Am Ende dieses Beitrags steht außerdem Dr. v. Waldsteins Vortrag zum Thema als Video-Mitschnitt zur Verfügung.
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1. Geschichtliche Herleitung – Bis zum Ausgang des Mittelalters prägten alte Patriziergeschlechter den Geist deutscher Städte, insbesondere in den Handelsmetropolen des Reiches. In deren Nachfolge dominierte bis weit ins 18. Jahrhundert der Gedanke des sittlich an den Staat gebundenen und der Verantwortung für die Nachfahren verpflichteten Bürgers.
Der Typus des modernen Bürgers kam in Deutschland erst nach dem Tode Friedrichs des Großen 1786 und mit dem Zerfall der alten societas civilis nach der Französischen Revolution 1789 auf. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs »rasch ein Geschlecht von Nützlichkeitsfanatikern und Allerweltsfortschrittsmännern empor, ein dem stillen alten Deutschland ganz unbekannter Menschenschlag« (Heinrich von Treitschke).
Der Triumph des Ökonomischen über alle anderen Facetten der Staatlichkeit, der »Sieg des Bürgers über den Soldaten« (Carl Schmitt), begann schließlich nach der Reichsgründung 1871 und war mit der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg besiegelt. Seither, seit über 100 Jahren, steht mit dem Bürger eine soziologische Figur im Mittelpunkt der deutschen Gesellschaft, die – nach Rousseaus treffender Beobachtung im Émile – nicht weiß, was sie will, und im stetigen Widerspruch mit sich selbst lebt.
2. Abgrenzung Citoyen / Bourgeois – Die sich in Frankreich nach 1789 herausbildende Doppelstruktur des Bürgers zwischen dem Citoyen, dem »in der politischen Sphäre existierenden Staatsbürger« (Carl Schmitt), einerseits und andererseits dem Bourgeois, dem Privatmann, dem »rechenhaften Egoisten der kapitalistischen Zeit, der unfähig ist zu Liebe und Wagnis, zu Schönheit und innerer Lebendigkeit« (Rudolf Smend), hat es so in Deutschland nie gegeben. Die Deutschen ließen sich von dem Citoyen-Pathos der Französischen Revolution nur begrenzt anstecken.
Der über Jahrhunderte vorherrschende kleinbürgerliche Zuschnitt des Lebens im Gartenlaube-Deutschland tendierte stets eher der Rolle des Bourgeois zu, der Erfüllung vor allem jenseits des öffentlichen Lebens findet. Karl Marx sprach spöttisch von der »politischen Löwenhaut« des Citoyens, unter der sich in Deutschland noch immer der Bourgeois verberge. Schon im Kaiserreich begann »die Verachtung, die der starke Bourgeois dem träumenden Citoyen spendet« (Leo Kofler), gefährliche, die Gemeinschaft bedrohende Züge anzunehmen.
Stefan George definierte nicht umsonst die »Fettbürger« als diejenigen, »die weder dienen noch herrschen können«.9 Seit den Weimarer Tagen beherrschte dann mit dem »völlig vom Citoyenhaften ›gereinigten‹ Bourgeois« (Leo Kofler) eine Gestalt die Szenerie, in der die individualistisch-materialistischen Triebe des homo oeconomicus endgültig über die res publica triumphierten.
Auch in den zwölf Jahren brauner und in den 40 Jahren roter Diktatur in Deutschland verstand es der Bourgeois, sich – trotz der antibürgerlichen Phraseologie dieser Zeit – mit den Herrschenden zu arrangieren. Der Bundesbourgeois des 21. Jahrhunderts schließlich ist eine seltsame Melange aus einem ideologisch aufgeblasenen Weltbürger und einem innerlich beschränkten, eindimensionalen Spießbürger.
