Wenn die Landkarte einer beliebigen Weltregion lange und klare Grenzen aufweist, dann deutet das immer auf frühere Kämpfe hin. Hunderte Kilometer Grenzlinie wie mit dem Lineal gezogen oder an sogenannten natürlichen Hindernissen wie Flüssen verlaufend – sie erinnern stets an harte Auseinandersetzungen, an deren Ende brutale Entscheidungen standen, manchmal sogar Völkermorde. Eine dieser Grenzen findet sich im östlichen Mittelmeer. Es ist die zwischen Griechenland und der Türkei.
Heutzutage endet die Türkei an der Küste des kleinasiatischen Festlandes, während die Inseln in der Ägäis samt und sonders zum griechischen Staatsgebiet gehören. Das gilt, obwohl sie teilweise nicht nur in Sicht‑, sondern gleich in Schwimmweite vom türkischen Ufer entfernt liegen, wie es zuletzt die immer neuen Anlandungen von Flüchtlingen auf griechischen Inseln zeigten, die nur einen kurzen Weg aus der Türkei hatten.
Es ist nun recht genau hundert Jahre her, daß dieser Zustand so besteht. In den etwa zweieinhalb bis dreitausend Jahren davor wohnten Griechen auf allen Inseln, sondern auch an allen Küsten des ägäischen Meeres, sämtlichen Kriegen und sonstigen Umbrüchen zum Trotz. Dieser Teil des östlichen Mittelmeers kann damit als einer der ältesten und sicher auch der produktivsten Kulturräume des Planeten gelten. Es gab Zeiten, da wurden der gesamte Mittelmeerraum und Vorderasien von dort aus »hellenistisch« geprägt.
Wenn dies im Jahr 1922 zu einem Ende kam, dann als Folge einer ganzen Kette von Entscheidungen der sogenannten großen Weltpolitik und natürlich auch als letzte Konsequenz von Jahrhunderten des zähen türkisch-osmanischen Eroberungswillens. Letzterer verwandelte sich zuletzt in einen wütenden Kampf um nationale Selbstbehauptung, in dem vor nichts mehr zurückgeschreckt wurde.
Auf einer machtpolitischen Ebene ist dies relativ zügig erzählt. Das türkisch-osmanische Staatsgebiet umfaßte auch um 1900 herum neben dem kleinasiatischen Kerngebiet der heutigen Türkei und Restbesitzungen in Südosteuropa noch beachtliche Teile Nordafrikas, inklusive Libyen und Ägypten. Dazu kamen die besseren Gegenden der arabischen Halbinsel, inklusive der heiligen Stätten des Islam, sowie das, was damals der »fruchtbare Halbmond« genannt wurde, also der heutige Irak, Syrien, Libanon und Jordanien. Kurz gesagt, handelte es sich um Filetstücke von ungeheurem wirtschaftlichen und strategischen Potential, im Besitz eines Staates, dem es wie fast allen nichteuropäischen Reichen unmöglich sein würde, sich in den Zeiten der technologischen Überlegenheit Europas zu behaupten.
Neben der Zerschlagung der europäischen Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn geriet denn auch die Aufteilung des osmanischen Gesamtbesitzes zum Hauptthema des Ersten Weltkrieges. In mehreren Geheimabkommen teilten Großbritannien, Frankreich und Italien das Osmanische Reich während der Kampfhandlungen schon einmal unter sich auf und vergaßen auch nicht, Teile davon anderen zu versprechen, namentlich Palästina sowohl als »jüdische Heimstatt« wie gleichzeitig arabischen Staat zu deklarieren.
Dies schuf jene »Nahost-Konflikte«, die auch hundert Jahre später noch die täglichen Abendnachrichten füllen. Unabhängig davon wurden Lizenzen und Schürfrechte in der ganzen Region Richtung Westen vergeben. Sie bildeten den Grundstock für manch große Vermögen. In diese Geschäftsbereiche stießen denn auch schnell die Vereinigten Staaten nach ihrem Kriegseintritt 1917 vor.
Es gab jedoch noch zwei ganz andere Themen, die letztlich zur griechischen Katastrophe des Jahres 1922 beitragen sollten. Da gab es zum einen die Sehnsucht der christlich-orthodoxen Welt nach der alten Hauptstadt des römischen Reiches, die als Konstantinopel oder, griechisch verballhornt, »Istanbul« der aktuelle Amtssitz des türkischen Staatschefs war. »Über Berlin nach Konstantinopel« lautete eine der internen Parolen, unter denen der russische Zarenhof deshalb 1914 den Krieg gegen Deutschland vom Zaun gebrochen hatte. Aus russischer Sicht stand Berlin seit den Zeiten von Bismarcks »Berliner Kongreß« dem großen Siegeszug Richtung Mittelmeer im Weg, der in der Befreiung der christlichen Hauptstadt vom islamischen Joch gipfeln sollte.
