonderheft Spengler / Mai 2005

von Fritz Schachermeyr

Der Althistoriker Fritz Schachermeyr ist der breiteren Öffentlichkeit heute kein Begriff mehr, obwohl seine Griechische Geschichte in zahllosen Auflagen bis in die achtziger Jahre weit verbreitet war. Aber auch unter denjenigen, die dieses Buch damals zur Hand nahmen, dürfte der Untertitel „Mit besonderer Berücksichtigung der geistesgeschichtlichen und kulturmorphologischen Zusammenhänge“ nur wenigen aufgefallen sein. Dabei ist der Bezug zu Spenglers Vorgehensweise und Terminologie offensichtlich, und Schachermeyr gehörte zu den wenigen Fachwissenschaftlern, die Spengler so offen ihre Referenz erwiesen und sich zur Notwendigkeit einer „Art von angewandter Geschichtsphilosophie“ bekannten.

Von einer per­sön­li­chen Begeg­nung zwi­schen bei­den Gelehr­ten ist nichts bekannt. Doch hat der 1895 in Urfahr, nahe Linz gebo­re­ne Schacher­meyr wäh­rend des Ers­ten Welt­kriegs in Ber­lin bei Edu­ard Mey­er gehört, der unter den His­to­ri­kern zu den Ver­eh­rern und Freun­den Speng­lers gehö­ren soll­te. Speng­ler selbst wur­de in den zwan­zi­ger Jah­ren mehr­fach auf Schacher­meyrs ers­te Arbei­ten über das archai­sche Grie­chen­land hin­ge­wie­sen. Aber den Kon­takt hat auch er nicht gesucht.
Auf wel­chem Weg genau sich die Ein­fluß­nah­me Speng­lers auf Schacher­meyrs Den­ken ent­wi­ckelt hat, läßt sich nicht mehr fest­stel­len. Aller­dings war die Rezep­ti­on auch nie­mals vor­be­halt­los. Schacher­meyr scheint immer einen Vor­be­halt gegen den „Pes­si­mis­mus“ Speng­lers gehabt zu haben. Der äußer­te sich auf zwei ganz unter­schied­li­che Wei­sen. Wäh­rend der NS-Zeit folg­te Schacher­meyr einer in vie­lem kon­for­men Linie, wenn er in geschichts­theo­re­ti­schen Arbei­ten die The­se ver­trat, daß alle Kul­tu­ren von ihrer ras­si­schen Prä­gung bestimmt sei­en und deren Leben und Ster­ben von der bio­lo­gi­schen Kraft ihrer Trä­ger­ras­sen abhinge.
Die­se Sicht hat Schacher­meyr nach 1945 auf­ge­ge­ben und in einem Ein­lei­tungs­ka­pi­tel zu der oben erwähn­ten Grie­chi­schen Geschich­te die Anschau­ung ver­foch­ten, daß nicht die Ras­se, son­dern die Kul­tur selbst der ent­schei­den­de Fak­tor sei und daß es sich – ganz im Sin­ne Speng­lers – bei Kul­tu­ren um „orga­ni­sche“ Grö­ßen han­de­le, deren Lebens­zeit allein von imma­nen­ten Fak­to­ren abhän­ge. Sein Vor­be­halt galt aber nach wie vor Speng­lers deter­mi­nis­ti­scher Auf­fas­sung und des­sen Annah­me eines all­ge­mei­nen Ent­wick­lungs­ge­set­zes der Hoch­kul­tu­ren. Nach Schacher­meyr gab es nur eine voll­stän­di­ge Ana­lo­gie: die zwi­schen der Anti­ke und dem Abendland.
Er hat sei­ne Posi­ti­on unter dem Ein­druck der gesell­schaft­li­chen Kri­se, die in den sech­zi­ger Jah­ren ein­setz­te, noch ein­mal zusam­men­ge­faßt und 1981 – sechs Jah­re vor sei­nem Tod – ein umfang­rei­ches Werk mit dem Titel Die Tra­gik der Voll-Endung ver­öf­fent­licht. Aus die­sem Band stam­men die fol­gen­den, der Fra­ge einer mög­li­chen Rege­ne­ra­ti­on nach­ge­hen­den, Überlegungen:

Fol­gen­des haben wir zu unter­schei­den: Ein Ver­en­den ent­we­der durch bru­ta­le Gewalt oder aber durch eige­nes Altern. Ein Ver­en­den könn­te aber auch durch eine Krank­heit erfol­gen, sofern es gegen eine sol­che kein Reme­di­um gibt. Ver­en­den kann dabei sowohl von einer Rege­ne­ra­ti­on gefolgt sein, wür­de sich also nur auf den bis­he­ri­gen Ent­wick­lungs­ab­lauf bezie­hen, oder aber mit der Ver­nich­tung der Ent­wick­lungs­trä­ger einen end­gül­ti­gen Abschluß bedeu­ten. Im fol­gen­den wol­len wir die ein­zel­nen hier in Fra­ge kom­men­den Mög­lich­kei­ten aufzählen:

1. Ein abso­lu­tes Ende ohne Rege­ne­ra­ti­on kann erfol­gen bei einer tota­len Ver­nich­tung durch einen bru­ta­len äuße­ren Feind. Die Ver­nich­tung der Azte­ken- und Inka-Kul­tu­ren durch die Spa­ni­er bie­tet dafür ein Bei­spiel, das uns zugleich auch das Ende des natio­na­len Daseins der Trä­ger mit ein­schließt. Ähn­lich geschah es einst auf Kre­ta den Minoern, die im Hel­le­nen­tum weit­ge­hend aufgingen.