Was man mit einem solchen »Allerweltsbürger« (Adam Müller) am wenigsten erhalten oder gar errichten kann, ist ein Staat, der Bestand hat. Neben vielem anderen fehlt dem Agglomerat der heutigen BRD-Nischengesellschaftsbewohner dazu vor allem das, was der arabische Geschichtsphilosoph Ibn Chaldun im 14. Jahrhundert als asabijja bezeichnet hat: das Vermögen, welches eine Gemeinschaft im Innersten zusammenhält, welches ihre Achse, ihren Lebensnerv und die Summe ihrer Lebensenergien darstellt und worauf sie nach außen – gefühlsmäßig-instinktiv, aber auch auf der Bewußtseinsebene – ihre kämpferische Kraft und ihren Selbstbehauptungswillen aufbaut.
3. Egobourgeoisie – Was den modernen Bürger in erster Linie kennzeichnet, ist seine Ich-Verpanzerung, sein nicht selten animalisch anmutender Egozentrismus. Nichts nimmt er wichtiger als sich selbst und seine höchstpersönliche Umlaufbahn, in der lächerliche Belanglosigkeiten und peinliche Nabelschaudarbietungen um die Wette kreisen. In den Disziplinen »Wegsehen« und »Aus allem Raushalten« ist er Weltmeister. Das »Du siehst etwas, was ich nicht sehe«-Spiel beherrscht er aus dem Effeff.
Professionelles Erkenntnisblindheitsgetue gegenüber den drängendsten politischen Herausforderungen der Zeit ist das bürgerliche Markenzeichen par excellence. Dabei sind die Gleichgültigkeit und die zur Schau getragene Ignoranz meist nur vorgeschoben. Der Bürger weiß genug, um zu wissen, was er so genau auch wieder nicht wissen will. Gleichgültigkeit und Ignoranz lassen sich zudem im Handumdrehen zu »Toleranz« und »Liberalität« umlabeln, um durch diesen Kunstgriff vorzutäuschen, die eigenen charakterlichen Schwächen seien Ausdruck einer noblen Gesinnung.
Beruflich hat man sich häufig im Fachidiotentum behaglich eingerichtet und die Scheuklappen eng angelegt, um sich auf diese Weise der Verantwortung für das Ganze entziehen zu können. Der Mangel an sozialer Empfindungsfähigkeit und an Demut gegenüber den Leistungen der Vorfahren ist dabei direkt proportional zu einer Selbstbesessenheit, die Schamgrenzen nicht kennt.
»Sich selbst zu lieben, ist der Beginn einer lebenslangen Romanze«, sagt Oscar Wilde, und niemand ist so selbstbezogen, so egobesoffen wie der Bourgeois. Seine eskapistisch-narzißtische Lebensform läßt er sich durch nichts und niemanden streitig machen. Solange die Welt für ihn »aufgeht«, hat er an ihr nichts auszusetzen. In der offenen Gesellschaft fühlt sich der Bürger vor allem deswegen so pudelwohl, weil diese keine Ansprüche an ihn stellt.
In den komfortablen Status eines zoon apolitikon hat sich der Bürger selbst versetzt. An der teflonartigen Haut dieser vermeintlich unpolitischen Kreatur perlen die drängendsten gesellschaftlichen Probleme ab wie Wassertropfen. Wenn es sich dann doch einmal – trotz aller Wegsehvirtuosität – nicht mehr leugnen läßt, daß etwas schiefgelaufen ist, dann tut es dem Bürger leid. Niemals käme er auf die Idee, daß die Sache vielleicht auch deswegen schiefgelaufen ist und weiter schiefläuft, weil Gestalten wie er ihre Pflicht versäumen.
4. Massenbürgertum – Nur scheinbar paradox zu der vorbeschriebenen Egozentrik ist, daß es der bürgerlichen Gesellschaft an nichts so sehr fehlt wie an Persönlichkeiten. Denn das »ichsüchtig maskenfrohe Individuum« (Ernst Bertram), dem man heute auf Schritt und Tritt begegnet, ist bei Lichte besehen ein das Risiko scheuendes, sich vor Isolation fürchtendes und jede Zitadelle kultureller Selbstbehauptung schon im Vorfeld räumendes Wesen.
