Der französische Geograph Philippe Boulanger ging 2015 davon aus, daß es immer noch eine Supermacht gebe: »Dank der Beherrschung aller Räume, ob zu Lande, zu Wasser, in der Luft oder im Weltraum, und dank eines leistungsfähigen militärischen Apparats« seien die USA die einzigen, die eine ihren Interessen dienliche geostrategische Vision der Welt umsetzen könnten.
Zugleich verwies er jedoch auf eine Verlagerung des »geopolitischen Gravitationszentrums vom Okzident nach Asien« und eine wachsende weltpolitische Komplexität durch Rußlands Wiedereintritt ins great game sowie auf das zunehmende politische Gewicht Chinas, ohne dabei Indien, Brasilien und Südkorea zu vergessen. (1) Boulangers nüchterne, um Objektivität bemühte Analyse entwirft somit die Konturen einer Neuformierung der globalen politischen Verhältnisse im 21. Jahrhundert, in der die USA darum ringen, ihren Status als – militärisch und ökonomisch dominierende – Weltmacht zu erhalten.
Zwar sah man nach dem Kollaps der Sowjetunion zunächst ein weltweites »new Athenian age of democracy« anbrechen, wie der damalige US-Vizepräsident Al Gore 1994 visionär mit Blick auch auf die wuchernde neue Kommunikationsstruktur des Internets verkündete. Tatsächlich aber befinden wir uns nicht erst mit dem seit 2014 schwelenden, jetzt aufgeflammten Krieg in der Ukraine in einer heißen Phase jenes globalen Ringens der USA.
Daß sich dabei unser Jahrhundert als »das erschütterndste und tragischste Zeitalter der Menschheit« entpuppen könnte, hatte der griechische Philosoph Panajotis Kondylis schon 1988 aus seiner Analyse längerfristiger Entwicklungen hin zu einer »multipolaren« Welt nach dem Kalten Krieg abgeleitet, (2) und seine Folgerungen sind unverändert gültig, wenn wir unsere Lage als Deutsche und Europäer ernsthaft bedenken wollen: »Ob und wie die Nation als politische oder auch kulturelle Einheit erhalten bleibt, hängt nicht von irgendeiner unwandelbaren Substanz ab, die ihr innewohnen soll, sondern von den langfristigen Erfordernissen der planetarischen Lage, genauer: von der Art und Weise, wie die Akteure diese Erfordernisse begreifen und sich darauf einstellen.« (3)
Dies scheint banal, ist als Einsicht aber unangenehm: So müssen wir uns ohne identitäre Romantik eingestehen, daß Europa und mit ihm vor allem Deutschland längst nicht mehr Subjekte, sondern Objekte einer globalen Politik sind, die von nichteuropäischen Mächten gemacht wird. Zudem lassen besonders die deutschen »Akteure« nicht erkennen, daß sie die Erfordernisse jener »planetarischen Lage« begreifen oder sich gar darauf einstellen können, nehmen wir weiterhin des Bundeskanzlers Amtseid als Verpflichtung auf eine »Staatsräson«, an der sich das Handeln der politischen Klasse zu orientieren hat: »dem Wohle des deutschen Volkes« zu dienen, seinen Nutzen zu mehren, Schaden von ihm zu wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes zu wahren und zu verteidigen.
Jenseits gelegentlicher Beteuerungen, das Beste für das Kollektivsubjekt des Grundgesetzes, das Volk, zu wollen, läßt sich kaum noch ein schlüssiges staatliches Handeln zu diesem Zweck feststellen – was allmählich zu einem ernsten Legitimitätsproblem des deutschen Staates wird.
