Karl Haushofer und der »Mythos Geopolitik«

PDF der Druckfassung aus Sezession 110/ Oktober 2022

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Daß die Geo­po­li­tik in Deutsch­land bis heu­te mit einem Tabu belegt ist, hat mit ihrer Dop­pel­ge­sich­tig­keit zu tun. Von der Wort­be­deu­tung her, ist Geo­po­li­tik Bestand­teil jeder poli­ti­schen Ana­ly­se, weil die Beur­tei­lung der Lage ohne die geo­gra­phi­schen Fak­to­ren unvoll­stän­dig wäre.

Inso­fern hat sich das Tabu in der Wis­sen­schaft gelo­ckert, das in der Poli­tik aber wei­ter­hin Bestand hat. Denn hin­ter dem Wort Geo­po­li­tik ver­birgt sich noch etwas ande­res, eine kon­kre­te Ideo­lo­gie der Zwi­schen­kriegs­zeit näm­lich, deren Haupt­ver­tre­ter, Karl Haus­ho­fer, lan­ge in dem Ruf stand, Hit­lers Lebens­raum­idee und die dar­aus fol­gen­den Kon­se­quen­zen vor­be­rei­tet und begrün­det zu haben. (1)

Die­ser Miß­brauch der Geo­po­li­tik paß­te gut in das Kon­zept einer deut­schen Kon­ti­nui­tät des Mili­ta­ris­mus, dem ein Volk gehul­digt habe, das stän­dig danach trach­te­te, sei­ne Nach­barn zu unter­jo­chen. Es liegt aus die­sem Blick­win­kel nahe, unter der Geo­po­li­tik nur eine Ver­brä­mung nack­ten Hege­mo­ni­al­stre­bens zu ver­ste­hen. Der Krieg in der Ukrai­ne hat das Wort »Geo­po­li­tik« zwar wie­der hof­fä­hig gemacht, aller­dings bleibt Geo­po­li­tik hier­zu­lan­de etwas Anrü­chi­ges, weil man sich dar­an gewöhnt hat, die Paro­le vom Krieg für die Frei­heit zu glau­ben. Nach die­ser Auf­fas­sung haben nur Schur­ken­staa­ten eine geo­po­li­ti­sche Agen­da – was es für die Deut­schen zwin­gend macht, kei­ne zu haben.

Wer von Geo­po­li­tik redet, kann von Karl Haus­ho­fer nicht schwei­gen. (2) Denn sein Name ist, obwohl er den Begriff nicht erfun­den hat, mit der Geo­po­li­tik untrenn­bar ver­bun­den, und er hat ihm, gera­de weil er nicht aus der Wis­sen­schaft kam, einen beson­de­ren Inhalt gegeben.

Karl Haus­ho­fer, 1869 in Mün­chen gebo­ren, ent­stamm­te einer bil­dungs­bür­ger­li­chen Fami­lie (sein Vater war Pro­fes­sor für Staats­öko­no­mie und ein libe­ra­ler Poli­ti­ker), schlug aber die mili­tä­ri­sche Lauf­bahn ein. Er dien­te in der Artil­le­rie­trup­pe des bay­ri­schen Hee­res, durch­lief bis 1898 die Gene­ral­stabs­aus­bil­dung und lehr­te seit 1903 Kriegs­ge­schich­te an der Baye­ri­schen Kriegs­aka­de­mie in Mün­chen. Als eine Ver­wen­dung in der Pro­vinz droh­te, ent­schloß sich Haus­ho­fer, das Ange­bot anzu­neh­men, für eini­ge Zeit als Mili­tär­be­ob­ach­ter nach Japan zu gehen. Unter­stützt wur­de er dabei von sei­ner Frau, deren Vater für die not­wen­di­ge Finan­zie­rung sorgte.

