Der Großraum ist der Vorgänger der Multipolarität. Mit der multipolaren Ordnung setzen asiatische Mächte nach dem Kalten Krieg der Unipolarität ein eigenes Konzept entgegen. Mit der Großraumordnung formulierte der Staatsrechtler Carl Schmitt am Vorabend des Zweiten Weltkrieges ein Gegenkonzept zum angelsächsischen Universalismus. Beide Konzepte sind strukturgleich und unterscheiden sich nur durch die Lage und die tragenden Akteure.
Deutschland gehört eigentlich nicht zum Westen. Es ist einen Sonderweg gegangen. Das Bürgertum ging ein Bündnis mit dem Adel ein, wodurch die wirtschaftliche Funktion der Gewaltfunktion untergeordnet wurde. Der Staat nahm die Revolution von oben vorweg, bevor sie das Bürgertum von unten begehen konnte. Die Zivilreligion der Menschenrechte, wie sie in der Französischen Revolution zum Ausdruck kam, macht den westlichen Weg aus. Sie hat sich durchgesetzt und bestimmt die Ideologie der Unipolarität und des Globalismus.
Nur Deutschland kann in Europa den Polsprung zur Multipolarität vollziehen. Gedankenspiele über Multipolarität mögen im nationalen Maßstab noch Glasperlenspiele sein, im globalen Ausmaß sind sie Machtspiele. Ob Europa unipolares Anhängsel der Vereinigten Staaten von Amerika bleibt oder Pol in der multipolaren Welt wird, hängt auch vom völkerrechtlichen Umfeld der Zukunft ab. Wie gestalten die Mächte um uns herum Krieg und Frieden, wie Handelsverträge? Wenn die multipolare Welt kommt, dann steigt auch die Anziehungskraft der Multipolarität auf Europa.
Die großen Völker Europas befinden sich in je eigenen begrifflichen und räumlichen Zusammenhängen. Frankreichs hegemonialer Diskurs ist das »Europa der Vaterländer« oder Nationen. Damit meinte Charles de Gaulle, daß Frankreichs Präsident die Befehlsgewalt über seine eigenen Nuklearstreitkräfte haben muß. Er verließ 1966 nach langen Auseinandersetzungen die integrierte Kommandostruktur der NATO, damit Frankreich »die Ausübung der vollkommenen Souveränität über sein Territorium« zurückerlange, wie er US-Präsident Lyndon B. Johnson mitteilte. Erst 2009 unter Sarkozy verkleinerte sich die Grande Nation wieder zum Vollmitglied der NATO.
Die deutsche Nation fand ihre Bestimmung im Reich, das Heilige Römische Reich besagt es schon im Namen. Der Traum von der Nation im engeren Sinn kam in den Befreiungskriegen auf, war aber schnell ausgeträumt. Denn das revolutionäre Frankreich, die Nation par excellence, ließ sich nur durch eine europäische Allianz der Monarchen besiegen, freilich unter Mithilfe von Landwehr und Landsturm. Diese kriegerische Zusammenarbeit schweißte Bürgertum und Adel zusammen, wie die Freundschaft zwischen Ernst Moritz Arndt und dem Freiherrn vom Stein beispielhaft bezeugt. Die Heilige Allianz nach dem Wiener Kongreß war mehr als ein Bündnis von Nationalstaaten, sie war ein Raum. Ein Warteraum der Revolution.
Europas Ordnung beruhte von der Wiener Kongreßakte 1815 bis zu Bismarcks zweitem Einigungskrieg 1866 darauf, daß die Großmächte nicht Krieg gegeneinander führten, sondern miteinander gegen die Revolution. Im 19. Jahrhundert war das Bewußtsein dafür wach, daß der Sieg der Revolution mit einem großen europäischen Krieg kommen könnte. Dieses Bewußtsein schlief im Imperialismus zur Jahrhundertwende ein. Die Nationen traten zueinander ungebremst in Konkurrenz, die deutschen Imperialisten orientierten sich am Empire. Wie sich das britische Mutterland mit den Kolonien zum Greater Britain vereinigen wollte, so faßte das imperialistische Bürgertum die Idee des »Alldeutschen«.