Der Grund für das erratische Handeln unserer politischen Klasse liegt in ihrer Lagevergessenheit als Besiegte von 1945, wie sie der Politologe Hans-Joachim Arndt bereits in der westlichen Republik des geteilten Deutschland herauspräpariert hatte, (4) eine Diagnose, die Kondylis nach 1989 weiterhin teilt: »Zu jeder Zeit liefert die Ideologie der Sieger den Besiegten einen Rahmen zur Interpretation der Wirklichkeit« – eine solche inzwischen vollkommen internalisierte »Übernahme des Siegerstandpunktes« bildet den Schlüssel auch zur gegenwärtigen deutschen Politik. (5)
Ein Standpunkt, der bezogen und von dem aus geurteilt wird, ist immer an einen Standort gebunden, ob man will oder nicht: Er präformiert den Blick, bedingt die Perspektive. Die meisten Politiker, Journalisten, Wissenschaftler, Unternehmer und akademisch ausgebildeten Durchschnittsmenschen hierzulande richten ihre Weltsicht an scheinbar universellen Idealen aus, worüber sie den realen Standort vergessen haben, von dem aus der Rahmen für ihre Interpretation der Wirklichkeit gesteckt wird: »Diese Normen werden von den Mächten festgesetzt, die planetarische Politik in dieser oder jener Intensität treiben können, also von den Subjekten und nicht von Objekten planetarischer Politik.«
Als »Anhängsel einer planetarischen Macht« (6) urteilen die vermeintlich kosmopolitischen Deutschen also meist von einem Standpunkt aus, dessen Standort weder in Deutschland noch in Europa zu finden ist: Er liegt für die meisten, auch die urbanen Scheinlinken, »im Westen« und damit konkret in den USA, für einige seltene Fossile noch in der Sowjetunion, dem versunkenen Reich ihrer kommunistischen Träume.
Infolge dieser Lagevergessenheit ist man einem jenseits des Atlantiks verorteten, übermächtigen »Bündnispartner« vollends verfallen: Die BRD bildet dessen Brückenkopf auf dem europäischen Festland, der durch amerikanische Truppen mit atomarer Bewaffnung gesichert und von den Deutschen gehalten wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg als Sieger und Hegemon nur durch die Sowjetunion angefochten, in Westeuropa als Schutzmacht gegen die »Gefahr aus dem Osten« legitim und akzeptiert, hatten sich seit 1989 die Beurteilung der Lage durch die USA und damit auch ihre Stellung zu Europa ändern müssen – nicht jedoch der Standpunkt der deutschen Politik.
De Gaulles Versuch, für Frankreich durch die Force de frappe bzw. die Force de dissuasion nucléaire eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber den USA zu behaupten, ähnliche Vorstöße des frühen Franz Josef Strauß in Westdeutschland und vor allem aber Egon Bahrs neue Ostpolitik eines »Wandels durch Annäherung« der beiden deutschen Teilrepubliken hatten zwar gezeigt, daß eine von eigenen Interessen geleitete Politik selbst in der relativ starren Weltordnung des Kalten Krieges denkbar und möglich war.
2007 hingegen sollen die Kanzlerin Merkel und ihr damaliger Außenminister Steinmeier ein Angebot des französischen Präsidenten Sarkozy, sich an der Entscheidungsgewalt über die für Europa bestimmten französischen Atomwaffen zu beteiligen, sogleich abgelehnt haben (7) – tempora mutantur. Von dieser politischen Klasse eine eigenständige, auf Deutschland bezogene Lagebeurteilung oder gar Initiative für eine kontinentaleuropäische Friedensordnung zu erwarten ist unrealistisch, denn ihre raison d’être liegt fern der Heimat, wenn sie denn überhaupt eine hat.
Die Spielräume sind heute, in der neuen »Multipolarität«, auch für Regional- und Mittelmächte größer geworden, das Spiel freilich auch erheblich riskanter als in jenem einst durch das atomare Patt stillgestellten West- und Mitteleuropa. Die Gefahr jedoch, auf dem »Grand Chessboard« für fremde Interessen als Bauern ohne eigene Option geopfert zu werden, ist groß und offensichtlich wie selten zuvor. Kurzfristig läßt sich dagegen wenig ausrichten, dafür fehlt der aktuellen politmedialen Klasse in Deutschland – parteienübergreifend – jene Mentalität, die in Frankreich aufgrund einer Prägung der politischen Eliten in Institutionen wie der Science Po und der vormaligen École Nationale d’Administration noch beobachtet werden kann, auch wenn es dort keinen de Gaulle mehr gibt: die Selbstverständlichkeit eigener nationaler Interessen und deren Vorrang in der Außen- und Bündnispolitik. (8)
Was also tun? Zwar kann der Wechsel von Stille zu Sturm sehr rasch erfolgen in einem realiter autokratischen Land, dessen herrschende Klasse versucht, die innenpolitische Lage repressiv und medial unter Kontrolle zu behalten, deren Ernst aber verkennt wie einst Ceaușescu. Die alte jakobinische Hoffnung auf einen revolutionären Elitenaustausch wäre hier jedoch verblendet – eine aufgrund ihres Selbstverständnisses dafür prädestinierte Linke gibt es nicht mehr, sie hat sich längst unter die Fittiche der Bourgeoisie begeben, wie Lenin sagen würde. Von der marginalisierten, unverdrossen staatstragenden Rechten braucht nicht gesprochen zu werden, auf eine »Massenbasis« wäre in beiden Fällen nicht zu bauen.