Der Auf­ent­halt in Japan in den Jah­ren 1908 bis 1910 war für ­Haus­ho­fer der ent­schei­den­de Impuls, sich wis­sen­schaft­lich mit der Bezie­hung zwi­schen räum­li­chen Gege­ben­hei­ten und den poli­ti­schen Mög­lich­kei­ten zu befas­sen. (3) Haus­ho­fer zeig­te sich nach­hal­tig beein­druckt vom Auf­stieg des Japa­ni­schen Reichs unter Kai­ser Mutsu­hi­to, dem es gelang, Japan wirt­schaft­lich und mili­tä­risch in die Moder­ne zu führen.

Nach sei­ner Rück­kehr ver­öf­fent­lich­te er 1913 sein Buch Dai Nihon. Betrach­tun­gen über Groß-Japans Wehr­kraft, Welt­stel­lung und Zukunft und wur­de im Jahr dar­auf an der Uni­ver­si­tät Mün­chen über den »deut­schen Anteil an der geo­gra­phi­schen Erschlie­ßung Japans und des Sub­ja­pa­ni­schen Erd­raums« pro­mo­viert. Einer geplan­ten beruf­li­chen Neu­ori­en­tie­rung kam der Aus­bruch des Welt­kriegs zuvor, den Haus­ho­fer in ver­schie­de­nen Ver­wen­dun­gen mit­mach­te, bevor er 1919 sei­nen Abschied als Gene­ral­ma­jor erhielt. Im sel­ben Jahr habi­li­tier­te er sich mit einer Arbeit über die geo­gra­phi­sche Ent­wick­lung Japans in Mün­chen. Hier lehr­te er zunächst als Hono­rar­pro­fes­sor und spä­ter als ordent­li­cher Pro­fes­sor Geopolitik.

Als schick­sal­haft stell­te sich in der Fol­ge die Bekannt­schaft mit ­Rudolf Heß her­aus, den Haus­ho­fer über einen gemein­sa­men Kame­ra­den ken­nen­ge­lernt hat­te. Heß spiel­te zwar zum Zeit­punkt des Ken­nen­ler­nens in der NS-Bewe­gung noch kei­ne gro­ße Rol­le. Das änder­te sich jedoch, als er 1924 gemein­sam mit Hit­ler in Lands­berg in Fes­tungs­haft saß und dort die Auf­ga­ben eines Sekre­tärs über­nahm. Haus­ho­fer war zu die­sem Zeit­punkt bereits als Geo­po­li­tik-Pro­pa­gan­dist bekannt. Er ver­füg­te seit 1924 mit der Zeit­schrift für Geo­po­li­tik über eige­nes Sprach­rohr, das auch außer­halb der Hoch­schu­le zuneh­mend an Ein­fluß gewann. Über Heß bekam Haus­ho­fer in einem Moment Zugang zu Hit­ler, als die­ser damit beschäf­tigt war, sei­ne Welt­an­schau­ung festzulegen.

Seit 2016 liegt die kom­men­tier­te Aus­ga­be von Hit­lers Mein Kampf vor, deren Abfas­sung in die Zeit der Fes­tungs­haft fällt. (4) Nütz­lich an dem Kom­men­tar ist vor allem das Bemü­hen, die Aus­sa­gen Hit­lers mit Quel­len zu bele­gen, da die­ser selbst nur sehr sel­ten einen Hin­weis auf sei­ne Stich­wort­ge­ber ange­ge­ben hat. Was die Her­aus­ge­ber da in bezug auf Haus­ho­fer ermit­telt haben, ist nicht beson­ders spektakulär.

Im vier­ten Kapi­tel fin­det sich der Begriff »Lebens­raum«, zu dem sich Hit­ler über Heß Auf­klä­rung von Haus­ho­fer ein­hol­te. Aller­dings war die­ser Begriff spä­tes­tens seit den Kolo­ni­al­de­bat­ten des Kai­ser­reichs eta­bliert, auch wenn sich Hit­lers Blick nach Osten rich­te­te. Der Begrün­der der poli­ti­schen Geo­gra­phie, Fried­rich ­Rat­zel, hat­te unter die­sem Titel bereits 1901 eine Stu­die ver­öf­fent­licht. Wei­ter­hin fin­den sich in Mein Kampf noch ein paar geo­po­li­ti­sche Weis­hei­ten, wie die, daß sich ter­ri­to­ri­al umfang­rei­che Staa­ten schwe­rer besie­gen lassen.

