Oft sind Colonel Douglas McGregor und Scott Ritter seine Gäste – die beiden sind allerdings knallhart. Mir fiel daher Napolitanos letzter Interviewpartner Alastair Crooke auf, der sowohl die Rolle Chinas anders sieht, als es unter amerikanischen und deutschen Konservativen üblich ist, als auch die geopolitische „Zeitenwende“ aus fremder Perspektive deutet.
Ich habe den größten Teil des Interviews ins Deutsche übertragen – als Zeitdokument und als Anregung, den Blick nicht nur auf Europa zu richten.
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ANDREW NAPOLITANO: Hallo zusammen, hier ist Richter Andrew Napolitano von „Judging Freedom“, heute ist Donnerstag, der 30. März 2023, es ist ungefähr 9.40 Uhr morgens hier an der Ostküste der Vereinigten Staaten. Unser Gast lebt in der Nähe von Rom in Italien. Alastair Crooke ist ein ehemaliger britischer Geheimagent des MI6, jetzt ist er Wissenschaftler und Intellektueller (nun, intellektuell war er immer schon), der die Welt so sieht wie viele von uns, die skeptisch gegenüber Autoritäten und kritisch dem Westen gegenüber sind. Alastair, ich bewundere Ihre Arbeit seit Jahren, es ist mir eine Freude. Willkommen bei „Judging Freedom“, mein Freund, vielen Dank.
ALASTAIR CROOKE: Ich freue mich, hier bei Ihnen zu sein.
NAPOLITANO: Sie haben einen sehr interessanten Artikel geschrieben für die “Strategic Culture Foundation” mit dem Titel “L’Entente is a Bitter Pill for the West“. Wie seinerzeit beim Abkommen von Dayton gibt es auch heute eine bittere Pille für den Westen zu schlucken, wenn wir Rußlands und Chinas Zusammenarbeit so sehen.
Sie beginnen mit einem sehr faszinierenden Satz, und zwar: „Beim Verlassen seines Treffens mit Wladimir Putin sagte der chinesische Präsident Xi zu Putin: ‚Es kommt ein Wandel, wie er seit hundert Jahren nicht mehr stattgefunden hat, und wir werden diesen Wandel gemeinsam vorantreiben‘.“ Bevor Sie uns jetzt sagen, was Ihrer Meinung nach Präsident Xi damit gemeint hat – wenn Präsident Biden das hören würde, denke ich mir, daß er entsetzt wäre, oder? Meinen Sie nicht?
CROOKE: Ich denke, das sollte er sein, aber ich glaube nicht, daß man in Washington wirklich das Ausmaß des Wandels vor allem im Nahen Osten wahrnimmt. Nun hat er das gesagt, und jetzt haben wir schon eine Resolution, eine neue Sicherheitsarchitektur ist entstanden. Eine neue Sicherheitsarchitektur als Ergebnis der chinesischen Vermittlung zwischen Saudi Arabien und dem Iran, die viele der wichtigsten Punkte regelt, einschließlich der Nuklearfrage des Irans.
Wenn man so will, gab der Iran Sicherheitsgarantien für die Zukunft Saudi-Arabiens. Und dann hatten wir die Treffen mit Assad in Moskau, später kam er in die Vereinigten Arabischen Emirate. Assad, der lange Zeit sozusagen ein Paria war, hat daran teilgenommen. Dann kam das Außergewöhnlichste, ich meine, für mich, ich habe es nicht erwartet, nämlich die Einladung von Saudi-Arabien durch den König an den iranischen Präsidenten Raisi, der nach dem Eid (das ist der Feiertag nach dem Ramadan) zu Besuch kommen sollte. Ich meine, die Dinge entwickeln sich sehr schnell.
Es wird jetzt auch deutlich, daß die Iraner und die Saudis zusammenarbeiten werden, um den Krieg im Jemen zu beenden. Eine zweite Mediation wurde vereinbart: China soll die Vermittlung der Beendigung des Konflikts zwischen Iran und den kurdischen Kräften im Irak, die in den Iran eingedrungen sind, übernehmen. Große Veränderungen in sehr kurzer Zeit – und es ist ein Signal für einen neuen Geist, denke ich.
Es gibt so etwas wie ein neues Bewußtsein, wenn ich es so ausdrücken darf, im Nahen Osten und in der ganzen Welt. Es geht auffälligerweise direkt um das alte Narrativ, das Narrativ der Hegemonie, das besagt, daß man entweder für uns ist oder gegen uns.