Nun gab es seit 1917 keinen russischen Zarenhof mehr, und die neuen Machthaber vor Ort strebten zwar auch nach Berlin, aber aus anderen, nämlich aus weltrevolutionären Gründen. An die Stelle des russisch-orthodoxen konnte deshalb der griechisch-orthodoxe Wille zur Rückeroberung Konstantinopels treten, jener Stadt, in der immer noch (und bis heute) das Oberhaupt der griechisch-orthodoxen Kirche residiert. Und zu diesem Programm, für das die griechische Regierung 1918 die Zustimmung der Siegermacht Großbritannien gewinnen konnte, trat dann noch als Abrundung die Rückgewinnung der sonstigen griechischen Siedlungsgebiete in Kleinasien für den griechischen Staat hinzu.
Ein solches Projekt klang damals weitaus weniger exotisch als heute. Daß nach dem gerade zu Ende gegangenen »Großen Krieg« die Welt neu verteilt würde, galt sowieso als ausgemachte Sache. Die Vervielfachung des Gebietes von Serbien oder die Diskussion über die Neugründung eines Polen von fast imperialem Ausmaß gehörten zu den Produkten dieser Stimmung. Auch die bürgerlich-liberale Regierung Italiens hatte sich vor diesem Hintergrund ein ansehnliches Stück im türkischen Kleinasien gesichert, darunter die heute so beliebte Urlaubsstadt Antalya. Man gedachte den damals noch vorhandenen, starken Bevölkerungsüberschuß Italiens dort anzusiedeln und auf die damals vergleichsweise überschaubare Zahl ethnischer Türken dabei keine besondere Rücksicht nehmen zu müssen.
An dieser Stelle allerdings trat dann das oben angedeutete weitere Thema zutage, das die griechischen Revisionsträume in einen Alptraum verwandeln sollte: der pure Selbstbehauptungswille der türkischen Nation.
Das alte Osmanische Reich war allein schon durch seinen oben geschilderten Umfang unvermeidlich ein Vielvölkerstaat gewesen. Zusammengehalten wurde er durch den Machtwillen der Monarchie und dem Selbstanspruch seiner Herrscher, als Kalifen und Beschützer der heiligen Städten jeweils auch weltliches Oberhaupt der islamischen Welt zu sein. Mit dem Kriegseintritt auf deutscher Seite im Jahr 1914 rief dieses Oberhaupt daher den »Djihad«, den Heiligen Krieg gegen den christlichen Westen in London und Paris aus. Er fand aber eher wenig Resonanz in der islamischen Welt.
Dieser Teil der osmanischen Staatsidee konnte als überholt gelten, und bereits früher hatte sich abgezeichnet, daß auch sonst vor allem der türkische Nationalgedanke die kommende Basis des türkischen Staates sein würde – mit allen Folgen für diejenigen, die als »national unzuverlässige« Minderheiten neuerdings zur Gefahr erklärt wurden.
Während des Ersten Weltkrieges traf dies zunächst die in der Türkei lebenden christlichen Armenier. Den Skandal, »Armenier schlachten«, hatte es zwar bereits in den Jahrzehnten vor dem Krieg in türkischen Städten immer wieder gegeben. Klagen über türkische Ausschreitungen gegen die armenische Minderheit füllten die Weltpresse. Unter dem Druck des Krieges mit Rußland wurden die Armenier insgesamt dann jedoch aller möglichen weiteren Dinge wie Zersetzung oder Sabotage verdächtigt und zur »Fünften Kolonne« erklärt. Daraufhin derart in Massen und unter schwierigen Umständen aus der angeblichen Gefahrenzone deportiert, starben sie in Millionenzahl, auch gegen den Willen und gegen den Einspruch des deutschen Verbündeten bei türkischen Stellen.
An anderer Stelle griff das deutsche Kaiserreich erfolgreicher ein. Denn auch die noch nicht sehr zahlreiche jüdische Siedlungsbewegung in Palästina, der sogenannte Jischuw, geriet im Krieg nach 1914 als potentiell unzuverlässig ins Visier des türkischen Staates. Begünstigt wurde dies in diesem Fall zudem dadurch, daß ein sehr großer Teil der jüdischen Siedler zu dieser Zeit eben aus Rußland stammte und der Verdacht des russischen Agententums somit vordergründig noch naheliegender schien. Hier gelang es dem deutschen Auswärtigen Amt jedoch, die Existenz des Judentums in Palästina über die Weltkriegszeit zu retten, wie nicht wenige dankbare Zionisten später in ihren Memoiren einräumten. 1918 trotzte deutscher Einfluß der Türkei sogar noch das heute weitgehend vergessene Versprechen ab, in Palästina jüdische Autonomie zu ermöglichen.
