Geopolitik und Politische Geographie

von Felix Dirsch -- PDF der Druckfassung aus Sezession 110/ Oktober 2022

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1.

Geo­po­li­tik ist Teil rea­lis­ti­scher Stra­te­gien selbst­be­wuß­ter Staaten

 

Der Begriff Geo­po­li­tik ist vage. Der schwe­di­sche Staats­rechts­leh­rer Rudolf Kjel­lén präg­te ihn um 1900: »Die Geo­po­li­tik ist die Leh­re vom Staat als geo­gra­phi­schem Orga­nis­mus oder als Erschei­nung im Rau­me.« (1)

Es han­delt sich um eine Defi­ni­ti­on des Staa­tes, inso­weit er als Ter­ri­to­ri­um, Land, Gebiet oder Reich betrach­tet wird. Zu den Natur­ge­ge­ben­hei­ten, die staat­li­ches Han­deln beein­flus­sen, zäh­len die Lage eines Staa­tes, das Reli­ef und das Kli­ma, die Boden­schät­ze, Flüs­se und Mee­re, aber auch demo­gra­phi­sche Fak­to­ren. Übli­cher­wei­se kommt der Poli­ti­schen Geo­gra­phie der beschrei­bend-theo­re­ti­sche Anteil zu, wäh­rend Geo­po­li­tik die prak­ti­sche Umset­zung der Exper­ti­se zu leis­ten hat.

So gän­gig der Aus­druck »Geo­po­li­tik« auch sein mag: Er hat­te nie nur Befür­wor­ter. Der Geo­graph Peter Schöl­ler hielt die Span­nung zwi­schen bei­den Bestand­tei­len des Wor­tes für unüber­wind­bar. Geo­gra­phi­sche Fak­to­ren sind in der Regel nicht zu ver­än­dern; nicht unwan­del­bar hin­ge­gen ist der poli­ti­sche Umgang mit Naturgegebenheiten.

Kjel­léns Aus­füh­run­gen gehen weit über Wort­spie­le hin­aus und las­sen eine bestimm­te Stoß­rich­tung erken­nen: Kjel­lén unter­streicht den offen­si­ven Cha­rak­ter der Geo­po­li­tik dadurch, daß er Reich und Staat vom Volk her bestimmt: »Wenn Schwe­den von sei­nen Bewoh­nern ver­las­sen wür­de und die Rus­sen es bevöl­ker­ten, so wür­de der schwe­di­sche Staat eben­so tot sein, als blie­be das Land ver­las­sen: der Staat ist also an sein Volk gebun­den.« (2)

Am Anfang der wis­sen­schaft­li­chen Dis­zi­plin »Poli­ti­sche Geo­gra­phie« steht Fried­rich Rat­zel. Er folg­te Carl Rit­ter, dem Grün­der­va­ter der wis­sen­schaft­li­chen Geo­gra­phie. Die­ser dif­fe­ren­zier­te zwi­schen pota­mi­schen, thalas­si­schen und ozea­ni­schen Kul­tu­ren. Eine Gene­ra­ti­on vor Rit­ter such­te der Schrift­stel­ler Johann Gott­fried Her­der die natür­li­che Form der Nati­on. Er fand sie in einem »orga­ni­schen Volks­staat«. In der Kon­se­quenz heißt das, daß Land, Staat und Volk eine Ein­heit bil­den müs­sen – ein auch spä­ter zen­tra­ler Gedan­ken­gang vie­ler geo­po­li­ti­scher Kontroversen.