Unter dem Strich über­wiegt bei Hit­ler die Kri­tik an Haus­ho­fer die weni­gen posi­ti­ven Bezug­nah­men bei wei­tem. Hit­ler kann­te Haus­ho­fers Japan-­Buch von 1913, bewun­der­te die japa­ni­sche Mari­ne, inter­pre­tier­te jedoch die Aneig­nung der euro­päi­schen Tech­nik ganz anders als Haus­ho­fer. Ent­schei­dend ist aber etwas ande­res: Hit­ler sah für Deutsch­land nur eine Zukunft, wenn es Welt­macht wäre, und lehn­te ein Bünd­nis mit der Sowjet­union eben­so ab wie eine Unter­stüt­zung der natio­na­len Befrei­ungs­be­we­gun­gen etwa der Ukrai­ner und der Bal­ten. (5)

Haus­ho­fer war dage­gen immer ein Anhän­ger eines Kon­ti­nen­tal­blocks, der von Deutsch­land über Eura­si­en bis nach Japan rei­chen soll­te, um dem Ein­fluß der See­mäch­te etwas ent­ge­gen­set­zen zu kön­nen. Und er för­der­te die Vor­den­ker natio­na­ler Befrei­ungs­be­we­gun­gen, etwa in Nord­afri­ka. Es ist also äußerst schwie­rig, Haus­ho­fer als Ideen­geber von Hit­ler zu bezeich­nen. Viel­mehr wird deut­lich, daß es sich beim Natio­nal­so­zia­lis­mus und der Geo­po­li­tik um zwei unter­schied­li­che Politik­ansätze han­del­te, die bei­de eine umfas­sen­de Ori­en­tie­rung in der unüber­sicht­li­chen Nach­kriegs­zeit bie­ten wollten.

Gemein­sam war bei­den Welt­an­schau­un­gen der Aus­gangs­punkt: die Nie­der­la­ge im Ers­ten Welt­krieg und der dar­aus resul­tie­ren­de Ver­sailler Ver­trag, des­sen Revi­si­on in Deutsch­land aller­dings gesell­schaft­li­cher Kon­sens war. Über die Ursa­che der Nie­der­la­ge war man sich jedoch nicht einig. Sah hier man­cher den Ver­rat der Hei­mat­front und die Über­lebt­heit des Kai­ser­tums als ursäch­lich an (wie Hit­ler), such­te Haus­ho­fer die Ursa­chen auf einer tie­fe­ren Ebene.

Im Ver­gleich mit den Sie­ger­mäch­ten fiel ihm zwei­er­lei auf. Zunächst hat­ten die­se kla­re Kriegs­zie­le: Frank­reich woll­te Elsaß-Loth­rin­gen zurück, Ruß­land die Hege­mo­nie am Schwar­zen Meer, Eng­land sich die wirt­schaft­li­che Kon­kur­renz vom Hals schaf­fen; in Deutsch­land zeig­te die Kriegs­ziel­dis­kus­si­on, die nach Kriegs­aus­bruch auf­kam, daß man über die Ver­tei­di­gung hin­aus kaum eine Vor­stel­lung davon hat­te, was es in die­sem Krieg zu errei­chen galt.