NAPOLITANO: Wie gefährlich war die amerikanische Hegemonie? Der Glaube an den Exzeptionalismus, der Glaube, daß Amerika immer im Recht ist und der Gegner, wen auch immer es als Gegner auswählt, immer im Unrecht? Der Glaube daran, daß wir Gewalt anwenden und Menschen mit dem Tod bedrohen, um sie dazu zu bringen, unsere Version der Demokratie zu akzeptieren (und natürlich wäre es eine Demokratie, die sich den amerikanischen Wünschen unterwirft)? Wie lange muß das weitergehen, bevor die amerikanischen Politiker die Sinnlosigkeit und Amoralität dieser treibenden Vorstellung hinter der amerikanischen Außenpolitik erkennen?
CROOKE: Das ist eine große Frage, die sehr schwer zu beantworten sein dürfte: Wie lange wird es wohl dauern, bis sich die Wahrnehmung in Washington wirklich ändert? Aber wenn Sie eine schnelle Antwort auf die Frage wollen, was passiert ist, dann wage ich einmal zu fragen: Warum sind all diese plötzlichen Vermittlungserfolge wie aus heiterem Himmel möglich? Mit einem Wort: weil Amerika nicht dabei war! Die USA waren nicht Teil der Gleichung.
NAPOLITANO: An dieser Stelle muß ich Sie kurz unterbrechen. Das ist wirklich eine aufschlußreiche Aussage: weil Amerika nicht dabei war. Genau, das war wirklich aufschlußreich. Aber bitte fahren Sie fort.
CROOKE: Dieses „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“, das haben wir überall auf der Welt, immer diese Atmosphäre. Da sagt dann sogar der indische Außenminister neulich: Wie lange dauert es, bis Europa und Amerika verstehen, daß ihre Probleme nicht die Probleme der Welt sind und daß wir nicht für die eine oder für die andere Seite sind, sondern daß wir unsere eigene Seite sind? Wir verfolgen unsere eigenen Werte, und das ist wirklich eine neue Art von Gefühl in der ganzen Welt.
Plötzlich haben sie erkannt, daß sie die Vereinigten Staaten nicht für ihre Sicherheit brauchen. Plötzlich verschwinden auch die Probleme und die Spannungen, einerseits hat Saudi-Arabien gewissermaßen die Wahabi-Waffe niedergelegt, andererseits wird sie in Syrien und Irak und anderswo eingesetzt. Und der Iran hat ihm die Sicherheitsgarantien gegeben, sodaß wir kein JCPOA (das ist das Atomabkommen) mehr benötigen, wenn die Golfstaaten mit ihren gegenseitigen Sicherheitsgarantien zufrieden sind.
Und vergessen Sie eines auch nicht: Obwohl die Überschrift „Chinas Vermittlung“ lautet, steht hinter uns auch Rußland, also haben wir zwei große Partner, wenn Sie so wollen, die diese Vermittlung garantieren, also denke ich, daß sie funktionieren wird.
NAPOLITANO: Alastair, die amerikanische Regierung dämonisiert weiterhin Putin. Der Präsident spricht selbst ständig in dem Ton, aber auch hohe Beamte, und indirekt Ihre ehemaligen Freunde im MI6 und in der CIA und deren Freunde in der Presse. Alle sind damit beschäftigt, weiterhin Präsident Putin persönlich zu dämonisieren, um Rußland zu verteufeln, China zu verteufeln, Präsident Xi zu verteufeln.
Sicher wissen Sie noch, daß vor einem Monat halb Amerika an einem dreitägigen Wochenende in den Himmel geguckt hat, um zu sehen, ob sie einen chinesischen Ballon finden könnten … ja, den der Präsident der Vereinigten Staaten kaum erwarten konnte, bis er über dem Meer war, damit sie ihn abschießen und wieder Präsident Xi dämonisieren konnten. Das klingt für mich, als ob die Amerikaner, also 330 Millionen Menschen, durch die miserable politische Führung und die antiquierte, stereotype amerikanische Denkweise von der Neuen Weltordnung ausgeschlossen sein werden.
CROOKE: Wissen Sie, das ist eine so gefährliche Situation, ich meine, meine ganze Karriere, mein ganzes Leben lang habe ich versucht, die Kanäle offen zu halten, selbst wenn es sich um Kanäle zu Leuten handelte, die meine eigenen Leute nicht besonders mögen. Denn man weiß nie, wann man diese Kanäle braucht – also ist es wichtig, daß sie offenbleiben. Es ist nicht immer möglich, sie einfach in fünf Minuten zu öffnen, wenn man sie braucht, das braucht Vorbereitung.
Besonders in der islamischen Welt kann man nicht einfach hingehen und sagen, okay, wir kommen gleich zur Sache, so: was wollt Ihr, das wollen wir, laßt uns ein Geschäft machen. So funktioniert das nicht, und deshalb müssen die Kanäle offen sein, und ich bin bestürzt, wie es gegenwärtig gehandhabt wird.