Wenn Deutschland die ökonomische und politische Krisenkulmination regenerationsfähig überstehen will, werden sich aus schierer Not Fachleute von den Ebenen unterhalb der politisch besetzten Leitungsfunktionen und noch zurechnungsfähige Vertreter jener politischen Klasse finden müssen, die das technologisch, organisatorisch und zivilisatorisch komplexe System BRD zumindest als Rumpf zu retten versuchen. Solches wird kein Jung-Siegfried aus der Provinz leisten können, und in Etzels Halle dürfen die Deutschen kein drittes Mal ziehen, so heroisch-kleidsam derlei Mythen für historisches Versagen auch sein mögen.
Auf mittlere und längere Sicht wäre es indessen ebenso illusionär und dogmatisch, fähigen und ehrgeizigen Nachwuchs aus den eigenen Reihen davon abbringen zu wollen, sich unter genannte Fittiche der Bourgeoisie zu begeben, also in Parteien, Ämtern, Behörden, Medien, Universitäten, Schulen oder Unternehmen Karriere zu machen. Neben einer lebenstüchtigen Spezialisierung in einem wertschöpfenden oder ‑erhaltenden Beruf, der Gründung und der Erhaltung eigener Familien ist dabei weiter das zu tun, was noch nicht genug getan wird: in diesem Nachwuchs ein Bewußtsein der eigenen Lage und Aufgabe zu entwickeln, ihm nicht durch aktionistische Spontaneität eine bürgerliche Laufbahn zu verbauen, sondern sie vielmehr zu fordern, und ermöglichen, daß die Besiegten von 1945 sich allmählich und endlich aus dieser sozialpsychologischen Zwangsjacke befreien und eine neue, den deutschen Interessen dienliche politmediale Klasse heranwächst.
Zeitschriften, Zeitungen, Sender, Netzplattformen, Stiftungen, Institute und Akademien bleiben die unverzichtbaren Medien und Mittel auf diesem Gebiet der Kultur, um einem vernünftigen politischen Diskurs in der zutiefst neurotischen, irrationalen »Öffentlichkeit« der BRD vorzuarbeiten: Das sind die Mühen der Ebenen, und diese Ebenen erstrecken sich noch in weite Ferne.
Eine wichtige Binsenweisheit bleibt, daß bestehende Strukturen zu nutzen, auszubauen und neue zu errichten sind – es bedarf hier der massiven Unterstützung bereits finanzkräftiger und organisatorisch stabiler Institutionen, etwa einer Partei, die freilich so gut wie möglich versuchen muß, parteitypischer Klientelwirtschaft zu entsagen, um auf Qualität der Personalauswahl für genannte Strukturen zu setzen.
Ebenso wichtig, wenn nicht Schwerpunkt muß eine Art von grundsätzlichem Curriculum sein, das darauf zielt, ein lageadäquates Denken im Sinne des Gemeinwohls und eine stete intellektuelle Neugier zu erzeugen. Dies ist deswegen nötig, weil spätestens seit unserem Staatsphilosophen Hegel einsichtig sein müßte, daß schon Kaffee und Zucker auf dem Tisch eines schwäbischen Landpastors keine Produkte dieser Provinz sind, sondern »sogleich auf einen ganz anderen Zusammenhang, auf eine fremdartige Welt und deren mannigfache Vermittlungen des Handels, der Fabriken, überhaupt der modernen Industrie hinweisen.« (9) Diese Einbindung auch des abgelegensten deutschen Dorfes in den so komplizierten »Weltverkehr« macht bereits die Übernahme eines Bürgermeisteramts zu einer enormen Herausforderung, nicht nur für oppositionelle Kräfte – dafür muß man geeignet sein, darauf muß man sich vorbereitet haben.
Politik als Beruf kann aber kaum Spezialwissen für alle nötigen Bereiche in einem Menschen vereinigen. Entscheidend ist daher vor allem die Fähigkeit, gegebene Probleme richtig einzuordnen und zu beurteilen, sich dabei geeigneter Stäbe mit den nötigen Fachleuten zu bedienen und diese zu führen, um so zu angemessenen Entscheidungen zu kommen und diese umzusetzen.