Die Ursa­che dafür sah Haus­ho­fer im Feh­len einer Poli­tik­wis­sen­schaft, (6) die in der Lage gewe­sen wäre, die Staats­bür­ger, aber auch das Volk, das ja über die Wah­len eini­gen Ein­fluß auf die Poli­tik hat­te, über die Not­wen­dig­kei­ten des poli­ti­schen Han­delns auf­zu­klä­ren. Denn ein Indiz für die Schwä­che Deutsch­lands sah Haus­ho­fer in der zöger­li­chen Kriegs­pro­pa­gan­da, die in Deutsch­land erst sehr müh­sam in Fahrt kam, wäh­rend die alli­ier­te Sei­te schnell alle Regis­ter zog. Geo­po­li­tik wur­de daher von Haus­ho­fer als prak­ti­sche, geo­gra­phisch aus­ge­rich­te­te Poli­tik­wis­sen­schaft kon­zi­piert, deren Ziel die Revi­si­on des Ver­sailler Ver­trags war, was durch volks­päd­ago­gi­sches Wir­ken erreicht wer­den sollte.

Das Dop­pel­ge­sicht der Geo­po­li­tik wird bereits hier deut­lich: einer­seits Wis­sen­schaft, ande­rer­seits Ideo­lo­gie. Aller­dings ist der Ein­druck weni­ger dra­ma­tisch, wenn man bedenkt, daß die Poli­tik­wis­sen­schaft nach dem Zwei­ten Welt­krieg von den Sie­gern im Rah­men der Ree­du­ca­ti­on ein­ge­führt wur­de. Die Poli­tik­wis­sen­schaft soll­te nach dem Vor­bild der ame­ri­ka­ni­schen »poli­ti­cal sci­ence« dazu bei­tra­gen, die Deut­schen in den west­li­chen Besat­zungs­zo­nen im Sin­ne der libe­ra­len Demo­kra­tie umzu­er­zie­hen. (7)

Auch hier eine wis­sen­schaft­lich ver­bräm­te Ideo­lo­gie, der es nicht um Erkennt­nis der Wahr­heit, son­dern um Bestä­ti­gung einer Welt­an­schau­ung ging. Karl Haus­ho­fer hat die­se Dop­pel­ge­sich­tig­keit ganz bewußt auf­recht­erhal­ten, weil er davon über­zeugt war, daß eine Ideo­lo­gie nur dann über­zeu­gend ist, wenn sie sich zumin­dest dem Anschein nach wis­sen­schaft­lich stüt­zen läßt. Der Erfolg des Kom­mu­nis­mus, der sich eben­falls den Schein der Wis­sen­schaft­lich­keit gab, mag hier Vor­bild gewe­sen sein. (8) Hin­zu kommt, daß die Wis­sen­schaft nach Mei­nung Haus­ho­fers dem bedräng­ten Volk gegen­über Pflich­ten hat und damit auf­ge­for­dert ist, ihre Erkennt­nis­se in der Pra­xis zur Ent­fal­tung zu bringen.

Der Ansatz von Haus­ho­fer bestand ganz offen­sicht­lich nicht dar­in, ein Werk­zeug für die Poli­tik zu schaf­fen, son­dern über die Idee der Geo­po­li­tik selbst Poli­tik zu machen. Er erhoff­te sich von der Geo­po­li­tik nicht weni­ger als ein neu­es Poli­tik- und Lebens­ver­ständ­nis. Mit Blick auf die Ideo­lo­gie­ge­schich­te des 20. Jahr­hun­derts bie­tet die Theo­rie des sozia­len Mythos von Geor­ges Sor­el  (9) eine Mög­lich­keit, den Anspruch der Geo­po­li­tik kurz zu umreißen.

Sor­el war der Mei­nung, daß der poli­ti­sche Kampf Bil­der benö­ti­ge, die in der Lage sei­en, die Mas­sen mit­zu­rei­ßen. Die­se Bil­der dürf­ten nicht zu kon­kret sein, son­dern sie müß­ten genü­gend Spiel­raum für eige­ne Vor­stel­lun­gen geben. Gleich­zei­tig müß­ten sie eine All­ge­mein­gül­tig­keit bean­spru­chen, um nicht belie­big zu sein. Sor­el nann­te als Bei­spiel für sozia­le Mythen der Ver­gan­gen­heit den Ruhm bei den Grie­chen, die Frei­heit in der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on und die Nati­on in den deut­schen Befreiungskriegen.