2. Ein abso­lu­tes Ende ohne Rege­ne­ra­ti­on wür­de sich auch erge­ben aus einer glo­ba­len Ver­nich­tung des Men­schen­ge­schlech­tes durch die Seg­nun­gen unse­rer tech­ni­sier­ten Naturwissenschaften.

3. Die Been­di­gung einer Ent­wick­lung, ver­bun­den mit einer Erhal­tung sei­ner Trä­ger und mit der gro­ßen Wahr­schein­lich­keit zu einer ech­ten Rege­ne­ra­ti­on wird uns dage­gen durch die Bei­spie­le einer Wen­de vom Myke­ni­schen zur Anti­ke und dann wie­der von der Anti­ke zum Abend­land ver­bürgt. Dazu gleich hier eini­ge wich­ti­ge Einzelheiten.
Vor­aus­set­zun­gen wären für eine sol­che Auf­ein­an­der­fol­ge von Been­di­gung des bis­he­ri­gen Ent­wick­lungs­ab­lau­fes und Beginn eines neu­en zuerst ein­mal das Ein­tre­ten gewis­ser Nega­tiv­erleb­nis­se: So etwa die Reduk­ti­on eines all­zu las­ten­den Kul­tur­er­bes durch bar­ba­ri­sche Zer­stö­rung, wodurch das bis­he­ri­ge kul­tu­rel­le Estab­lish­ment so weit zer­brach, daß die bis­he­ri­gen Zen­tral­wer­te ver­lo­ren gin­gen und damit auch das bis­he­ri­ge Kul­tur­sys­tem. Am Ende der myke­ni­schen Ära ging so die Palastidee als Zen­tral­wert zugrun­de, am Ende der Anti­ke aber der Zen­tral­wert des Impe­ri­um Roma­n­um. Dadurch sah sich auch die bis­he­ri­ge Ent­wick­lungs­rich­tung zum Abschluß gebracht.
In den erwähn­ten Fäl­len war dabei der gesam­te Phan­ta­sie­schatz, der in den bis­he­ri­gen Ent­wick­lungs­ab­läu­fen vor­han­den war, bereits auf­ge­braucht. Daher auch die Alters­schwä­che der bei­den Kul­tu­ren, wel­che es bar­ba­ri­schen Ele­men­ten gestat­te­te, hier als Zer­stö­rer auf­zu­tre­ten. Die bei­den Abläu­fe hat­ten sich somit bereits voll-endet, sie waren kul­tu­rell zu nichts mehr nüt­ze. Dar­um muß­ten sie durch Neu­es ersetzt werden.
Was sich frei­lich erhal­ten muß­te, das waren ein­mal schon die Trä­ger die­ser Kul­tu­ren, dann aber auch die ein­zel­nen Kul­tur­ele­men­te. Die­se waren nach dem Zusam­men­bruch der bis­he­ri­gen Zen­tral­wer­te ja ohne fes­te Bin­dung und Steue­rung, sie waren gleich­sam „frei“ und ihres bis­he­ri­gen tra­di­tio­nel­len Struk­turzwan­ges ledig. So fan­den die­se Ele­men­te die Mög­lich­keit, sich irgend­wel­chen neu­ge­bil­de­ten Zen­tral­wer­ten oder Zen­tral­wert­kom­ple­xen anzu­schlie­ßen, wodurch dann eine neue Wert­struk­tur ent­stand, aus der eine neue Kul­tur­ent­wick­lung mit einer neu­en, bis dahin noch nie ver­folg­ten, daher völ­lig unver­brauch­ten „Rich­tung“ ein­ge­schla­gen wer­den konn­te. Dabei sind die­se Wen­dun­gen nicht aus dem Intel­lekt inau­gu­riert wor­den, son­dern aus dem Unbe­wuß­ten auf­ge­wach­sen. Wir ler­nen dar­aus, daß sol­che Rege­ne­ra­tio­nen gar nicht gewollt und gemacht wer­den kön­nen, son­dern einen ele­men­ta­ren Pro­zeß dar­stel­len, von dem man zuerst gar nichts merkt und der gera­de dadurch vom Intel­lekt nicht ver­pfuscht wer­den kann. Daher erfolg­ten bei einer sol­chen Rege­ne­ra­ti­on zuerst Jahr­hun­der­te eines sta­ti­schen Früh­sta­di­ums, bis man sich all­mäh­lich der Mög­lich­kei­ten zu einer dyna­mi­schen Auf­wärts­ent­wick­lung mit Hil­fe von Phan­ta­sie­leis­tun­gen bewußt wurde.

