Die millionenfache Verbreitung der Kunde vom Übermenschen und seinem erlösenden Willen zur Macht wird neben den verheerenden Zerstörungen des Ersten Weltkrieges Nikolaj Velimirovic (1881 – 1956) angeregt haben, diesem Übermenschen und seinem unbedingten Machtwillen mit seinem Werk Worte über den Allmenschen einen orthodox-christlichen Gegenentwurf entgegenzuhalten.
Der reichbegabte, mehrsprachige Velimirovic, seit 1920 Bischof von Ohrid, war dank seiner Belesenheit und zahlreicher Studienaufenthalte an den geistigen Zentren Europas ein profunder Kenner der Philosophie und der Literatur seiner Gegenwart. Zwar sah Velimirovic wie Nietzsche überdeutlich, daß die bestehende Welt im argen liegt, doch deutet er als orthodoxer Christ diesen Zustand völlig anders als der lutherisch geprägte Nietzsche. Die Welt mag ächzen und wie in Wehen liegen, aber sie liegt eben nur in Wehen und nicht in Agonie.
So läßt Velimirovic den schwarzen Raben Ananda in märchenhaften, zuweilen surrealen Bildern die Welt in ihrer ganzen Fülle durchwandern und das Leben und Weben aller Kreatur, die ihm auf seinen zahllosen Wegen begegnet, betrachten. Der schwarze Rabe nimmt das Sein und das Leiden der Geschöpfe nicht bloß nüchtern wahr, sondern nimmt in seinem Willen zum echten Verständnis, manchmal bis zur Identifikation, auch zutiefst Anteil daran. Velimirovics Ananda ist nicht so sehr ein Intellektueller, der sich aus der luftigen Höhe der Theorie belehrend an sein Publikum richtet, sondern eher ein brüderlicher Nächster, der sich das Erleben der anderen zu eigen gemacht hat und wohl weiß, wovon er spricht, wenn er wie zum Trost den Allmenschen verkündet.
Dieser zerstört nicht wie der Übermensch alles vermeintlich Überlebte im Vertrauen auf einen anonym waltenden, blinden Mechanismus, der alles schon irgendwie richten wird, sondern trägt das Sein und das Leiden aller Kreatur, der belebten wie der unbelebten, in sich. Dabei führt der Allmensch alles Zerbrochene und Getrennte in sich zur ursprünglichen Vollendung wieder zusammen. In seinen mönchhaft-selbstvergessenen Zügen lebt der schwarze Rabe Velimirovics manche Eigenschaft des Allmenschen bereits vor.
In gewisser Weise ist es bedauerlich, daß dieses lesenswerte Buch nach gut hundert Jahren nicht etwa veraltet ist, sondern aktueller denn je, da Nietzsches Übermensch und seine Heilsversprechen nicht aus der Mode gekommen, sondern heute nur vom Transmenschen der Transhumanisten abgelöst worden sind. Die (streckenweise zwar holprige) deutsche Übersetzung von Nikolaj Velimirovics Einwänden gegen allzu einfache Rezepte mit der Brechstange der Immanenz kommt daher zur rechten Zeit und sei jedem Zeitgenossen mit Sinn für die Poesie des Daseins empfohlen, den der allenthalben mit hohem Aufwand gepredigte Menschgott des Transhumanismus ratlos macht.
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Heiliger Bischof Nikolaj Velimirovic: Worte über den Allmenschen, Wachtendonk: Edition Hagia Sophia 2022. 266 S., 19,50 €
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