Ich habe vor nicht allzu langer Zeit mit dem stellvertretenden Verteidigungsminister Rußlands gesprochen, als ich dort war. Und ich sagte, wissen Sie, alle Kanäle sind weg, Sie haben keine offenen Gesprächskanäle mehr. Praktisch alle sind aufgegeben worden, außer einer Videoverbindung mit dem Pentagon, aber die dient hauptsächlich taktischen Deeskalationszwecken. Wir haben keine zuverlässigen Kontakte mehr. Wir haben keine Leute, die Diplomatie betreiben können. Selbst auf dem Höhepunkt des Vietnamkriegs (einem weiteren von Amerika angezettelten Desaster), hatten das Pentagon und das Außenministerium offene Kommunikationskanäle mit dem Kreml und nutzten sie regelmäßig.
Jetzt scheint es so, daß es (außer um sicherzustellen, daß es nicht zu einem versehentlichen Gewaltakt wie über dem Schwarzen Meer kommt) keine regelmäßige Kommunikation zwischen Washington und Moskau stattfindet. Das ist entweder ein Spiegelbild der Persönlichkeit von Präsident Biden, oder es sind zumindest persönliche Unzulänglichkeiten. Ein harter Kerl in der Außenpolitik will er sein … und er schickt Victoria Nuland vor, die Nummer zwei oder drei im Außenministerium, um zu sagen: Wir werden die Russen von der Krim vertreiben. Nun, das wäre so, als würde Putin sagen: Wir werden die Amerikaner aus New Mexico abziehen, ich meine, das ist einfach verrückt, solche Aussagen zu machen.
Die Chinesen sind an Harmonie und Wohlstand interessiert, und wir behaupten, daß sie die Amerikaner ausspionieren, obwohl natürlich in Wirklichkeit die amerikanische Regierung selbst der effektivste Spion der Amerikaner ist.
Ich denke, es ist ernster, wirklich, ich denke, wir haben es mit einem tiefen philosophischen Problem in den Kreisen um das Weiße Haus zu tun. Denn sie denken nicht nur, daß sie eine bestimmte Weltanschauung durchsetzen wollen, sondern sie denken, daß alles, was dieser entgegensteht, einfach inakzeptabel ist. Und um diese neue Welt, die sie anstreben, zu schaffen, müssen andere Kulturen als inakzeptabel eliminiert werden. Deshalb denke ich, wissen Sie, diese Ansichten machen es eigentlich unmöglich zu verhandeln.
Vor langer Zeit, als ich mit der IRA verhandelte, war ich naiv genug, die Vertreter der IRA in einen Raum mit den protestantischen Militärführern zu bringen, und wir dachten, das würde ein Erfolg sein. Es war ein Desaster. Es bestätigte nur die schlimmsten Erwartungen, und wir brauchten vier weitere Jahre der sorgfältigen Vorbereitung, bevor wir an den Punkt gelangten, an dem es möglich war, Politik zwischen den beiden Gruppen zu machen.
NAPOLITANO: Als Präsident Xi letzte Woche Moskau besuchte, sehr pompös und vor den Augen der Welt, war das ein Besuch, der von der Presse verfolgt wurde. Da hat er, wie wir alle wissen, öffentlich einen Waffenstillstand in der Ukraine vorgeschlagen. Er sprach das vor Präsident Putin aus, und er hätte so etwas nicht gesagt, ohne daß die Diplomaten sich nicht vorher darauf geeinigt hätten. Aber bevor er diese Erklärung überhaupt veröffentlichte, möchte ich Ihnen zeigen, was Admiral Kirby, der offizielle Sprecher des amerikanischen Nationalen Sicherheitsrates von Joe Biden, dazu sagte. Hören Sie sich das mal an.
Kirby: Wir wären besorgt, wenn das Ergebnis dieses Treffens eine Art Aufruf zum Waffenstillstand wäre. Für den Moment klingt ‚Waffenstillstand‘ gut. Aber eigentlich bestätigt er die Erfolge Rußlands vor Ort. Es nützt nur Rußland, wenn es einen Waffenstillstand gibt, ohne anzuerkennen, daß Rußland illegal in der Ukraine ist.
Journalist: Die Vereinigten Staaten werden also gegen den Waffenstillstand sein, und zwar aus Prinzip, oder weil er von China vorgeschlagen wurde?
Kirby: Ich denke, ich habe mich sehr klar ausgedrückt, daß es um das Prinzip eines Waffenstillstands geht, der im Grunde nur Rußlands Gewinne ratifizieren würde.