Rat­zel ver­faß­te sei­ner­zeit viel­ge­le­se­ne Wer­ke, dar­un­ter eine Poli­ti­sche Geo­gra­phie und die Anthro­po-Geo­gra­phie. Als Zoo­lo­ge war er Dar­wi­nist und wen­de­te das von Dar­win zen­tral the­ma­ti­sier­te Über­le­ben der Bestan­ge­paß­ten auf den Bereich von Räu­men und Staa­ten an. Rat­zel hat­te die Staa­ten zu orga­ni­schen Wesen erklärt. Berühmt wur­de sein »Gesetz der wach­sen­den Räu­me«. Dem Raum ist dem­nach der Mensch von Anfang sei­ner Gat­tungs­ge­schich­te an aus­ge­lie­fert. Rat­zel bemerk­te an die­ser Stel­le die alte Kluft zwi­schen der Begrenzt­heit des vor­han­de­nen Ter­rains und der ten­den­zi­el­len Unbe­grenzt­heit des Lebens­drangs nach Aus­brei­tung. Man hat in die­sem Kon­text den Begriff des Geo-Dar­wi­nis­mus geprägt.

Eine Wen­de nimmt der geo­po­li­ti­sche Dis­kurs nach dem Ers­ten Welt­krieg, als durch diver­se Gebiets­ab­tren­nun­gen und die Sepa­rie­rung gan­zer Bevöl­ke­rungs­grup­pen vom Mut­ter­land des­sen exis­ten­zi­el­le Dimen­si­on unüber­seh­bar wur­de. Geo­po­li­tik mutier­te zur Poli­tik­be­ra­tung. Die Wen­de ist vor allem mit dem Namen Karl Haus­ho­fer verbunden.

Die­ser ehe­ma­li­ge Gene­ral (und danach Pro­fes­sor in Mün­chen) erhob es zum zen­tra­len Ziel, Volks­tum, Staat und Boden Deutsch­lands in gerech­te Rela­ti­on zu brin­gen. Der Nach­druck sei­nes Enga­ge­ments lag auf dem publi­zis­ti­schen Wider­stand gegen die »Ver­stüm­me­lung Deutsch­lands« durch den Ver­sailler Ver­trag. Somit war Geo­po­li­tik eine Betrach­tungs­wei­se, die aus der Not der Zeit gebo­ren wur­de. 1946 beging Haus­ho­fer mit sei­ner Gat­tin Suizid.

Sein Sohn Albrecht, mit der Dis­zi­plin »Poli­ti­scher Geo­gra­phie« von der Pike auf ver­traut, the­ma­ti­sier­te die Ver­stri­ckun­gen des Vaters in sei­nen Moa­bi­ter Sonet­ten, die er in Haft ver­faß­te, bevor er im April 1945, kurz vor der Kapi­tu­la­ti­on Ber­lins, als Wider­ständ­ler hin­ge­rich­tet wur­de: »Mein Vater hat das Sie­gel auf­ge­bro­chen. / Den Hauch des Bösen hat er nicht gesehn. / Den Dämon ließ er in die Welt entwehn«.

In sei­ner Recht­fer­ti­gungs­schrift legt Karl Haus­ho­fer sei­ne zen­tra­len Auf­fas­sun­gen von Geo­po­li­tik dar: Dazu zählt vor allem, das gegen­sei­ti­ge Ver­ständ­nis der Völ­ker in ihren Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten zu för­dern und künf­ti­ge Wir­ren wie die zwi­schen 1914 und 1918 mög­lichst aus­zu­schlie­ßen. (3)

Die »Apo­lo­gie« wirkt des­halb authen­tisch, weil Haus­ho­fer sowohl Feh­ler ein­räumt, als auch auf die Rich­tig­keit man­cher Annah­men hin­weist. Die Revi­si­ons­po­li­tik der Natio­nal­so­zia­lis­ten bis 1938 erach­tet er auch noch 1946 für zustim­mungs­fä­hig, nicht jedoch die »Tod­sün­de« des Aus­griffs nach Osten seit Sep­tem­ber 1939. Durch Lite­ra­ten bekam die Debat­te einen popu­lä­ren Zug. So wur­de der Roman­ti­tel Volk ohne Raum (1926) des Schrift­stel­lers Hans Grimm sogar sprichwörtlich.