Da ein solches Gebaren, läge es offen zutage, nicht schön aussähe, wird es mit Scheinheiligkeiten und Heucheleien aller Art kunstvoll drapiert. Nichts beherrscht der Bourgeois besser, als seiner gewöhnlichen Seele einen erbaulichen Anstrich zu geben. Kratzt man diesen affektierten Lack aus Fernstenliebe, Eisbärrettung und Mülltrennungsfetischismus ab, gewinnt man einen erschütternden Blick auf das, was sich dahinter verbirgt: das wahrlich uferlose Meer der politischen Feigheit des deutschen Bürgertums.
Diese gründet nicht zuletzt auf der Tatsache, daß ihm Männer mit heiligem Zorn, die in der Lage sind, auf den Tisch zu hauen, gänzlich abhanden gekommen sind: »Unsere wesentliche Armut ist die an Radikalität, an Menschen, die chemisch reine Elemente sind« (Reinhold Schneider). Die deutsch-deutliche, wo nötig: auch ungehobelte lutherische Wortwahl wurde abgelöst durch einen immer skurriler werdenden Verlogenheitsneusprech, der von morgens bis abends aus den medialen Ritzen zirpt.
Als ein auf »Erfolg«, will sagen: Stromlinienförmigkeit konditionierter Massenmensch hat sich der Bürger diesem Sprachdiktat schon lange unterworfen: »Denkunfähigkeit ist die erste Vorbedingung für jede öffentliche Karriere, das rückhaltlose Bekenntnis zum Katechismus der utilitaristischen Lügen die zweite« (Friedrich Wilhelm Oelze).
5. Bildungsbürgertum – Der Wirbel, den der deutsche Bürger seit jeher um den Begriff der »Bildung« veranstaltet, steht in einem bemerkenswerten Gegensatz zu der tatsächlichen geistigen Potenz des Bildungsbürgers. Noch nie wurde in Deutschland so viel über Bildung geredet, noch nie wurden so viele formelle Bildungsabschlüsse ausgereicht wie heute, und noch nie gab es so viel Pseudo‑, Halb- und Nichtwissen unter den »führenden« Gesellschaftsschichten.
Die beißende Bemerkung Hans-Dietrich Sanders aus den 1980er Jahren, das Problem der Zeit sei nicht Lieschen Müller, sondern Dr. Lieschen Müller, hat im Lande der 220 Gender-Lehrstühle an Brisanz jedenfalls nichts verloren. Dabei wird, muß man ergänzen, die Ahnungslosigkeit von Frau Dr. Müller nur noch überboten von der möglichst früh signalisierten Bereitschaft, den jeweiligen Trends ebenso kritik- wie hemmungslos zur Seite zu traben. Die Lebenswelten vieler Zeitgenossen, die sich in ihren besten Jahren der »organisierten Zeitverschwendung des bundesrepublikanischen Universitätslebens« (Marianne Kesting) – insbesondere in den sogenannten Geisteswissenschaften – ausgesetzt haben, sind häufig so künstlich akademisiert, daß sie die Fähigkeit verloren haben, einfache Sachverhalte einfach auszudrücken.
Der Mehltau der angeblichen »neuen Unübersichtlichkeit« (Jürgen Habermas) hat sich über immer mehr fatale Zustände und Entwicklungen gelegt, die durchaus übersichtlich sind und die nur diejenigen als unübersichtlich bezeichnen, die sie zu verewigen trachten. Nicht erst seit gestern hat es sich herumgesprochen, daß man – gerade bei heiklen politischen Fragen – vom offiziösen Wissenschaftsbetrieb keine befriedigenden Antworten erwarten kann. Statt dessen spricht man, will man der Wahrheit näherkommen, besser mit Handwerkern, Krankenschwestern, Feuerwehrleuten oder anderen transfergeldfernen Bevölkerungsschichten, die noch ihre Tassen im Schrank haben.