Haus­ho­fers Geo­po­li­tik erfüllt eini­ge der von Sor­el genann­ten Eigen­schaf­ten. Sie ist eine Idee, der eine all­ge­mein­gül­ti­ge Ein­sicht zugrun­de liegt, sie hat einen pro­phe­ti­schen Anspruch, ohne die Zukunft vor­her­zu­sa­gen, und ist bestrebt, die Mas­sen zu poli­ti­sie­ren. Die Geo­po­li­tik soll­te die Deut­schen wie­der zum Bewe­ger der Geschich­te machen und sie letzt­lich auch mora­lisch heben, indem die per­sön­li­chen Bedürf­nis­se hin­ter das gemein­sa­me Ziel der Wie­der­her­stel­lung des Rei­ches zurück­zu­tre­ten hatten.

Da Haus­ho­fer kaum Bemü­hun­gen unter­nom­men hat, sei­ne Auf­fas­sung von Geo­po­li­tik theo­re­tisch zu begrün­den, muß man sich in sei­nen zahl­rei­chen Buch- und Zeit­schrif­ten­ver­öf­fent­li­chun­gen nach Versatz­stücken zu einer Theo­rie umse­hen. Schwer­punkt blieb bei Haus­ho­fer die Geo­po­li­tik des pazi­fi­schen Raums, aber er ver­faß­te auch Bücher zur Wehr­geo­gra­phie und zur Bedeu­tung der Gren­zen sowie popu­lär­wis­sen­schaft­li­che Über­blicks­wer­ke, in denen er eine his­to­risch und geo­gra­phisch unter­mau­er­te Lage­analyse der gegen­wär­ti­gen Mäch­te lie­fer­te. Regel­mä­ßig ver­öf­fent­lich­te er in der Zeit­schrift für Geo­po­li­tik, die er zunächst gemein­sam mit Fach­kol­le­gen her­aus­gab. Aus die­ser Zeit stam­men auch die gemein­sam mit den Kol­le­gen ver­faß­ten The­sen zur Geopolitik:

 

Die Geo­po­li­tik ist die Leh­re von der Erd­ge­bun­den­heit der poli­ti­schen Vorgänge.

Sie fußt auf der brei­ten Grund­la­ge der Geo­gra­phie, ins­be­son­de­re der Poli­ti­schen Geo­gra­phie als der Leh­re von den poli­ti­schen Raum­or­ga­nis­men und ihrer Struktur.

Die von der Geo­gra­phie erfaß­te Wesen­heit der Erd­räu­me gibt für die Geo­po­li­tik den Rah­men ab, inner­halb des­sen sich der Ablauf der poli­ti­schen Vor­gän­ge voll­zie­hen muß, wenn ihnen Dau­er­er­folg beschie­den sein soll. Gewiß wer­den die Trä­ger des poli­ti­schen Lebens gele­gent­lich über die­sen Rah­men hin­aus­grei­fen, frü­her oder spä­ter aber wird sich die Erd­ge­bun­den­heit immer wie­der gel­tend machen.

Im Sin­ne die­ser Erkennt­nis will die Geo­po­li­tik Rüst­zeug zum poli­ti­schen Han­deln lie­fern und Weg­wei­ser im poli­ti­schen Leben sein.

Damit wird sie zur Kunst­leh­re, die die prak­ti­sche Poli­tik bis zu der not­wen­di­gen Stel­le des Absprungs vom fes­ten Boden zu lei­ten fähig ist. Nur so wird die­ser Sprung vom Wis­sen zum Kön­nen und nicht vom Nicht­wis­sen aus erfol­gen, woher er sicher wei­ter und gefähr­li­cher ist.