Noch inten­si­ver als Haus­ho­fers Publi­ka­tio­nen wur­den die Schrif­ten Carl Schmitts zur Raum­re­vo­lu­ti­on rezi­piert. (4) Der Jurist über­nahm wich­ti­ge Anlei­hen von der nach dem US-Prä­si­den­ten James Mon­roe benann­ten Dok­trin. Die­ser hat­te 1823 ein Inter­ven­ti­ons­ver­bot für raum­frem­de Mäch­te ver­kün­det, denen das Ein­drin­gen in den Groß­raum des gesam­ten Kon­ti­nents unter­sagt wurde.

Den Mit­tel­punkt von Schmitts Über­le­gun­gen bil­det die Über­zeu­gung, daß das Recht im Kon­text von Räu­men zu ver­or­ten sei. Dem Erlaß von Rechts­vor­schrif­ten geht die Land­nah­me als poli­ti­scher Urakt vor­an. Das Recht sei »erd­haft und auf die Erde bezo­gen«. Zen­tral ist also die enge Ver­bin­dung von »Ortung und Ord­nung«. Hier­in sieht er den Grund­vor­gang der Raumaufteilung.

Hin­ter­grund ist die Raum­re­vo­lu­ti­on, wie sie sich ab dem frü­hen 20. Jahr­hun­dert mit der Erobe­rung des Luft­rau­mes abge­spielt hat. Die­se Umwäl­zung rela­ti­viert ein Stück weit ande­re Räu­me wie die zur See und zu Lan­de. Schmitt sieht das Ober­ei­gen­tum als kol­lek­ti­ves Gut, das bei der Land­nah­me erwor­ben wird. Auch die Sied­ler in den USA konn­ten nur mit dem Rücken­wind der Insti­tu­tio­nen der Ver­ei­nig­ten Staa­ten den Weg nach Wes­ten antreten.

Ein wesent­li­ches The­ma für Schmitt sind die For­men staat­li­cher Exis­tenz: die ter­ra­nen wie die mari­ti­men Staa­ten. (5) Er hebt die Unter­schie­de her­vor: Der Kampf auf dem Lan­de ist ver­recht­licht, der zur See hin­ge­gen anar­chisch. Der Jurist hat die The­se von der Hegung des Krie­ges durch das euro­päi­sche Völ­ker­recht ver­tre­ten. Die­se Kon­flikt­zi­vi­li­sie­rung exis­tiert auf See nicht.

Groß­räu­me wer­den schon seit eini­ger Zeit auch in aktu­el­len poli­ti­schen und öko­no­mi­schen Zusam­men­hän­gen neu rezi­piert, etwa in der Theo­rie der mul­ti­po­la­ren Welt­ord­nung Alex­an­der Dug­ins. In sei­nen Bei­trä­gen über ein »völ­ker­recht­li­ches Inter­ven­ti­ons­ver­bot für raum­frem­de Mäch­te« begrün­det Schmitt die Theo­rie vom leis­tungs­ge­rech­ten Groß­raum. Die tra­di­tio­nel­len Sub­jek­te des Völ­ker­rechts, die Staa­ten, hät­te an Bedeu­tung ver­lo­ren. Die uni­ver­sa­lis­ti­sche Ebe­ne der One World ken­ne kei­ne umfas­sen­de nor­ma­ti­ve Ebene.

Schmitt kon­zi­piert im Unter­schied dazu eine wei­te­re Ebe­ne, die Groß­räu­me. Rei­che soll­ten an die Stel­le der Staa­ten als Völ­ker­rechts­sub­jek­te tre­ten. Neue zen­tra­le Kate­go­rie des Völ­ker­rechts sol­le der Volks­be­griff wer­den. Die Stel­lung des Rei­ches sol­le die »grund­sätz­li­che Ach­tung vor den Lebens­in­ter­es­sen jedes Volks­tums« zum Aus­druck brin­gen. Es besteht kein Zwei­fel, daß Schmitt im Kon­text sei­nes Reichs­be­griffs das Deut­sche Reich vor Augen hatte.