Alldeutsche, das sollten die Deutschen in Deutschland, im Ausland und in den Kolonien sein, vorgestellt als imperiales Volk. Gemeinsam mit dem Deutschen Flottenverein warb der Alldeutsche Verband für eine Flotte, die es mit der britischen Flotte aufnehmen könnte. Das Ende ist bekannt. Das Deutsche Reich verlor auf dem Kontinent einen Verbündeten nach dem anderen, im Ersten Weltkrieg wurde es von der britischen Flotte mit Fernblockade belegt. Die Vergrößerung der Flotte war für Deutschland damals sicherlich ebenso notwendig wie heute für China, die Orientierung an Großbritannien ist aber eine Daseinsverfehlung gewesen.
Der Weltpolitik den Vorrang vor der Kontinentalpolitik zu geben, das war der Fehler der Ära nach Bismarck. Europa verlor sein Gleichgewicht und taumelte in den Krieg. Aber selbst die Alldeutschen hatten bei ihrer deutschen Weltpolitik zuerst den Kontinent im Blick und dann erst die fernen Ozeane. Ihr Ziel war eine Erweiterung des Deutschen Zollvereins auf Mitteleuropa – ein Großraum also. Die Nation als Rückzugsort hat in Deutschland keinen Boden. Deshalb ist der »Dexit« heute auch keine Antwort auf die europäische Frage.
Nach dem Ersten Weltkrieg war es mit dem alten europäischen Völkerrecht vollends vorbei. Früher war zwischen Europa und den Kolonien säuberlich getrennt worden. In den Kolonien durften sich die europäischen Staaten bekriegen, während sie sich in Europa im Frieden befanden. Oder umgekehrt. Souveränität war vor allem das Recht, sich gegenseitig den Krieg zu erklären. Jetzt wurde der Krieg als Angriffskrieg geächtet. Mit dem ius ad bellum entfiel auch die Souveränität, sie löste sich im Völkerbund zur bloßen Fiktion einer Welt von fünfzig souveränen Nationalstaaten auf, frühere Kolonien inklusive.
Carl Schmitt zufolge kann es ein Völkerrecht der Souveränität aller Staaten gar nicht geben. Souveränität ist nur auf dem Hintergrund von Nichtsouveränität möglich. Der fiktiven Staatlichkeit setzt Schmitt den effektiven Großraum entgegen, der größer ist als ein Staat, aber kleiner als die Welt. 1962 gibt er für die Zeit nach dem Kalten Krieg Ausblick auf eine Welt der Großräume, »die ein Gleichgewicht in der Welt schaffen und auf diese Weise die Vorbedingung für eine stabile Friedensordnung« seien. Ist die Europäische Union von heute ein Großraum im Sinne Carl Schmitts?
Das erste Merkmal des Großraums: Er konstituiert sich nicht im Völkerrecht, sondern in der Wirtschaft. Der Großraumordnung geht die Großraumwirtschaft voraus. Energie ist dafür maßgeblich. Um die vorletzte Jahrhundertwende entstanden Großkraftwerke und Überlandzentren, Elektrifizierung und Gasfernversorgung verbanden mit ihren Strom- und Rohrnetzen planmäßig großräumige Gebiete. Kleinere wirtschaftliche Einheiten schlossen sich zur größeren Einheit zusammen. Verbundwirtschaft ist das Schlagwort.
Großraumdenken rettete sich aus dem Wilhelminismus in die Weimarer Republik. Unter Reichskanzler Brüning dachte Reichsminister Gottfried Treviranus die mitteleuropäische Großraumwirtschaft unter deutscher Vorherrschaft als Weg zur europäischen Einheit zu Ende. Im Übergang von der Weimarer Republik zum Dritten Reich arbeitete Hans Ernst Posse im Reichswirtschaftsministerium ein Großraumkonzept aus. Durch Importlenkung, Exportförderung und Bilateralismus sollte Deutschland über die ökonomische Struktur seiner Handelspartner im Südosten bestimmen. Kern dieser Politik: die Überbewertung der eigenen Währung.
