Karte und Gebiet

PDF der Druckfassung aus Sezession 110/ Oktober 2022

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Michel Hou­el­le­becqs Roman Kar­te und Gebiet erschien 2011 und ist viel­leicht sein bes­tes Buch. Für unse­ren Zusam­men­hang ist das ers­te Vier­tel wichtig.

Hou­el­le­becq beschreibt dar­in, wie der Künst­ler Jed Mar­tin beim Anblick einer Miche­lin-Depar­te­ment-Kar­te eine »ästhe­ti­sche Offen­ba­rung« erfährt. Er nimmt die­se Kar­te als etwas Erha­be­nes wahr: »Die Quint­essenz der Moder­ne, der wis­sen­schaft­li­chen und tech­ni­schen Erfas­sung der Welt, war hier mit der Quint­essenz ani­ma­li­schen Lebens verschmolzen.«

Was Hou­el­le­becq damit meint, wird im Fort­gang deut­li­cher: »Die gra­fi­sche Dar­stel­lung war kom­plex und schön, von abso­lu­ter Klar­heit, und ver­wen­de­te nur eine begrenz­te Palet­te von Far­ben. Aber in jedem Ört­chen, jedem Dorf, das sei­ner Grö­ße ent­spre­chend dar­ge­stellt war, spür­te man das Herz­klop­fen, den Ruf Dut­zen­der Menschenleben.«

Jed Mar­tin erwirbt alle ver­füg­ba­ren Miche­lin-Kar­ten und fer­tigt mit bestimm­ten Bild­win­keln und Nach­be­rei­tungs­schrit­ten am Com­pu­ter Hun­der­te Auf­nah­men an, die sein Wahr­neh­mungs­er­leb­nis nach­voll­zieh­bar machen sol­len: Der Blick in die Kar­te spie­gelt, so er aus­rei­chend empa­thisch erfolgt, die Mög­lich­kei­ten des pul­sie­ren­den und viel­fäl­ti­gen Lebens im Raum und in sei­ner räum­li­chen Ver­net­zung wider.

Aber gleich­zei­tig ist der Blick in die Kar­te abs­tra­hie­ren­de Wahr­neh­mung, gewich­te­te Abs­trak­ti­on: Wel­ches Sträß­chen wird noch auf­ge­nom­men ins Kar­ten­bild? Wel­ches Bezie­hungs­netz wird über eine Regi­on gelegt, wel­che Beson­der­heit unter­schla­gen, wel­ches Raum­bild erstellt, wel­che Höhen­stu­fung geschieden?

Fein ist der Ein­fall ­Hou­el­le­becqs, nicht nur die Fas­zi­na­ti­on des Künst­lers und sei­nes Publi­kums zu beschrei­ben, son­dern auch die Arbeits­wei­se der Kunst­kri­tik, die zwi­schen Treff­si­cher­heit und Ori­gi­na­li­täts­zwang auf schma­lem Grat unter­wegs ist und genau des­we­gen die Tie­fen­di­men­si­on der Kar­ten-Kunst auf­schließt: Jed Mar­tin thro­ne über sei­nem Gegen­stand und habe inso­fern den Stand­punkt Got­tes ein­ge­nom­men, als er mit der Rekon­struk­ti­on der Welt befaßt sei. Und so habe er »zwi­schen der mys­ti­schen Ver­ei­ni­gung mit der Welt und der ratio­na­len Theo­lo­gie sei­ne Wahl getroffen.«

Ist das zuviel? Ist das zu dick auf­ge­tra­gen? Natür­lich ist es das, wo es nur um ästhe­tisch ver­blüf­fend gut auf­ge­nom­me­ne Kar­ten geht. Aber Hou­el­le­becq läßt Jed Mar­tin sei­ne gro­ße Miche­lin-Foto­aus­stel­lung unter dem genia­len Mot­to »Die Kar­te ist inter­es­san­ter als das Gebiet« eröff­nen, ver­an­schau­licht durch zwei Fotos des­sel­ben Mit­tel­ge­birgs­aus­schnitts, von denen das eine ein indif­fe­ren­tes Luft­bild ist, das ande­re der tie­fen­scharf foto­gra­fier­te Teil einer Kar­te. Hier ver­schwim­men­de Kon­tu­ren und unkla­re Bezü­ge, dort Redu­zie­rung auf das für Kar­ten­nut­zer Wesent­li­che – und dadurch Nutz­bar­ma­chung des Vor­han­de­nen; hier das amorph Wuchern­de und Aus­fran­sen­de von Natur, Leben, orga­ni­schem Über­gang, dort die Klar­heit in der Raum­an­ord­nung, das Frei­schnei­den der Kul­tur­land­schaft, die über der Natur liegt, vom Men­schen als Kul­tur­leis­tung erbracht und nun in Form von Kar­ten als Tri­umph­bil­der der eige­nen Schöp­fungs­kraft ausgebreitet.

Kar­ten sind Distan­zie­rungs­leis­tun­gen, sind Raum­auf­schlüs­se, sind Inbe­sitz­nah­men. Wer kar­tiert, erhebt sich und gewinnt Über­blick. Wer Kar­ten nutzt, akzep­tiert still­schwei­gend jene Ent­frem­dungs­leis­tung, die Arnold Geh­len als wesent­lich für den Men­schen erkann­te und beton­te und dem Marx­schen Ent­frem­dungs­ge­wäsch ent­ge­gen­stell­te: Der Mensch als sol­cher ist immer schon ein Sich-selbst-Ent­frem­den­der, inso­fern er die Natur über­formt, sich von ihr eman­zi­piert und dadurch ein Kul­tur­we­sen wird.

Daß die­se not­wen­di­ge Ent­frem­dung des Men­schen hin zur Frei­heit vom Amor­phen, Zufäl­li­gen, Unkal­ku­lier­ba­ren ihre Kehr­sei­te habe, daß die Kul­tur­leis­tung »Nut­zung« umschla­gen kön­ne in »Ver­nut­zung«, hat Geh­len mit­be­dacht. Viel­leicht so: Die Kar­te kann den Raum auf­schlie­ßen, sie kann ihn les­bar machen und ein erhe­ben­des Bild von ihm ver­mit­teln, das wir nie gewän­nen, wenn wir uns nicht ermächtigten.

Aber fragt mal einen, der bloß nach Navi fährt, wo im Rau­me Köln liegt oder Han­no­ver oder Löbau. Er wird es am Ende einer blau­en Linie ver­mu­ten, der er nach­fuhr, ohne in Jed Mar­tins Raum-Erre­gung gera­ten zu sein. Denn die Raum-Erschlie­ßung nahm ihm sein Kist­chen ab.

 

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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