Für eine sol­che Rege­ne­ra­ti­on wäre eine wei­te­re Vor­aus­set­zung, daß sie von außen durch Fremd­ein­flüs­se nicht so sehr gestört wird, daß sie dar­über ihre bis­he­ri­ge mensch­li­che und kul­tu­rel­le Sub­stanz ver­liert. Vor allem bedarf eine sol­che Rege­ne­ra­ti­on ja der Erhal­tung der durch die Zer­trüm­me­rung des bis­he­ri­gen Sys­tems frei­ge­wor­de­nen Kul­tur­ele­men­te, damit sie neue Zen­tral­wer­te und dann eine neue Wert­struk­tur her­vor­brin­gen kön­nen. Dafür bedarf es aber auch der­je­ni­gen Men­schen­klas­se, wel­che ich als „Bene­dik­ti­ner“ bezeich­nen möch­te. Die hät­ten dann zwar nicht die alte Struk­tur zu erhal­ten (da sei Gott vor!), wohl aber die bis­he­ri­gen Kul­tur­ele­men­te zu bewah­ren, soweit ihnen zeit­lo­se Wert­haf­tig­keit als Saat­gut für künf­ti­ge Ent­wick­lun­gen und als Ansporn zum kul­tu­rel­len Wett­kampf zukommt. So viel zur Mög­lich­keit einer sol­chen ech­ten und gro­ßen Rege­ne­ra­ti­on, nach dem von der Erfah­rung gebo­te­nen Sche­ma. Ob es auch noch ande­re Mög­lich­kei­ten hier­zu gibt, ver­mag ich man­gels von Anhalts­punk­ten nicht anzugeben.

4. Eine ganz ande­re Mög­lich­keit, den Nie­der­gang und das Ende wenigs­tens auf­zu­hal­ten, läge dar­in, daß er noch vor sei­ner End­ka­ta­stro­phe von einem lebens­tüch­ti­ge­ren Sei­ten­zweig (Satel­li­ten) der glei­chen oder einer ver­wand­ten Ent­wick­lung auf­ge­fan­gen wür­de. Die­ser kräf­ti­ge­re Sei­ten­zweig über­nimmt nun die Füh­rung und eine Art von Pro­tek­to­rat. Er sorgt für ein sta­ti­sches Wei­ter­be­stehen der Nie­der­gangs­kul­tur im Rah­men sei­ner eige­nen Gesit­tung. So ließ Myke­ne das Minoi­sche im Nie­der­gang noch wei­ter vege­tie­ren. Eben­so nahm Rom den Hel­le­nis­mus in sein Impe­ri­um mit auf. Wenn wir die­sen Sei­ten­zwei­gen höhe­re Lebens­kraft zuschrie­ben, so mein­ten wir damit, daß ihnen in der von ihnen ein­ge­schla­ge­nen Rich­tung noch ein höhe­res Maß von uner­füll­ten Auf­ga­ben und Phan­ta­sie­mög­lich­kei­ten zur Ver­fü­gung stan­den und damit zugleich auch noch eine här­te­re kon­for­mis­ti­sche­re „Hal­tung“. Dabei müs­sen wir beden­ken, daß extre­me plu­ra­lis­ti­sche Sys­te­me wie das des Hel­le­nis­mus gegen­über kon­for­mis­ti­schen Gesit­tun­gen (zum Bei­spiel Rom) ohne­hin nie­mals eine Chan­ce haben. Extre­mer Plu­ra­lis­mus ist zu sehr gespal­ten und durch die Luft­bla­sen des Ego­is­mus auf­ge­plus­tert. Bei glei­chem Stand der Tech­nik wird der extre­me Plu­ra­lis­mus gegen­über einem kon­for­mis­ti­schen Geg­ner immer den Kür­ze­ren ziehen.

5. Eine letz­te und zugleich aller­güns­tigs­te Art der Rege­ne­ra­ti­on wür­de sich schließ­lich ein­stel­len, wenn man im Rah­men der bis­he­ri­gen Ent­wick­lung (also ganz ohne Mit­hil­fe eines Sei­ten­zwei­ges) aus eige­ner Kraft einen neu­en, noch unver­brauch­ten Zen­tral­wert (etwa Euro­pa!) zu gewin­nen ver­möch­te. Dar­aus wür­den sich dann ohne­hin so vie­le Anrei­ze für neue­re Phan­ta­sie­leis­tun­gen erge­ben, daß sich die bis­her ein­ge­schla­ge­ne Ent­wick­lung wie von selbst in durch­aus gesun­der Wei­se um eine neue Pha­se wei­ter fort­set­zen würde.

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