»Die Wissenschaft denkt nicht«, merkte Martin Heidegger maliziös an, und aus Todtnauberg schrieb er – ganz in den Vorarbeiten zu Sein und Zeit versunken – an Karl Jaspers: »Nach der Gesellschaft der Professoren habe ich kein Verlangen. Die Bauern sind viel angenehmer und sogar interessanter.«
Tatsächlich ist die Bildung heute in vielen Fällen degeneriert zu einem »Religionsersatz für feine Leute« (Max Hildebert Boehm), für Bürger, denen es an Urteilskraft, an Mut zu Taten und an der Verantwortung für ihre Nachkommen gebricht. Auf den Intelligenzspielwiesen der Republik, bei den Wirtschaftsweisen, im Ethikrat und in den anderen closed shops der Expertokratie läßt es sich unbeschwert und folgenlos herumtollen, solange man nicht so unklug ist, den Spielfeldrand zu übertreten und die ganze Herrlichkeit des bundesdeutschen Sprachregelungsbetriebes in Frage zu stellen.
Schon im Kaiserreich begann die Erfolgskarriere von Typen, die Max Weber als »Fachmenschen ohne Geist« und »Genußmenschen ohne Herz« geißelte; die Vertreter der Spezies homo bundesrepublicanensis stehen mit ihrer Schablonenhaftigkeit, ihrer Schicksalslosigkeit und ihrer unerschütterlichen Selbstgerechtigkeit ganz am Ende dieser Karriereleiter. Niemand sagt ihnen, daß sie ihren Artgenossen aus dem viktorianischen England wie aus dem Gesicht geschnitten sind, jenen bürgerlichen Individuen, die nach einer luziden Beobachtung Oscar Wildes »mit einer Art dumpfem Wohlbehagen durchs Leben [gehen], genau wie verwöhnte Haustiere, ohne je zu begreifen, daß sie vermutlich die Gedanken anderer Leute denken und den Normen anderer Leute folgen und nicht auch nur einen Augenblick sie selbst sind.«
6. Konsumbürgertum – Sekuritätsbedürfnis, Komfortsucht und Unfähigkeit zur Konsumdistanz sind weitere Merkmale, ohne die die Beschreibung der bürgerlichen Daseinsform unvollständig wäre. Vergegenwärtigt man sich, gegen was sich der Bürger heute alles schützen und versichern will, fragt man sich zwangsläufig, wie es früheren Generationen gelingen konnte, ihr Leben ohne solche Rundumsorglospakete zu meistern.
Babywindeln mit Seitenauslaufschutz, Schnittschutzhosen für den Holzfäller, 1001 Vorsorgeuntersuchungen an fast allen Körperteilen und Reisegepäckversicherungsschutz gegen den Verlust eines Badetuches am Strand von Rimini – es gibt kaum einen Lebensbereich, vor dem der security-Wahn und die hierzulande grassierende Versicheritis haltmachen würden.
Dieser Angstbewirtschaftung zur Seite steht eine Bequemlichkeitssucht ohnegleichen: beheizte Lenkräder im Auto, sich selbst entfaltende Zelte, Kühlschränke, die Meldung machen, bevor Butter und Marmelade ausgehen, etc. – der Irrglaube, eine Ausweitung der Komfortzone steigere das Glücksempfinden des Menschen, scheint ungebrochen.
Konrad Lorenz’ Warnung vor dem »Wärmetod des Gefühls«, die er vor 50 Jahren aussprach, verhallte ungehört. Die schon damals zunehmende Unlust-Intoleranz verwandele, so Lorenz, »die naturgewollten Höhen und Tiefen des menschlichen Lebens in eine künstlich planierte Ebene, aus den großartigen Wellenbergen und ‑tälern mach[e] sie eine kaum merkbare Vibration, aus Licht und Schatten ein einförmiges Grau. Kurz, [die Unlust-Intoleranz] erzeugt tödliche Langeweile«.
Nicht minder gefährlich für ein selbstbestimmtes Leben ist der Konsumfetischismus, von dem der moderne Bürger mit seiner Unfähigkeit, dem Leben andere Freuden als materielle abzugewinnen, durch und durch beherrscht wird. Wenn, wie Laotse sagt, derjenige reich ist, der weiß, daß er genug hat, dann ist das sich beständig um die Achse der eigenen Begehrlichkeiten drehende Individuum nur ein armes Schwein. Kennzeichnenderweise wird dieser Sklave seiner Wünsche in der offiziellen Gesetzessprache als »Verbraucher« tituliert; nichts könnte die monoökonomistische, die Menschenwürde verletzende Weltanschauung des Kapitalismus besser entlarven.