Gegen Ende sei­ner Dar­stel­lung wirft Schmitt die Fra­ge auf, ob in Zei­ten von Luft­krie­gen oder Atom­waf­fen das Zeit­al­ter der Hegung nicht unwi­der­ruf­lich ver­lo­ren sei. Aus heu­ti­ger Sicht könn­te man noch die Phä­no­me­ne asym­me­tri­scher Kon­flik­te und des Cyber­krie­ges hin­zu­fü­gen. Sie wer­fen neue Fra­gen über die Raum- und Rechts­ord­nung auf – nicht zuletzt des­halb, weil sie kaum in der Lage oder wil­lens sind, zwi­schen Kom­bat­tan­ten und Nicht­kom­bat­tan­ten zu unter­schei­den. Damit kön­nen sie eine wesent­li­che Dif­fe­renz des euro­päi­schen Völ­ker­rechts nicht nachvollziehen.

Die Schrift über den Nomos der Erde ist beson­ders des­halb von Inter­es­se, weil sie die letz­te bedeu­ten­de, offen apo­lo­ge­tisch gehal­te­ne Abhand­lung über die euro­päi­sche Expan­si­on seit der Frü­hen Neu­zeit dar­stellt – und das zu einer Zeit, als sich die glo­ba­le Intel­li­genz fast voll­stän­dig auf die Sei­te der Kolo­nia­lis­mus­kri­tik geschla­gen hat. Zu den selbst­be­wußt auf­stre­ben­den Natio­nen seit dem spä­ten 19. Jahr­hun­dert gehö­ren neben dem Deut­schen Reich vor allem die USA.

Oze­an und Mee­re mutie­ren im 19. Jahr­hun­dert zu einer ent­schei­den­den Grö­ße für den geo­po­li­ti­schen Dis­kurs. Der bri­ti­sche His­to­ri­ker John R. See­ley stell­te im Rah­men eines Ver­gleichs zwi­schen Eng­land und Preu­ßen Ende des 19. Jahr­hun­derts eine wirk­mäch­ti­ge The­se auf: Die Frei­heit, die in einem Land rea­li­siert ist, ver­hält sich umge­kehrt pro­por­tio­nal zum Druck, der auf den Gren­zen las­tet. Dem­nach ist Eng­land der freie­re Staat.

Zwei ande­re Autoren sind im spä­ten 19. wie im 20 Jahr­hun­dert inten­siv rezi­piert wor­den: der US-Admi­ral Alfred T. Mahan und Hal­ford ­Mack­in­der. Bei­de for­mu­lier­ten unter­schied­li­che The­sen: Mahan, der älte­re der bei­den Den­ker, pries die Über­le­gen­heit der See­macht, der ande­re wie­der­um sah die­se Stra­te­gie nur dann als erstre­bens­wert an, wenn es gelin­ge, eine Ver­bin­dung der Land­mas­sen von Euro­pa und Ruß­land in poli­ti­scher Hin­sicht zu verhindern.

Mahan benennt vor allem Lang­zeit­fak­to­ren: geo­gra­phi­sche Lage zual­ler­erst, dann phy­si­sche Beschaf­fen­heit, Aus­deh­nung des Macht­be­reichs, Bevöl­ke­rungs­zahl, Volks- und Regie­rungs­cha­rak­ter sowie die ent­spre­chen­den natio­na­len Ein­rich­tun­gen. Die Stu­die Mahans ist stark his­to­risch aus­ge­rich­tet. (6) Ihr Ein­fluß war lang groß, obwohl vom Eng­lisch-Nie­der­län­di­schen (See-)Krieg im 17. Jahr­hun­dert rund 300 Jah­re spä­ter nur noch Spe­zia­lis­ten der Geschichts­wis­sen­schaft Notiz genom­men haben dürften.