Nach den Weltkriegen wurde die Europäische Union so eingefädelt, daß eine deutsche Hegemonie über Europa unmöglich war. Mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl erhielt eine überstaatliche Organisation 1951 die Hoheit über die Produktion kriegswichtiger Güter. Die Montanunion war nichtsdestoweniger ein Kind Frankreichs, Außenminister Robert Schuman hatte die Zusammenlegung der deutschen und der französischen Kohle- und Stahlindustrie in seinem Plan vorgesehen. Bundeskanzler Adenauer stimmte als guter Katholik zu. Damit hatte Deutschland nicht nur die Hoheit über seine kriegswichtigen Industrien verloren. Die Schwerindustrie, Träger des deutschen Imperialismus und Hort der bürgerlichen Reaktion, war politisch neutralisiert wie das vormals aristokratisch-ständische Militär durch das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform.
Das Strategem der hohen Währungsbewertung bestand aber noch Jahrzehnte fort. Im System von Bretton Woods waren alle teilnehmenden Länder zu festen Wechselkursen zum US-Dollar verpflichtet. Die Federal Reserve mußte den Dollar an Gold binden. Wegen ihrer imperialistischen Politik konnten die USA die Goldparität aber nicht lange aufrechterhalten. Ihr Leistungsbilanzdefizit exportierten sie immer weiter in die Welt, wo der Dollar als Petrodollar waffenbewehrt daherkam.
Ein Jahr vor dem Zusammenbruch von Bretton Woods schlossen sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft 1972 zum Europäischen Wechselkursverbund zusammen, 1979 dann zum Europäischen Währungssystem. Die Wechselkurse waren freigegeben, aber die Bandbreitenregelung verhinderte zu große Abweichungen der Währungen voneinander. So waren die übrigen europäischen Währungen mittelbar an die D‑Mark gebunden und dadurch in der Möglichkeit zur Abwertung und Inflationierung beschränkt. Der Grundsatz der Währungsstabilität wurde beseitigt, als François Mitterrand dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl angeblich als Gegenleistung für die deutsche Einheit die Zustimmung zum Euro abrang. Als guter Patriot stimmte Kohl zu.
Was macht der Euro? Er begünstigt Exporte und erschwert Ersparnisse. Darüber hinaus hemmt er deutsche Hegemonialpolitik. Exportiert hat Deutschland mit starker Währung auch und besser. Der Euro verunmöglicht Deutschland, wie China in seinem Ausstrahlungsraum entlang der Neuen Seidenstraße durch Kreditvergabe und Strukturpolitik Länder an sich zu binden, wirtschaftliche Stärke in politische Stärke umzuwandeln. Target2-Salden verschieben Forderungen ins Virtuelle und verhindern, daß aus Exporten Abhängigkeiten entstehen. Deutschland zahlt für seine Exporte in den Euro-Raum selbst, die Abhängigkeiten gehen aufs Konto des Bankensystems.
Und nicht nur das. Das Euro-System gibt der EU eine machtökonomische Basis, die in der Finanz- und nicht in der Energiewirtschaft liegt. Während das Netz der Gas- und Ölleitungen die europäischen Länder in einem Leistungsraum mit den östlichen Nachbarn auf dem Kontinent verortet, entortet die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank durch ihre Ausrichtung auf das Fiat-Money-System der Federal Reserve sie in die virtuelle Welt der Zahlenschiebereien. Ungedeckte Währung ist der Unterbau des postmodernen Überbaus. Signifikant und Signifikat sind im Geldsystem ebenso getrennt wie im Sozialen, wo eine »Frau« ebensowenig Frau zu sein braucht wie ein »Italiener« Italiener.
