Bloß ähnlich, da es bei der Mahler mehr ein erotischer, bei der von Meysenbug mehr ein denkerischer (»intellektuell« wäre fast zu hoch gegriffen) Magnetismus war, der hier wirksam wurde. Bei beiden Frauen stehen wir Nachgeborenen vor einem Rätsel. In unserem heutigen Koordinatensystem (wir wähnen uns im Kulturfeuilleton) könnten sie kaum punkten. Alma wäre eine weit »herumgereichte« Influencerin, Malwida – nun: eine Art Elke Heidenreich? Eine Nena?
Spaß beiseite. Malwida (ein aus den Namen der Paten zusammengezogenes Kunstwort) von Meysenbug (1816 – 1903) wurde als neuntes von zehn (Wikipedia) oder zwölf (Radkau) Kindern in Kassel geboren. Jahrzehnte ihres Lebens verbrachte sie mit der Mutter in Detmold, den großen Rest streifte sie als Muse durch die Welt: Sie verbrachte Monate oder Jahre in Florenz, Nizza, London, Bayreuth, Bern, auf der Insel Wight und an zahlreichen anderen Orten. Wir wüßten gern, wie sie diesen rastlosen Lebensstil finanzierte! Wir erfahren es nicht.
Sie war eng, teils sehr eng befreundet mit Nietzsche, Richard Wagner (sie war Trauzeugin bei der Hochzeit mit Cosima; Wagner äußerte sich später unfein – »demokratische alte Jungfer, überspannt« – über die Freundin), Romain Rolland, sie pflegte Freundschaften mit und wurde verehrt von Marie von Ebner-Eschenbach, Lou Salomé, Jules Michelet, Giuseppe Mazzini, Ellen Key, Turgenjew und Ibsen; sie, einst aufgrund ihrer politischen Neigung als »Malwida Bismarckowa« verspottet, hatte nächsten Kontakt zu Lothar Bucher, Bismarcks rechter, besser »linker« Hand.
Malwida (die nie eine Schule besucht hatte, aber mehrere Sprachen glänzend beherrschte) dichtete, schrieb und übersetzte daneben allerlei, wobei sie erst durch ihre Memoiren einer Idealistin (französische Erstausgabe 1869, komplizierte Rückübersetzung durch von Meysenbug Jahre später) und 1898 durch den Lebensabend einer Idealistin breit gefeiert wurde. Diese Bücher waren echte Publikumserfolge.
Wir wundern uns. Was war das für eine Frau? Wirkmächtig, x‑fach erwähnt, reichlichste Korrespondenzen, engster Kontakt zur Pädagogenschule der Fröbels (in Preußen wurden 1851 die »revolutionären Kindergärten verboten), aber dennoch in keinem »feministischen« Frauenlexikon zu finden? Sie galt sogar als »häßlich« und als scheu in Gesellschaft? Und dennoch standen täglich (1896) pro Tag sieben bis acht Besucher auf der Schwelle, die das Gespräch mit der «extrem ambivalenten« (Radkau) Publizistin suchten?
Joachim Radkau nun (*1943) ist als Professor für Neuere Geschichte ein geübter wie kluger Schreiber (siehe Sezession 77, April 2017). Hier hat er ein ziegelsteinschweres Werk abgeliefert – er hat alles gesichtet, was zu der von Meysenbug zu finden war. Eine Mammutaufgabe! Wie hat sie ihre Mitemigranten Karl Marx und die Marxianer gehaßt! Wie sehr schwärmte sie – heute kaum vermittelbar – für politische Attentäter!
Aber, ach: Hätte Radkau sich auf ein Drittel beschränkt! Hätte er verdichtet! Wäre er auch nur annähernd chronologisch vorgegangen! Hätte er Dutzende Wiederholungen gespart! Wir lesen x‑fach, daß Malwida hier und dort »extrem ambivalent« war. Ihre »innere Gespaltenheit« (zu fast allen Themen der Zeit, von der Frauenemanzipation bis zur nach England gewanderten Emigrantenklientel im 1848er-Gefolge) überwölbt alles. Gelegentlich führt uns Radkau auch auf falsche Fährten, beispielsweise wenn er Malwidas »leidenschaftliche Liebe« zu Olga erwähnt, »die größte Liebe ihres Lebens«.
War sie Lesbierin? Wohl kaum. Olga war eine der beiden Töchter des russischen Intellektuellen Alexander Herzen, denen die kinderlose und unverheiratete von Meysenbug eine treue Erzieherin war. Ohnehin scheint Radkau häufig ein Klatsch-Publikum bedienen zu wollen. »Welch ein Stich in ihre Seele!« kommentiert er, und überhaupt ist an andeutungsreichen Ausrufezeichen kein Mangel.
Etwa fünfzigmal leitet Radkau ein Meysenbug-Zitat mit exakt den Worten ein, daß es ein »lohnenswertes« sei. Er arbeitet sich über lange Seiten daran ab, was Malwida mit dem Begriff »idealistisch« meinte. Dabei ist wenigstens das recht schnell klar: Malwida war einfach entflammt. Eine Flamme, die je nach Wind loderte.
Mit Erkenntnistheorie hatte das wenig zu tun. Bei Radkau entsteht nolens volens am Ende ein fast lächerliches Bild einer Frau, die die Geistesgrößen ihrer Jahrzehnte, ja: unbegreiflich, faszinierte. Wie schade.
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Joachim Radkau: Malwida von Meysenbug. Revolutionärin, Dichterin, Freundin: eine Frau im 19. Jahrhundert, München: Hanser 2022. 590 S., 38 €
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