Mack­in­ders ein­fluß­rei­che Herz­land-Theo­rie von 1904 wird der­zeit so inten­siv wie lan­ge nicht mehr debat­tiert: Dem­nach beherrscht der­je­ni­ge die Welt, der den roh­stoff- und bevöl­ke­rungs­rei­chen eura­si­schen Raum domi­niert. Die­ser wird als »Pivot« (Angel­punkt) her­aus­ge­stellt. Auch auf deut­scher Sei­te ist die wohl ein­fluß­reichs­te geo­po­li­ti­sche Dok­trin aller Zei­ten ent­spre­chend dis­ku­tiert wor­den. Eura­si­en ist, ver­ein­facht betrach­tet, in die­ser Per­spek­ti­ve ein Bünd­nis zwi­schen Deutsch­land und Ruß­land. Haus­ho­fer bevor­zug­te ein Bünd­nis zwi­schen den Kon­ti­nen­tal­mäch­ten Ruß­land und Deutsch­land einer­seits und Japan andererseits.

Daß es sich um fun­da­men­ta­le Regio­nen han­delt, zeigt der berühm­te Vor­trag Hal­ford Mack­in­ders, »The Geo­gra­phi­cal Pivot of Histo­ry«, in dem die­se Gebie­te zu den stra­te­gisch ent­schei­den­den »Herz­lan­den« gehö­ren. Zu den Hin­ter­grün­den des Vor­trags zäh­len die Debat­ten über die Welt­reichs­leh­re. Die sei­ner­zei­ti­gen Mili­tär­stra­te­gen wie Geo­gra­phen mach­ten sich Gedan­ken (wie in jedem Zeit­al­ter) über die Legi­ti­ma­ti­on von Vor­herr­schaft. Die Leh­re von den Welt­rei­chen bot Gele­gen­heit zur Anknüp­fung an anti­ke Impe­ri­ums­ideen. Dabei ging es um Vor­aus­set­zun­gen der Welt­herr­schaft (Räu­me, Bevöl­ke­rung und öko­no­mi­sche Potenz). Vor allem Ruß­land und die USA gal­ten als Aspi­ran­ten, aber auch das bri­ti­sche Weltreich.

Mack­in­der hat sei­ne Erkennt­nis­se for­mel­haft zusam­men­ge­faßt: »Wer über Ost­eu­ro­pa herrscht, beherrscht das Herz­land. Wer über das Herz­land herrscht, beherrscht die Welt­in­sel. Wer über die Welt­in­sel herrscht, beherrscht die Welt.« (7) Die Herr­schaft über Eura­si­en bedeu­te (Mack­in­der zufol­ge) die Welt­herr­schaft. Zeit­wei­se war es denk­bar, daß Deutsch­land eine ent­spre­chen­de Macht errin­gen kön­ne. Bis 1990 sah es so aus, als domi­nie­re Ruß­land dau­er­haft die­se wei­ten Regio­nen – und zwar in erwei­ter­ter Wei­se als Sowjet­uni­on mit deren Ver­bün­de­ten. Als die­ser Block zer­fal­len war, ver­brei­te­ten sich schnell Ziel­set­zun­gen, ver­lo­re­nes Ter­rain wiederzugewinnen.

Die Welt­la­ge um 1900 erklärt ein gutes Stück, war­um sich Mack­in­der stark auf die eura­si­sche Ach­se kapri­ziert hat. Der Rus­sisch-Japa­ni­sche Krieg und das Groß­pro­jekt der Trans­si­bi­ri­schen Eisen­bahn hat­ten die Auf­merk­sam­keit der Welt­öf­fent­lich­keit auf die­se Gegen­den gelenkt.

 

 

2.