Dieser Konsument ist aber nicht nur auf der persönlichen Ebene eine zu bemitleidende Figur, er setzt mit seinem außengesteuerten Verhalten auch die Ursache politischer Unfreiheit. Denn das »Trachten nach Wohlleben [ist] eine Leidenschaft, die man die Mutter der Knechtschaft nennen kann und die […] es trefflich versteht, ordentliche Leute und feige Staatsbürger hervorzubringen« (Alexis de Tocqueville). Von verweichlichten Bürgern dieses Zuschnitts hat Deutschland wahrlich genug.
7. Rentnerbourgeoisie – Frühere Zeiten, die dem Soldatischen noch nicht so abhold waren wie die unsrigen, definierten den Bourgeois verächtlich als denjenigen, der im Bett sterben wolle. Die heutige Zeit dagegen wird – so hat es den Anschein – maßgebend von Figuren geprägt, deren Bürgerlichkeit man daran erkennen kann, daß sie überhaupt nicht mehr sterben wollen. Es ist das »Streben nach dem todlosen Leben« (Byung-Chul Han), von dem die Postmoderne wie kaum etwas anderes gekennzeichnet ist.
Schon 1884 hatte Friedrich Nietzsche die Furcht vor dem Tode als »Europäische Krankheit« bezeichnet. Der Tod sei »das Maaß des Lebens«, und nur der werde »mit Würde sterben, der im Leben eine edle und feste Haltung bewahrt« habe. Diese Lebensklugheit Nietzsches ist dem ewiglebenwollenden Bourgeois unserer Tage ebenso fremd wie die Maxime Ernst Jüngers, der gegenüber seinem Bruder Friedrich Georg im Ersten Weltkrieg die Überzeugung äußerte, »daß uns die Freiheit immer gewogen bleibt, solange wir mit dem Tode als Dritten im Bunde einverstanden sind«.
Demgegenüber triumphiert heute in Deutschland als Folge der seit über einem halben Jahrhundert bestehenden, durch staatliche Maßnahmen aktiv geförderten Überalterung ein »Als ob es immer so weiterginge«-Rentnerideal, das den Elan und die Innovationskraft dieses Landes mehr und mehr lähmt. Dabei orientiert nur noch eine Minderheit dieser heute knapp 19 Millionen Rentner ihr eigenes (Wahl-)Verhalten an dem Wohlergehen der kommenden Generationen.
»Après nous le déluge«, das übersetzt der bundesdeutsche »Forever young«-Wohlstandsrentner in die ordinär-verantwortungslose Formel »Für mich reicht’s noch«. Und diese ungeheuerliche Phrase besagt natürlich auch: »Wenn es für meine Kinder und Enkel oder – im Falle eigener (meist gewollter) Kinderlosigkeit – für die Kinder meiner Geschwister, Freunde und Nachbarn nicht mehr ›reicht‹, dann ist das nicht mein Problem.«
Die nicht mehr nur drohende, sondern in vielen Teilbereichen heute schon realisierte Republik der Apotheken-Umschau-Leser ist also mehr als eine ästhetische Zumutung. Sie stellt tatsächlich die Inkarnation einer Rentnerbourgeoisie dar, deren Hauptmerkmal der grenzenlose Verrat an der Jugend ist.
8. Moralbourgeoisie. Als besonders grotesk kann gelten, daß das BRD-Bürgertum zum Teil immer noch mit dem schillernden Begriff »konservativ« in Verbindung gebracht wird. Auf einen solchen Etikettenschwindel kann nur derjenige hereinfallen, der unter die gesinnungsethischen Mühlräder der vergangenen 60 Jahre geraten ist. Tatsächlich ist das Honoratiorenbürgertum als geschichtlicher Träger konservativen Gedankenguts bereits in den Bürgerkriegswirren nach dem Ersten Weltkrieg und Anfang der 1930er Jahre untergegangen.