Die Geo­po­li­tik will und muß zum geo­gra­phi­schen Gewis­sen des Staa­tes wer­den. (10)

 

Die­se The­sen legen zumin­dest eine deter­mi­nis­ti­sche Auf­fas­sung nahe, weil sie die Erd­ge­bun­den­heit der Poli­tik an den Anfang stel­len. Aller­dings las­sen sich die wei­te­ren The­sen nicht so ver­ste­hen, daß eine Poli­tik ohne Rück­sicht auf den Raum nicht mög­lich sei, son­dern nur, daß sie schei­tern müs­se. Aus die­ser Ein­sicht folgt der ideo­lo­gi­sche Ansatz der Geo­po­li­tik, der Poli­ti­ker und Staats­bür­ger ent­spre­chend ein­schwö­ren möchte.

Haus­ho­fer selbst war zwar der Auf­fas­sung, daß die Geo­po­li­tik nur 25 Pro­zent der zum poli­ti­schen Han­deln not­wen­di­gen Erkennt­nis­se umfas­se, daß man aber froh sein sol­le, wenigs­ten über die Wir­kung die­ses Anteils mit mathe­ma­ti­scher Genau­ig­keit urtei­len zu kön­nen. (11) Die Geo­po­li­tik soll­te alles für die Macht Nöti­ge bereit­stel­len und Jura als poli­ti­sche Leit­wis­sen­schaft ablö­sen, weil die­se zu sehr auf das posi­ti­ve Recht fixiert sei, das der orga­ni­schen Natur des Staa­tes nicht gerecht wer­de. Rich­tig ange­wandt, war sie für Haus­ho­fer »etwas furcht­bar Schar­fes, eine schieß­be­rei­te Mine, ein rasier­mes­ser­schar­fer japa­ni­scher Zwei­hän­der«. Sie soll­te die Kunst der Poli­tik leh­ren, womit Haus­ho­fer für die Geo­po­li­tik das Erzie­hungs­recht für Poli­ti­ker reklamierte.

Der päd­ago­gi­sche Ansatz kommt ganz beson­ders im Hin­blick auf den Ein­satz von Kar­ten, die ja zum geo­po­li­ti­schen Hand­werks­zeug gehö­ren, zum Aus­druck. (12) Die deut­sche Gewis­sen­haf­tig­keit habe hier, so Haus­hofer, ver­hin­dert, daß man schon frü­her dazu über­ge­gan­gen sei, bei Kar­ten das Typi­sche her­aus­zu­stel­len und damit ihre sug­ges­ti­ve Wir­kung zu stei­gern. Die geo­po­li­ti­sche Kar­te muß das Wesent­li­che her­vor­he­ben, sie muß wahr sein und für die Kern­aus­sa­ge schäd­li­che Zufäl­lig­kei­ten ver­schlei­ern, ohne Gefahr zu lau­fen, damit Anstoß zu erregen.

Die Ord­nung des Welt­bil­des sei jeden­falls nur durch Kar­ten mög­lich. Sie erin­nern des­halb bei Haus­ho­fer manch­mal schon an die heu­te all­ge­gen­wär­ti­gen Info­gra­fi­ken. Ziel ist es, die Füh­rer zu erzie­hen, indem man ihnen durch die Kar­ten die Mög­lich­keit gibt, ihr zukünf­ti­ges Han­deln in »Wür­de und Schön­heit« zu pla­nen. Ohne die­se kar­ten­ge­stütz­te Vor­be­rei­tung lau­fe der Poli­ti­ker Gefahr, Pfusch zu produzieren.

Die bereits erwähn­te Bereit­schaft Haus­ho­fers, natio­na­le Befrei­ungs­be­we­gun­gen zu unter­stüt­zen, läßt sich aus sei­ner geo­po­li­ti­schen For­de­rung ablei­ten, der Lebens­raum müs­se ver­nünf­tig und gerecht ver­teilt sein. Inso­fern war Haus­ho­fer ein kla­rer Geg­ner des Impe­ria­lis­mus, der die­ser For­de­rung wider­sprach. Die­ser Wider­spruch muß­te ab dem Moment der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Macht­über­nah­me zum Pro­blem wer­den, weil eine Kon­kur­renz­welt­an­schau­ung jetzt die Leit­li­ni­en vorgab.