Macht­ver­ges­se­ne Staa­ten sind zur geo­po­li­ti­schen Stra­te­gie unfä­hig und gefähr­den damit ihre öko­no­mi­sche Stellung

 

Für die frü­he Zeit nach 1945 fin­det man immer­hin noch eine dif­fe­ren­zier­te Kri­tik an der her­kömm­li­chen Geo­po­li­tik vor. Wohl­wol­len­de ver­such­ten, die Spreu vom Wei­zen zu tren­nen. So pran­ger­te der bereits in der Wei­ma­rer Repu­blik als Ken­ner der Pro­ble­ma­tik aus­ge­wie­se­ne Poli­to­lo­ge Adolf ­Gra­bow­sky (8), als Jude wäh­rend des Drit­ten Rei­ches emi­griert, zwar den Miß­brauch durch die Natio­nal­so­zia­lis­ten scharf an, woll­te aber nicht ein­mal die eth­no­po­li­ti­sche Kom­po­nen­te aus­son­dern. (9)

Viel­mehr beton­te er die Zusam­men­ge­hö­rig­keit von Volk und Raum. Das zur »Expan­si­on auf­ge­sta­chel­te Volks­tum« wer­de im Krieg, so sein für vie­le Heu­ti­ge untrag­ba­res Argu­ment, »in sei­ner eth­ni­schen Sub­stanz schwer geschä­digt«. (10) Daher sei­en Erobe­rungs­krie­ge strikt zu mei­den. Poli­tik woll­te er künf­tig, wie ande­re Wis­sen­schafts­dis­zi­pli­nen, im Rah­men der »Geo­me­tho­dik« ana­ly­sie­ren, also die ent­spre­chen­den Fächer im Hin­blick auf deren Rele­vanz als raum­haf­te Phä­no­me­ne prüfen.

Bald dar­auf folg­te die fak­ti­sche Ent­sor­gung der her­kömm­li­chen Geo­po­li­tik. Deren Erbe trat die soge­nann­te Kri­ti­sche Geo­po­li­tik an, eine der zahl­lo­sen Vari­an­ten des post­mo­der­nen Dekon­struk­ti­vis­mus. Die­ser will angeb­lich homo­ge­ni­sie­ren­de Ein­heits­be­grif­fe, etwa Raum, Zeit, Volk und Nati­on, als theo­re­ti­sche Chi­mä­ren ent­lar­ven. Viel­falt soll an die Stel­le von ver­meint­lich vor­herr­schen­der Ein­di­men­sio­na­li­tät tre­ten. Der Phi­lo­soph Michel Fou­cault fun­giert als zen­tra­ler Gewährs­mann die­ser metho­di­schen Vor­ge­hens­wei­se. Sie stellt vor allem die Iden­ti­täts­pro­ble­ma­tik und den Macht­ge­dan­ken in den Vordergrund.

Auf geo­po­li­tisch-his­to­ri­sche Kon­stel­la­tio­nen ange­wandt, heißt das: Die Durch­set­zung abend­län­di­scher Welt­bil­der, die alter­na­ti­ve Sicht­wei­sen auf die Welt wie die der India­ner und ande­rer unter­le­ge­ner Völ­ker ver­drängt haben, wäre nicht ohne die euro­päi­sche Expan­si­on seit dem spä­ten 15. Jahr­hun­dert mög­lich gewe­sen. Vor die­sem Hin­ter­grund läßt sich die Per­spek­ti­ve der Ver­lie­rer ein­neh­men. Bekann­te­re dekon­struk­ti­vis­ti­sche Ver­tre­ter der Geo­gra­phie, etwa Chris­ti­an Gra­ta­loup, skiz­zie­ren kon­tra­fak­tisch eine »Geschich­te der unver­wirk­lich­ten Mög­lich­kei­ten«. (11) Die­ser Sicht­wei­se soll ein höhe­rer mora­li­scher Stel­len­wert zukom­men, so die Hoff­nung der Protagonisten.