Die Zweitrangigkeit hinter Frankreich hindert Deutschland daran, Hegemon der EU zu sein. Aber sie hindert Europa nicht daran, Großraum zu werden. Der Großraum entsteht aus der Großraumwirtschaft. Deshalb ist die ökonomische, zunächst unpolitische Eigenart der EU mit ihrem Integrationsmodell auch kein Hindernis. Das Übergewicht der Finanzwirtschaft ist es, das einer Großräumigkeit entgegensteht. Aber die Lage ändert sich auch hier.
Die USA lassen den Petrodollar fallen, um den nächsten Sprung in die Virtualität zu tätigen, während China den Renminbi im Energiehandel stärkt. Rußland und China handeln Gas in Renminbi-Yuan und Rubel. Rosneft plaziert eine Anleihe über 15 Milliarden Yuan. China verhandelt mit Saudi-Arabien über Zahlungen für Öl in Renminbi, Indien will russisches Öl mit Rupien bezahlen. China und Rußland stocken ihre Goldreserven auf. Die Frage lautet nicht mehr: Wie schwer lastet der Euro auf dem Geldbeutel eines vaterlandslosen Bürgertums? Sie lautet: Welche Währung erlaubt Europa im Fall eines Machtverlusts der USA, in einem Leistungsraum der Energie verortende Machtpolitik zu betreiben?
Als Wirtschaftsraum mit supranationalen, aber regionalen Behörden kann die Europäische Union Großraum sein, ist es aber nicht. Sie muß den Weg zur Multipolarität finden, soll Europa Europa bleiben. Künftig halten Zivilisationsstaaten den Globalismus auf. Mal fallen sie mit einem Nationalstaat zusammen, mal nicht. Ein Staat, dessen Macht nicht über seine Grenzen hinausgeht, wird in der Welt von morgen nichts zu melden haben. Deshalb kommt auch die Verschweizerung für Deutschland nicht in Frage. Sie steht uns nicht offen, weil eine frühere Hegemonialmacht kleinere Freiräume hat und größere Aufgaben.
Das zentrale Kriterium des Großraums ist für Carl Schmitt das Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Er bezeichnet seine Großraumordnung als europäische Monroe-Doktrin. Am 2. Dezember 1823 verkündete US-Präsident James Monroe vor dem Kongreß die Doktrin, nach der sich die USA fortan Einmischungen von seiten der östlichen Hemisphäre in die westliche Hemisphäre verbaten. Schmitt nennt sie »das erste und das bisher erfolgreichste Beispiel eines völkerrechtlichen Großraumprinzips.« Erst um die Jahrhundertwende hätten amerikanische Präsidenten und Denker das Prinzip universalistisch gefälscht, als Interventionsrecht oder Weltdoktrin für die Völker.
In seinem Aufsatz »Raum und Großraum im Völkerrecht« stellt Carl Schmitt die USA vor die Alternative Großraum oder Universalismus. Sein Ausblick geht in Richtung einer »translatio Imperii Britannici«, wie sie letztlich ja stattfinden sollte. Im Zeichen der US-Intervention stand die völkerrechtliche Ordnung der Nachkriegszeit. Die USA hielten Truppen in Europa stationiert. Laut Artikel 5 des NATO-Vertrags galt für den Fall eines bewaffneten Angriffs auf einen NATO-Mitgliedstaat der Bündnisfall. 1950 gründeten die NATO-Staaten die integrierte Kommandostruktur, 1954 unterstellten sie die Streitkräfte des Alliierten Kommandos in Europa dem Obersten Alliierten Befehlshaber Europa (SACEUR), der im Kriegsfall auch das Kommando über die deutschen Streitkräfte übernommen hätte. Dieser SACEUR war immer US-Amerikaner.