Letzte verbliebene Spurenelemente dieses soziologischen Typus verschwanden spätestens mit der Ära Adenauer und dem in ihr vollzogenen endgültigen Triumph der Massengesellschaft. Seit der marxistisch befeuerten Kulturrevolution ab Mitte der 1960er Jahre und deren nachfolgende Transformation in die linksliberale »Bundesrepublik Adorno« (Philipp Felsch) hat sich das deutsche Bürgertum ohne Skrupel dem Zeitgeist unterworfen. Und dieser Zeitgeist war seit den 1970er Jahren überwiegend links; spätestens seit Anfang der 1990er Jahre ist er lupenrein links.
Dementsprechend steht das deutsche Bürgertum heute links, pflegt den universalistischen Lebensstil der linken Boheme und wählt schließlich das linke / linksliberale Parteienmachtkartell von den Grünen bis hin zur CSU. Daß sich einige dieser anpassungssüchtigen Bürger immer noch in der Mitte wähnen und einem skurrilen »Mittismus« (Josef Schüßlburner) frönen, ändert an dieser Sachlage nichts. Der Bundesbourgeois, unfähig zur Lageanalyse und befallen von Zivilisationslangeweile, tanzt heute taktgenau nach der Flöte derjenigen Rattenfänger, die in diesem Lande die – transatlantisch komponierten – Melodien vorgeben.
Die Leugnung des Volksbegriffes, der Multikulti-Wahn, die schwarzen Messen der Dauervergangenheitsbewältigung, das pseudomutige Hissen der Regenbogenflagge, hysterische Klimarettungsaktionen, Freiheitsbeseitigung durch Pandemieinszenierungen und nun: die Zerstörung der geschlechtlichen Identität von Kindern durch von Pädophilen in den Sattel gesetzte Frühsexualisierungskampagnen – es gibt kein linkes Polittheater, bei dem der Bürger nicht dabei wäre: als (passiver) Zuschauer, als Beschwichtiger unziemlicher Protestansätze anderer, als Claqueur und selbstverständlich auch als Akteur.
Alle Zumutbarkeitsgrenzen werden vollends überschritten, wenn dieses feige Mittrompeten des Bürgers auf dem linken Jahrmarkt der Eitelkeiten, wenn diese vollständige Unterwerfung unter die Tyrannei des linken Wertejargons dann noch als hypermoralische Großtat abgefeiert wird. In solchen pharisäerhaften, parareligiös aufgeladenen Ersatzhandlungen manifestieren sich Auswüchse einer Moralbourgeoisie, deren Verlogenheit alle historischen Maßstäbe sprengt.
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Laurenz
@TvW .... Ein Vortrag ist eine Sache, ein Artikel, den man liest, etwas anderes, zumindest hier. Daraus hätte man gut & gerne eine Serie von 4 Artikeln machen können, die jeweils etwas mehr ins Detail gehen. Ihre historische Aufarbeitung des Deutschen Bürgertums ist löchrig. Während die meisten Generals des Alten Fritz den Acheron noch im Galopp nahmen, reduzierte sich das in den Napoleonischen Kriegen schon erheblich. Weiter zurück befand sich die Freie Reichsstadt Frankfurt/M. desöfteren im Kriegszustand mit ein paar Rittern aus dem Taunus, weil diese Kaufleute als Geiseln genommen hatten. Da war der Bürger wehrhaft, aber doch nicht aus freien Stücken. Die Hanse scheiterte, weil sie weder Territorium, noch Verfassung besaß. Eine englische Königin war einfach machtbewußter, als die Krämerseelen. Wenn Sie Sich den täglichen Speiseplan des Fürsten Bismarck anschauen, wollte das auch jeder schlichte Geselle oder Rekrut essen. In den USA war das möglich, in Europa nicht. Bis 1918 war das Standesdenken noch gegenwärtig. Damit ruinierte sich das II. Reich. Die Matrosen kämpften nicht mehr für Ihre Offiziere, was an den Offizieren lag.