NAPOLITANO: Dieses Interview fand statt, bevor Präsident Xi seine Erklärung abgab. Der sehr kluge junge Mann, der das Interview geführt hat, ist ein Fernsehkommentator aus Peking, er brachte die Dinge direkt auf den Punkt. Admiral Kirby wollte natürlich wirklich nicht darauf eingehen, warum die Amerikaner gegen den Waffenstillstand sind. Und zwar gegen einen Waffenstillstand in einem Krieg, von dem sie aus Geheimdienstquellen wissen, von Ihren ehemaligen Kollegen, Alastair, daß die Ukrainer ihn nicht gewinnen können.
CROOKE: Das ist ein großes Rätsel, und es ist nicht so einfach zu beantworten. Sie können klar erkennen, daß sie diesen Krieg nicht gewinnen können. Und deshalb blockieren sie alles. Aus Moskaus Sicht hat es keinen Sinn, mit Zelenskij zu reden. Er kann sowieso nicht rausgeben, der einzige Gesprächspartner, mit dem es sich für Moskau lohnt zu reden, ist natürlich Washington.
Wenn Sie sich erinnern, vor einiger Zeit, im Dezember, hat Moskau ein Papier mit all seinen Forderungen, also seinen Sicherheitsbedürfnissen, veröffentlicht und gesagt, wir müssen über eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa sprechen. Wir fordern den Rückzug der NATO von unseren Grenzen. Nun, das stand nicht so direkt in dem Papier, aber nur mit Zelenskij zu sprechen reicht nicht aus.
Moskau hat auch keinerlei Appetit darauf, mit Europäern wie Scholz oder Macron zu verhandeln, das steht völlig außer Frage. Aber immerhin reden sie, wir haben die Bestätigung, daß die Ukraine zwischen Putin und Macron ausführlich besprochen wurde, als sie sich in Moskau trafen.
Aber die Bedingungen sind noch nicht erfüllt. Ich denke, die Bedingungen könnten bald erfüllt sein, denn was ich in Afghanistan gesehen habe, kann irgendwann auch in der Ukraine passieren. Das ist einfach: Das Zentrum Kiew wird implodieren, so wie Moskau ganz ähnlich „implodiert“ ist, während des Afghanistankriegs. Plötzlich hört einfach alles auf. Ich meine, ich war dort und plötzlich waren die sowjetischen Soldaten in der Basis, sie verließen die Basis nicht mehr, alles kam zum Stillstand. Ich denke, wir nähern uns diesem Punkt der Entropie in finanzieller Hinsicht und was die Anzahl der Männer angeht, die für diesen Konflikt zur Verfügung stehen. Die Logistik und all diese Dinge deuten darauf hin, daß das Ende des Konflikts nicht mit Washington verhandelt werden wird, sondern die ganze Sache einfach in Entropie zerfällt.
Was dann passieren wird, wird kompliziert und schwer vorhersehbar sein. Ich meine, wenn das eben Gesagte zum Beispiel passieren würde und wir hätten ein Kiew, das sich in einer Art Chaos befindet, politischem Chaos, vielleicht Putsch und Gegenputsch innerhalb des Regimes dort – was würde passieren? Nun, die Russen haben, glaube ich, absolut nicht den Wunsch, Kiew militärisch zu erobern, aber wenn einfach offenes Chaos ausbräche, denke ich, würden sie sich verpflichtet fühlen, eine Art von bewaffneter friedenserhaltender Truppe zu schicken. Ordnung zu schaffen und eine Art Kontrolle zu erlangen, und um eine neue Regierung in der Ukraine zu ermöglichen, so schnell wie möglich.
Ob sie darüber hinausgehen oder nicht, wer weiß, sie sind sehr gut darin, ihre Absichten zu verbergen, ihre militärischen Absichten.
(Der Schluß des Interviews dreht sich um Taiwan und um die Lage in Israel und kann hier ab Minute 17:27 nachgehört werden.)
Rheinlaender
Die Distanz, die Crooke gegenüber der US-amerikanischen Verbindung aus politischem Moralismus und militärischem Interventionismus zeigt, wäre auch gegenüber Russland und China angebracht. Auf chinesischer Seite nur ein Interesse an "Harmonie und Wohlstand" zu sehen, wirkt z.B. naiv. Deutsche Unternehmen machen seit Jahren die Erfahrung, dass die chinesische Seite beim Streben nach Maximierung ihres Wohlstands durchaus zu unharmonischen Mitteln greift. Crooke geht in seiner scheinbar nur gegenüber den USA vorgebrachten Kritik am politischen Moralismus zudem nicht weit genug. Im globalen Ringen der Mächte stehen sich gleichermaßen amoralische Akteure gegenüber. Crooke klingt wie die linken Romantiker der 1970er-Jahre, die ihre moralistischen Wunschvorstellungen auf diverse revolutionäre Drittwelt-Bewegungen projizierten.