In Deutsch­land ver­su­chen star­ke Kräf­te inner­halb der Geo­gra­phie inten­siv, von umfas­sen­den Kon­zep­ten wie Kul­tur­erd­tei­len, Zivi­li­sa­tio­nen, der Bedeu­tung der Mit­tel­la­ge und so fort abzu­se­hen. Gegen sol­che angeb­lich homo­ge­ni­sie­ren­den Ent­wür­fe wird das »Bemü­hen um das Erfas­sen und Ver­ste­hen von Dif­fe­ren­zie­run­gen, Gegen­sätz­lich­keit sowie wider­strei­ten­den Inter­es­sen­la­gen inner­halb die­ser Gebil­de« ein­ge­for­dert. (12) Ein­wän­de gegen die theo­re­ti­sche Selbst­ver­zwer­gung stel­len Aus­nah­men dar.

Der His­to­ri­ker Micha­el Stür­mer ver­öf­fent­lich­te einen Band im Rah­men der Sied­ler-Rei­he Deut­sche Geschich­te mit dem Titel Das ruhe­lo­se Reich. Er beschreibt die Geschich­te des Kai­ser­rei­ches von 1870 / 71. Die Zen­tral­macht mit einem Kranz an Nach­barn bedeu­te­te in der Pra­xis stets eine Lau­er­stel­lung, die die außen­po­li­ti­sche Agen­da maß­geb­lich bestimm­te. Auch im His­to­ri­ker­streit der 1980er Jah­re spiel­te die­se Betrach­tungs­wei­se eine Rol­le. Jür­gen Haber­mas denun­zier­te basa­le Vor­stel­lun­gen »von der alten euro­päi­schen Mit­tel­la­ge der Deut­schen« (Micha­el Stür­mer) und der »Rekon­struk­ti­on der zer­stör­ten euro­päi­schen Mit­te« (Andre­as Hill­gru­ber) als geo­po­li­ti­sches »Tam­tam«. (13)

Die­se macht­ab­leh­nen­de Grund­ten­denz hat sich nach der Wen­de von 1989 / 90 nicht geän­dert. »Die Mit­tel­la­ge und geo­po­li­ti­sche Gege­ben­hei­ten wer­den die deut­sche Poli­tik in höhe­rem Maße bestim­men, als man sich des­sen bewußt ist«, (14) schrieb Karl­heinz Weiß­mann 1993. Der von ihm erhoff­te »Rück­ruf in die Geschich­te« wur­de jedoch nicht vernommen.

Der frü­he­re Bun­des­prä­si­dent Horst Köh­ler ern­te­te eini­ge Jah­re spä­ter hef­ti­ge Kri­tik, als er for­der­te, Han­dels­we­ge müß­ten unter Umstän­den mili­tä­risch gesi­chert wer­den. Stell­ver­tre­tend für die Eli­ten-Sicht ist die Stel­lung­nah­me des ehe­ma­li­gen Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ters Franz Josef Jung anzu­füh­ren: Auf die Fra­ge, wo er die größ­ten geo­po­li­ti­schen Her­aus­for­de­run­gen oder gar Bedro­hungs­la­gen für Deutsch­land aus­ma­che, ant­wor­te­te er: »Die größ­ten geo­po­li­ti­schen Her­aus­for­de­run­gen sehe ich in der Kli­ma­po­li­tik«. (15)

Jungs Wahr­neh­mung ent­schei­den­der Inter­es­sen Deutsch­lands: »Die zen­tra­len Inter­es­sen Deutsch­lands sehe ich in einer inter­na­tio­na­len Frie­dens- und Kli­ma­po­li­tik«. (16) Der bes­te Beleg für die Unfä­hig­keit, echt-inter­es­sen­ge­lei­te­te Geo­po­li­tik zu betrei­ben, ist die ver­brei­te­te Ten­denz, die­se ein­fach auf Geo­öko­no­mik zu redu­zie­ren. (17)

– – –

(1) – Rudolf Kjel­lén: Der Staat als Lebens­form, Ber­lin 1924, S. 45.