Die NATO ist weniger Verteidigungsbündnis als Vorwand zur Sicherung der US-Hegemonie über Europa. Diese Hegemonie verleibt Europa der westlichen Hemisphäre ein. Sie sichert Mittelosteuropa als Basis, um auf dem Weg zur unipolaren Welt nach Rußland ins Herzland des eurasischen Kontinents und weiter nach Asien vorzustoßen. Der Imperialismus hat niemals aufgehört, er wurde nur zugunsten einer bipolaren Konfrontation zwischendurch entschieden. Seit Ende des Kalten Krieges geht es um die Frage: ein Imperium oder mehrere?
Die USA standen Pate an der Wiege der Europäischen Union. Das Amerikanische Komitee für ein vereintes Europa war eine Veranstaltung der US-Geheimdienste. Geschäftsführer war William J. Donovan, zuvor Geheimdienstkoordinator von Franklin D. Roosevelt und Chef des Kriegsgeheimdiensts OSS, sein Stellvertreter war der CIA-Chef Allen Welsh Dulles. Mit Geldern der Ford- und der Rockefeller-Stiftung förderte das Komitee die Europäische Bewegung und drängte die Empfängerstaaten des Marshallplans dazu, den Europarat zu gründen und eine Verfassung für die Vereinigten Staaten von Europa auszuarbeiten.
Die Europäische Union hat das Interventionsprinzip aber nicht in ihre Verträge aufgenommen. Sie kennt seit dem Lissabon-Vertrag von 2007 zwar eine eigene Beistandsverpflichtung. Dieser EU-Bündnisfall begründet aber nur eine Intervention im eigenen Raum, er könnte so auch im Großraum gelten. Allerdings steht weiter unten, daß die Verpflichtungen der NATO für die EU-Mitgliedstaaten »weiterhin das Fundament ihrer kollektiven Verteidigung und das Instrument für deren Verwirklichung« bilden. Das ist kein Einbezug, sondern eine Abgrenzung. Für das Verhältnis zwischen EU und NATO gilt das Prinzip der Komplementarität. Beide Einrichtungen sollen sich ergänzen.
Seit 2009 hat die EU im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik erweiterte Kompetenzen für zivile und militärische Missionen. Angeblich dienen diese Missionen der Friedenssicherung und der Konfliktverhütung. Tatsächlich flankieren sie die Politik der USA oder dienen wie in Mali dem Interesse Frankreichs. Rechtsstaat, Zivilgesellschaft, immer wieder stellt man sich äußere Räume vor wie die inneren. Immer wieder verkennt man den eigenen Raum, indem man den äußeren Raum als Fremdes leugnet.
Die NATO liefert den Teil, dessen die EU entbehrt: das Politische, die Entscheidung über Krieg und Frieden. Nimmt man die NATO weg, geht der EU nichts verloren. Sie gewinnt nur die Aufgabe, die Verteidigung Europas in die eigenen Hände zu nehmen. Im Handumdrehen ließe sich aus der EU ein Großraum mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte machen, wenn der Wille dazu vorhanden wäre. Einen europäischen Willen gibt es aber derzeit nicht.
Das dritte Merkmal des Großraums: Er hat einen Hegemon oder Pol. Carl Schmitt nennt ihn das Reich: »Reiche in diesem Sinne sind die führenden und tragenden Mächte, deren politische Idee in einen bestimmten Großraum ausstrahlt und die für diesen Großraum die Interventionen fremdräumiger Mächte grundsätzlich ausschließen.« Diese politische Idee ist nicht beliebig auffüllbar. Sie bestimmt, ob sich ein Volk auf die Seite der Revolution und des Bösen oder auf die Seite der Reaktion und des Guten stellt. So ist es zu verstehen, wenn Carl Schmitt als Beispiele für den deutschen Sprachgebrauch scheinbar beiläufig »Reich des Guten und des Bösen, Reich des Lichtes und Reich der Finsternis« anführt.