In der Wei­ma­rer Repu­blik war die Geo­po­li­tik zwar offi­zi­ell nicht wohl­ge­lit­ten, (13) aber sie war nicht zu Anpas­sungs­leis­tun­gen gezwun­gen. Haus­ho­fer selbst hat­te sich Anfang der 1930er Jah­re, als es in der Her­aus­ge­ber­schaft der Zeit­schrift für Geo­po­li­tik Streit über das Ver­hält­nis zum Natio­nal­so­zia­lis­mus gab, zu die­ser Bewe­gung bekannt, ohne aller­dings sei­nen eige­nen Ansatz aufzugeben.

Da man sich in dem poli­ti­schen Ziel der Revi­si­on des Ver­sailler Ver­trags einig war, gab es für Haus­ho­fer nach 1933 poli­tisch zunächst kei­nen Grund, auf Distanz zu gehen. Er ver­such­te viel­mehr, die Geo­po­li­tik als Grund­la­ge der NS-Poli­tik zu beto­nen. (14) Haus­ho­fer war zudem, da sein Schwie­ger­va­ter Jude war, auf das Wohl­wol­len des NS-Regimes angewiesen.

So las­sen sich die Anpas­sungs­leis­tun­gen, die sich ins­be­son­de­re in der Fra­ge des Ein­flus­ses der Ras­se, die nach geo­po­li­ti­scher Über­zeu­gung ein sekun­dä­res Moment der Poli­tik sein muß­te, (15) nie­der­schlu­gen, leicht erklä­ren. Durch den Anti­kom­in­tern­pakt mit Japan 1936 und den deutsch-sowje­ti­schen Nicht­an­griffs­pakt von 1939 sah Haus­ho­fer noch ein­mal eine Chan­ce für sei­ne Idee des Kon­ti­nen­tal­blocks kom­men, die sich aller­dings 1941 zer­schlug. (16) Mit dem Eng­land­flug von Heß und dem Beginn des Krie­ges gegen die Sowjet­uni­on ging sein Ein­fluß auf die NS-Poli­tik, der nie beson­ders groß gewe­sen war, gänz­lich verloren.

Nach sei­ner zeit­wei­sen Inhaf­tie­rung in Dach­au, der Ermor­dung sei­nes Soh­nes Albrecht durch die SS und der Nie­der­la­ge Deutsch­lands nahm er sich gemein­sam mit sei­ner Frau 1946 das Leben, nicht ohne zuvor mit einer »Apo­lo­gie der deut­schen Geo­po­li­tik« (17) über sei­ne poli­ti­schen ­Ver­stri­ckun­gen Rechen­schaft abge­legt zu haben.

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(1) – Vgl. die ideo­lo­gi­sche Auf­fas­sung bei Dan Diner: »›Grund­buch des Pla­ne­ten‹. Zur Geo­po­li­tik Karl Haus­ho­fers«, in: Vier­tel­jahrs­hef­te für Zeit­ge­schich­te 32(1984), S. 1 – 28, und die wis­sen­schaft­li­che Ein­ord­nung bei Rai­ner Spren­gel: Kri­tik der Geo­po­li­tik. Ein deut­scher Dis­kurs 1914 – 1944, Ber­lin 1996, u. a. S. 22 – 24.

(2) – Vgl. Adolf ­Jacob­sen (Hrsg.): Karl ­Haus­ho­fer, Bd. 1. Lebens­weg 1869 – 1946 und aus­ge­wähl­te Tex­te zur Geo­po­li­tik, Bop­pard am Rhein 1979.

(3) – Vgl. Chris­ti­an W. Spang: Karl Haus­ho­fer und die OAG. Deutsch-japa­ni­sche Netz­wer­ke in der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts, Mün­chen 2018.