Arndt hatte daher in seinem Gegenentwurf zur Praxis etablierter Politologie eine an konkreten Gegebenheiten orientierte Lageanalyse gefordert und dafür, als ehemaliger Marineoffizier, modellhaft auf Elemente des militärischen Führungsprozesses zurückgegriffen: Wie ein Kreislauf, der immer wieder neu ansetzen muß, ist ein klares Lagebild durch Erhebung möglichst vieler Daten zu gewinnen, das eine Beurteilung dieser Lage bzw. Lageänderungen vom eigenen Standort und dem Standpunkt des eigenen Auftrags aus erlaubt, wobei die Kräfte im Felde abgewogen werden und alle räumlichen, zeitlichen und sonstigen Faktoren zu bedenken sind.
Dies mündet in eine Prüfung der eruierten Handlungsmöglichkeiten, aus der ein Entschluß für die sinnvollste Option hervorgeht. In der militärischen Führerausbildung wird dieser formalisierte analytische Prozeß immer wieder eingefordert und somit habitualisiert, er geht bestenfalls vom Wissen in ein Können über.
Übertragen auf die Politik, sind bei einer solchen dynamischen Analysestruktur auch Kategorien zu berücksichtigen, die militärisch vor allem auf der operativen und strategischen Ebene greifen, daher entsprechend in den Führungsgrundgebieten und Organisationsbereichen abgebildet sind, sich aber auch in den ministerialen Ressorts und den Behörden der Politik wiederfinden.
Es sind dies jene »Räume«, die von Geostrategen hinsichtlich Ressourcen, Transport, Mobilität, Kommunikation und Kriegführung besonders in den Blick genommen werden, aber auch von uns hinsichtlich der globalen Wechselwirkungen mit selbst kleinsten lokalen Einheiten immer mitzubedenken sind: Land, Gewässer, Luftraum, Orbit und Weltall, aber auch »die Infrastrukturen, die Medienproduktion, der Medienkonsum und der Informationsfluß« im Cyber- und Informationsraum, (10) der zugleich einen höchst wirksamen Psychoraum formt.
Man mag sich fragen, was ein Bürgermeister mit einem Cyber- und Informationsraum, gar mit Orbit und Weltall zu schaffen hätte – spätestens bei seinen vorsorglichen Überlegungen, was im Falle eines Blackouts in seinem beschaulichen Beritt noch funktionieren würde, muß er sich mit Dingen wie Satellitenfunk und Netzwerkstabilität auseinandersetzen. Daher ist es für alle Ebenen der politischen Führung und Beratung unabdingbar, ein Verständnis all dieser genannten Zusammenhänge zu gewinnen, das der Größe des jeweiligen Verantwortungsbereiches angemessen ist.
Wer es gelernt hat, in solchen Kategorien zu denken, und daran gewöhnt wurde, konkrete Lagen auf den eigenen Standort zu beziehen, zu beurteilen und daraus zu folgern, der begibt sich spielerisch und doch systematisch immer wieder auch auf den Standort und den Standpunkt seiner Konkurrenten und Gegner, um aus deren Sicht Lage und Handlungsoptionen einschätzen zu können.
Nehmen wir probeweise etwa die Sicht einer global agierenden Supermacht ein, der es um die Beherrschung aller Räume weltweit geht, erscheint unsere Lage in Europa und der deutschen Provinz schlagartig in einem anderen, fahleren, für den fernen Hegemon unbedeutenden Licht – das kann weg. Auf dieses haben wir uns einzustellen: Lernen, lernen und nochmals lernen!
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(1) – Vgl. Philippe Boulanger: Géographie militaire et géostratégie. Enjeux et crises du monde contemporain, Paris 2015, S. 9, 15.
(2) – Vgl. Panajotis Kondylis: Das Politische im 20. Jahrhundert. Von den Utopien zur Globalisierung, Heidelberg 2001, S. 12.
(3) – Kondylis: Das Politische im 20. Jahrhundert, S. 109.
(4) – Vgl. Hans-Joachim Arndt: Die Besiegten von 1945. Versuch einer Politologie für Deutsche samt Würdigung der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1978.
(5) – Kondylis: Das Politische im 20. Jahrhundert, S. 7 f.
(6) – Panajotis Kondylis: Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg, Berlin 1992, S. 3 f.
(7) – Vgl.»Sarkozy bot Deutschland Atomwaffen an«, in: Der Spiegel vom 15. September 2007.
(8) – Vgl. Markus C. Kerber: Europa ohne Frankreich? Deutsche Anmerkungen zur Französischen Frage, Berlin 2017.
(9) – Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt a. M. 1997, S. 339.
(10) – Philippe Boulanger: Planète médias. Géopolitique des réseaux et de l’influence, Malakoff 2021, S. 11.