Präsident Monroe ging es nicht nur darum, seine Ruhe zu haben. Es ging ihm um die Sicherung einer bestimmten politischen Existenz. Carl Schmitt sagt: »Die echte und ursprüngliche Monroedoktrin hatte als Gegendoktrin das monarchistisch-dynastische Legitimitätsprinzip im Auge.« Von der legitimen Monarchie als Standard der völkerrechtlichen Ordnung ausgehend, hatte schon Friedrich Gentz ein Recht der Monarchen auf Intervention im revolutionären Frankreich formuliert. Ein solches Interventionsrecht beanspruchte die Heilige Allianz dann in Spanien und Italien. Die Lage der Monroe-Doktrin: Rußland, die Vormacht dieser Allianz, wollte den Norden Amerikas kolonisieren. Genau dagegen richtete sich das Interventionsverbot.
Der Gegensatz zwischen abwehrender und intervenierender Macht ist also von Anfang an ein Systemgegensatz. Systemgegensätze sind aber nach Alexandre Kojève und Francis Fukuyama das einzige, was das Ende der Geschichte aufhält. Der Großraum hält das Ende auf, indem er die Differenz erhält. Dieses »katechontische«, aufhalterische Moment hat der Großraum stillschweigend bei Carl Schmitt. Sein Motto lautet, wie er 1971 im Gespräch offen aussprach: »Solange das Imperium da ist, so lange geht die Welt nicht unter.«
Den Systemgegensatz seiner Zeit faßt Schmitt als den zwischen Großraum und Universalismus. Weil der Universalismus nicht vom Raum her gedacht ist, beinhaltet er »ein die ganze Erde und Menschheit umfassendes universalistisches Weltprinzip« und »Welt-Einmischungsprinzip«. Er kennt keine Völker, sein sogenannter Minderheitenschutz zielt auf Individuen. US-Präsidenten wie Roosevelt oder Wilson wollten »eine raum- und grenzenlose Ausdehnung liberaldemokratischer Prinzipien auf die ganze Erde und die ganze Menschheit«. In der Geschichtstheorie treffen sich Schmitt und Fukuyama unter umgekehrten Vorzeichen. Fukuyama will, daß die Geschichte aufhört, Schmitt, daß sie weitergeht. Die politische Idee, die er meint, ist das Volksgruppenrecht, das als »ein deutsches Schutzrecht für die deutschen Volksgruppen fremder Staatsangehörigkeit« gefaßt worden sei.
Was ist die Idee der EU? In Artikel 3 des Lissaboner Vertrags steht: »Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.« Klingt soweit gut. Diese Werte sind in Artikel 2 bestimmt als »Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern«. Seit der Jahrtausendwende verbreitet sich der Grundsatz der Antidiskriminierung über Europa. Über Richtlinien hat er Eingang in die Gesetzgebung gefunden. Antidiskriminierung bedeutet: Das Verbot der Diskriminierung ethnischer oder sexueller Minderheiten richtet sich nicht mehr zuerst als Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat, sondern gilt als Verhaltensrichtlinie im Verkehr der Bürger untereinander.
Diese Zivilreligion breitet sich auf immer weitere Bereiche des Privatlebens aus. Und sie ist leitend für die Migrationspolitik, die mit Zuwanderung aus fremden Räumen das Gesicht Europas verändert. Mittlerweile werden diese Werte – auch sie Importware aus den USA – mit Hilfe der sogenannten Zivilgesellschaft total durchgesetzt, ein Zuwiderhandeln wird unterhalb der Strafbarkeitsschwelle verfolgt. Als »Wokeness« kommen die Werte im Kostüm gnostischer Aufgewecktheit daher. Tatsächlich markieren sie den Tiefschlaf der Wahrheit, weil sie Dinge mit Namen bezeichnen, die ihrem Wesen unangemessen sind. Mit Multipolarität sind sie unvereinbar. Die Pole der multipolaren Ordnung zeichnen sich dadurch aus, daß sie den Werten die Prinzipien und die Rechtsgrundsätze ihrer partikularen Tradition entgegensetzen.