(2) – Ebd., S. 89.

(3) – Vgl. Karl ­Haus­ho­fer: »Apo­lo­gie der deut­schen Geo­po­li­tik«, in: ­Edmund A. Walsh: Wah­re anstatt fal­sche Geo­po­li­tik für Deutsch­land, Frank­furt a. M. 1946, S. 26.

(4) – Vgl. stell­ver­tre­tend: Carl Schmitt: Völ­ker­recht­li­che Groß­raum­ord­nung mit Inter­ven­ti­ons­ver­bot für raum­frem­de Mäch­te. Ein Bei­trag zum Reichs­be­griff im Völ­ker­recht, 4., um ein Per­so­nen­re­gis­ter ergänz­te Auf­la­ge der Aus­ga­be von 1941, Ber­lin 2022.

(5) – Vgl. Carl Schmitt: Land und Meer: Eine welt­ge­schicht­li­che Betrach­tung, Stutt­gart 92020.

(6) – Vgl. Alfred T. ­Mahan: Der Ein­fluß der See­macht auf die Geschich­te 1660 – 1812, ND Her­ford 1967.

(7) – Hal­ford J. Mack­in­der: Demo­kra­ti­sche Idea­le und Wirk­lich­keit. Eine Stu­die zur Poli­tik des Umbaus, Nor­der­stedt 2020, S. 146.

(8) – Vgl. sein viel­be­ach­te­tes Buch Staat und Raum (Ber­lin 1928).

(9) – Vgl. Adolf Gra­bow­sky: Raum, Staat und Geschich­te. Grund­le­gung der Geo­po­li­tik, Köln / Ber­lin 1960, S. 31 – 34.

(10) – Ebd., S. 32.

(11) – Chris­ti­an Gra­ta­loup: Die Erfin­dung der Kon­ti­nen­te. Eine Geschich­te der Dar­stel­lung der Welt, aus dem Fran­zö­si­schen von Andrea Debbou, Darm­stadt 2021, S. 193 – 199, hier S. 193.

(12) – Statt vie­ler ähn­li­cher Vor­stel­lun­gen: Eck­art Ehlers: »Kul­tur­krei­se – Kul­tur­erd­tei­le – Clash of Civi­liza­ti­ons. Plä­doy­er für eine gegen­warts­be­zo­ge­ne Kul­tur­geo­gra­phie«, in: Geo­gra­phi­sche Rund­schau 48 (1996), S. 323.

(13) – Jür­gen Haber­mas: »Eine Art Scha­dens­ab­wick­lung. Apo­lo­ge­ti­sche Ten­den­zen in der deut­schen Zeit­ge­schichts­schrei­bung«, in: »His­to­ri­ker­streit«. Die Doku­men­ta­ti­on der Kon­tro­ver­se um die Ein­zig­ar­tig­keit der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Juden­ver­nich­tung, Mün­chen / Zürich 1991, S. 62 – 76, hier S. 75.

(14) – Karl­heinz Weiß­mann: Rück­ruf in die Geschich­te. Die deut­sche Her­aus­for­de­rung. Alte Gefah­ren – Neue Chan­cen, 2. erw. Auf­la­ge, Ber­lin 1993 (Buch­rück­sei­te).

(15) – Mar­tin Grosch: Geo­po­li­ti­sche Macht­spie­le. Wie Chi­na, Ruß­land und die USA sich in Stel­lung brin­gen und Euro­pa immer stär­ker ins Abseits gerät, Rein­bek 2022, S. 285.

(16) – Ebd.

(17) – So auch jüngst erkenn­bar bei Kat­rin Suder, Jan F. Kall­mor­gen: Das geo­po­li­ti­sche Risi­ko. Unter­neh­men in der neu­en Welt­ord­nung, Frank­furt a. M. 2022.

 

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