Blieben nun also die ebenfalls christlichen orthodoxen Griechen, die den Weltkrieg innerhalb der Türkei trotz gelegentlicher Ausschreitungen bis dahin einigermaßen unbeschadet überstanden hatten. Gerade sie gerieten nun weitgehend ohne eigenes Zutun tatsächlich in die Rolle als »Fünfte Kolonne« und Spaltungsursache, die bei den Armeniern so blutig geendet hatte.
Das griechische Kernland hatte sich 1916 entschlossen, ebenfalls in den Großen Krieg einzutreten. Mit im Blick hatte die Staatsführung unter Ministerpräsident Venizelos damals schon die Aussicht auf entsprechende territoriale Beute. Im Umfeld der alliierten Friedenskonferenz in Paris gelang es der griechischen Delegation auch tatsächlich, für solche Pläne eine Mehrheit an scheinbar entscheidenden Stellen zu gewinnen.
Eine ansehnliche Fraktion im britischen Foreign Office hatte die griechische Sache ohnehin hinter sich gehabt. Nun traten im Mai 1919 noch der Präsident der USA und der Regierungschef Frankreichs dieser Sache bei und erklärten das heutige Izmir (Smyrna) nebst angrenzendem Umland zum griechischen Mandat. Schon wenige Tage später landeten dort griechische Truppen. Die Stimmung unter den ansässigen Griechen soll ausgelassen gewesen sein, so wird berichtet.
Eine türkische Reaktion bestand vorläufig in lautstarken Protesten und Demonstrationen in verschiedenen Großstädten. Die Regierung selbst stand unter Aufsicht der Siegermächte und betrieb im wesentlichen das, was man in Deutschland zur selben Zeit »Erfüllungspolitik« nannte. Es war nur ein historischer Zufall, daß ebenfalls im Mai 1919 in Samsun am Schwarzen Meer ein Mann namens Kemal Pascha seinen Dienst antrat. Er sollte als Armee-Inspekteur im Auftrag der Regierung des Sultans, die in Istanbul unter der Aufsicht der Entente stand, die osmanischen Truppen demobilisieren.
Kemal Pascha tat in der Folgezeit ganz andere Dinge und zettelte in der Türkei schließlich eine kompromißlose Revolution nationalen Ausmaßes an, die in den kommenden Jahren sämtliche Teilungs- und Besatzungspläne des Westens über den Haufen warf. Diktate des Westens wurden nicht mehr »erfüllt« und konnten auch nicht mehr durchgesetzt werden. Die westliche Öffentlichkeit war der ewigen Kriege überdrüssig, der amerikanische Präsident hatte seine Pariser Entscheidungen in Washington nicht durchsetzen können, die Unterstützung bröckelte allerorten. So sahen sich die Griechen in Kleinasien im Jahr 1922 weitgehend allein der türkischen Übermacht gegenüber.
Die Briten mochten bis zuletzt nicht von ihren Interessen lassen. Nur eine direkte militärische Aktion konnte helfen, und so verfaßten der britische Premier Lloyd George und der allzeit kriegsbereite Minister Winston Churchill das sogenannte Chanak-Kommuniqué. Sie riefen darin die britischen Dominions, ihre Herrschaftsgebiete also, ohne vorherige Konsultation zur Hilfeleistung gegen die Türkei auf, beschleunigten als Ergebnis aber nur den Sturz der eigenen Regierung. Denn die Dominions nahmen keine Befehle mehr aus London entgegen, und im September 1922 trat Lloyd George zurück.
Um wenigstens einige britische Ziele zu retten, vor allem solche Dinge wie die freie Einfahrt britischer Kriegsschiffe ins Schwarze Meer, durchschlug Lord Curzon unter der neuen Regierung den aus der nationalen Selbstbestimmung gewobenen gordischen Knoten und erlaubte der Türkei die Vertreibung aller in Kleinasien ansässigen Griechen (ca. 1,35 Millionen), nicht nur von der Ägäis-Küste, sondern auch aus den Schwarzmeer-Regionen.
Das Schicksal der so vertriebenen Griechen stellte ein Novum der europäischen Politik dar, an das noch während der Versailler Konferenz kaum gedacht worden war, obwohl die großen deutschen und ungarischen Minderheiten in den neuen Nachbarstaaten vielen als Problem und als künftiger Unruheherd galten. Es sollte aber ein Präzedenzfall werden, der die Phantasie britischer Politik in den nächsten Jahrzehnten beschäftigte und während der dreißiger Jahre auch schon als künftige Lösung für Mitteleuropa gehandelt wurde.
Der tschechische Exilpräsident forderte 1941 unter ausdrücklicher Berufung auf das Vorbild Griechenland den Bevölkerungsexodus der Deutschen aus Böhmen und Mähren. So gibt es heute auch in Mitteleuropa manch klare und gerade Grenze zu begutachten.