An dieser Stelle steht die Europäische Union am deutlichsten im Widerspruch zur Großräumigkeit. Europa soll nur noch mit Staaten und Regionen Handel treiben, die westliche Werte teilen. Diese Werte leiten nicht nur das Verhalten der Bürger im Inneren an. Sie schränken auch nach außen den Handel und die Beziehungen zu anderen Großräumen ein. Somit projizieren sie ein Sanktionsregime auf den gesamten Welthandel. Handelsabkommen stehen unter Wertevorbehalt. Das Sanktionsregime wird künftig weiter zum Verhaltensregularium für Staaten im Weltbürgerkrieg ausgebaut werden. Indem es autoritäre, also stark regierte Staaten ökonomisch abstraft, zerteilt es die Weltwirtschaft.
Die Wertereligion ist militärisch abgesichert in der neuen NATO-Strategie. Dort wird der Systemgegensatz zwischen Unipolarität und Multipolarität deutlich benannt als der zwischen westlichen Werten und Autoritarismus. Zum Feind erklärt sind in erster Linie Rußland und China. Aber auch Staaten wie Ungarn oder Polen können jederzeit von der Feinderklärung erfaßt werden. Als Sozialpunktesystem für Regierungschefs kommen westliche Werte auch im Innern der EU zur Anwendung. Je weiter uns der Systemgegensatz zwischen Werten und Autorität aufgezwungen wird, um so breiter wird sich die Gegnerschaft formieren. Im Rat der Regierungschefs sind die Verhältnisse längst günstiger als in Deutschland. Der Rat hat ein europäisches Asylsystem verhindert, das auf Zwangsumverteilung von Zuwanderern beruht. Im Deutschen Bundestag gäbe es für einen Zuwanderungsstopp keine Mehrheit.
Das Problem in Europa sind die Machtverhältnisse. Das Problem ist eine Zivilreligion, die Deutschland eingepflanzt wurde und sich dann zur Umerziehung Europas auswuchs. Warum sollen ausgerechnet die Deutschen, die Nation im größtmöglichen Zustand mentaler Selbstverleugnung, dazu in der Lage sein, die Wende zur Multipolarität herbeizuführen? Weil es sonst niemand kann. Und weil der deutsche Sonderweg hierzulande verschlossen und nur auf dem Umweg über Europa womöglich erreichbar ist. Deutschland ist da, wo um es gerungen wird.
Entsteht eine multipolare Ordnung, ob als Gleichgewicht gleichberechtigter Pole oder als Mosaik im Schatten einer neuen Bipolarität, werden bloße Nationalstaaten zum Spielball des einen oder anderen Hegemonen. Wenn sie keine Zivilisation hinter sich versammeln, sind Nationalstaaten zu schwach, um sich im Völkerrecht der Multipolarität zu behaupten. Europa muß zum Pol einer multipolaren Ordnung umgebildet werden. Ob die EU diese Umbildung aushält oder nicht, das kann nur der Fortgang der Geschichte zeigen. Die politische Idee, die über Europa auszustrahlen hat, ist der Wiederaufstieg der europäischen Völker in ihrer Eigenart. Was Europa an der Multipolarität hindert, das ist weniger die EU als die Tatsache, daß eine raumfremde bzw. extrapolare Macht der Hegemon Europas ist.
Eine multipolare Ordnung besteht aus mehreren Großräumen. Nur durch gegenseitige Anerkennung wird Multipolarität zur völkerrechtlichen Ordnung mit objektiver Geltung. Dazu braucht es ein Gremium, in dem die Pole der multipolaren Weltordnung ihre Politik unter einem Dach koordinieren, die Verhältnisse zwischen den Staaten und den Polen ausgestalten. Dieses Gremium existiert. Die G20 bilden heute den Systemgegensatz der multipolaren Ordnung gegen die globalistische Unipolarität der G7. Multipolarität bedeutet Mut zur Wahrheit und Bereitschaft zur Konsequenz. Europa muß umgepolt werden!