(4) – Vgl. Adolf Hit­ler: Mein Kampf. Eine kri­ti­sche Edi­ti­on, hrsg. von Chris­ti­an Hart­mann et al. im Auf­trag des Insti­tuts für Zeit­ge­schich­te Mün­chen – Ber­lin, Mün­chen 2016 (online unter mein-kampf-edition.de).

(5) – Vgl. Hit­ler: Mein Kampf, Bd. 2, S. 303, 319 und 326.

(6) – Vgl. Karl Haus­ho­fer: »Grund­la­gen, Wesen und Zie­le der Geo­po­li­tik«, in: ders., Erich Obst, Her­mann Lau­ten­sach, Otto Maull: Bau­stei­ne zur Geo­po­li­tik, Ber­lin 1928.

(7) – Vgl. Cas­par von Schrenck-Not­zing: Cha­rak­ter­wä­sche – Die ame­ri­ka­ni­sche Besat­zung in Deutsch­land und ihre Fol­gen, Mün­chen 1964.

(8) – Eine Aus­ein­an­der­set­zung mit der kom­mu­nis­ti­schen Kri­tik an der Geo­po­li­tik fin­det sich bei: Max Bau­mann: »Witt­fo­gel und Bat­ta­glia. Kon­ser­va­tis­mus, Roman­tik und Mar­xis­mus in ihrem Ver­hält­nis zur Geo­po­li­tik«, in: Zeit­schrift für Geo­po­li­tik 9 (1932), S. 577 – 581.

(9) – Vgl. Geor­ges Sor­el: Über die Gewalt, Frank­furt a. M. 1981.

(10) – Haus­ho­fer et al.: Bau­stei­ne, S. 27.

(11) – Vgl. Karl Haus­ho­fer: »Grund­la­gen, Wesen und Zie­le der Geo­po­li­tik«, in: Bau­stei­ne, S. 47 f.

(12) – Vgl. Karl Haus­ho­fer: »Die sug­ges­ti­ve Kar­te« (1922), in: Bau­stei­ne, S. 343 – 348; ders.: »Rück­blick und Vor­schau auf das geo­po­li­ti­sche Karten­wesen«, in: Zeit­schrift für Geo­po­li­tik 9 (1932), S. 735 – 745.

(13) – In »Geo­po­li­tik in Abwehr und auf Wacht«, in: Zeit­schrift für Geo­po­li­tik 9 (1932), S. 591 – 594, merkt Haus­ho­fer an, daß die Geo­po­li­tik in Deutsch­land vom Rund­funk boy­kot­tiert werde.

(14) – Vgl. Karl ­Haus­ho­fer: »Pflicht und Anspruch der Geo­po­li­tik als Wis­sen­schaft«, in: Zeit­schrift für Geo­po­li­tik 12 (1935), S. 443 – 448. Hier heißt es: »Zuerst leben, dann Weis­heit suchen, so ist die Grund­la­ge poli­ti­scher Wis­sen­schaft, die Geo­po­li­tik, die not­wen­digs­te aller Wis­sen­schaf­ten […].« Ande­res Bei­spiel von Haus­ho­fer: »Geo­po­li­tik als Grund­la­ge jeder Raum­ord­nung«, in: Zeit­schrift für Geo­po­li­tik 13 (1936), S. 128 – 130, und »Stim­me der Geo­po­li­tik« zum 29. März 1936, in: Zeit­schrift für Geo­po­li­tik 13 (1936), S. 247.

(15) – In Aus­ga­be 13 (1936), S. 63 f. wer­den geo­po­li­ti­sche Kol­le­gen wegen einer fal­schen Auf­fas­sung zur Ras­sen­fra­ge angegriffen.

(16) – 1941 erschien im Eher Ver­lag noch Haus­ho­fers Vor­trag Kon­ti­nen­tal­block. Mit­tel­eu­ro­pa, Eura­si­en, Japan, die vor­letz­te selb­stän­di­ge Publi­ka­ti­on Haus­hofers im Drit­ten Reich.

(17) – Jacob­sen: Haus­ho­fer, Bd. 1, S. 639 ff.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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