Ian Morris: Geographie ist Schicksal

Einen Tag nach dem Referendum am 23. Juni 2016, als sich eine Mehrheit der Briten für den Austritt aus der Europäischen Union entschieden hatte, entschloß sich Ian Morris (*1960), der seit 1995 an der Stanford University in Kalifornien lehrt, das vorliegende Buch zu schreiben.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

So steht es im Vor­wort, in dem Mor­ris auch gleich her­vor­hebt, daß sein Buch ganz anders sei als die zahl­rei­chen ande­ren über den Brexit, der am 31. Janu­ar 2020 erfolg­te. Denn, der Unter­ti­tel deu­tet es an, Mor­ris ist ein Freund der lan­gen Lini­en und ver­steht sich als Ver­tre­ter einer »Big Histo­ry«: Er stu­diert Trends, die sich über Jahr­tau­sen­de erstrecken.

Daß der Brexit etwas mit der letz­ten Eis­zeit zu tun haben soll, nach deren Ende der Mee­res­spie­gel stieg und die Bri­ti­schen Inseln vom Fest­land trenn­te, ist über­ra­schend und nahe­lie­gend zugleich. Denn ohne die Insel­la­ge wäre die bri­ti­sche Geschich­te zwei­fel­los anders verlaufen.

Aber seit­dem ist viel pas­siert, auch wenn die The­men des Brexit, »Iden­ti­tät, Mobi­li­tät, Wohl­stand, Sicher­heit und Sou­ve­rä­ni­tät«, die­je­ni­gen waren, ent­lang derer man schon immer die Aus­wir­kun­gen der Geo­gra­phie am deut­lichs­ten spü­ren konnte.

Der Titel des Buches stellt mit »Geo­gra­phie ist Schick­sal« eine ziem­lich star­ke The­se (die manch­mal Napo­le­on zuge­schrie­ben wird) auf, wenn man dar­un­ter geo­po­li­ti­schen Deter­mi­nis­mus ver­steht. Aber Mor­ris sieht Geo­gra­phie weni­ger als Schick­sal denn als Her­aus­for­de­rung für den Men­schen: »Wir sind weder die Skla­ven noch die Her­ren des Schick­sals. Das Geheim­nis des Erfolgs besteht dar­in zu ver­ste­hen, in wel­che Rich­tung sich der Kar­ren bewegt, und her­aus­zu­fin­den, wie man das meis­te dar­aus machen kann.« Die Geo­gra­phie ist der Schlüs­sel zum Ver­ständ­nis des Kar­rens der Politik.

Wer von die­sem Buch groß­ar­ti­ge geo­po­li­ti­sche Ein­sich­ten erwar­tet, dürf­te ent­täuscht wer­den. Mor­ris erwähnt das Wort Geo­po­li­tik zwar immer mal wie­der, jedoch ohne theo­re­ti­schen Anspruch. Was er bie­tet, ist eine Geschich­te der Bri­ti­schen Inseln, deren geo­gra­phi­sche Lage in den letz­ten 8000 Jah­ren zwar unver­än­dert blieb, deren geo­po­li­ti­sche Bedeu­tung in bezug auf den Rest der Welt sich aller­dings dra­ma­tisch veränderte.

Mor­ris glie­dert die­se Geschich­te anhand von drei Kar­ten in drei unter­schied­lich lan­ge Abschnit­te. Der ers­te Abschnitt betrifft den lan­gen Zeit­raum von 6000 v. Chr. bis 1497 n. Chr., den ­Mor­ris auf die nach dama­li­gen Kon­ven­tio­nen geos­te­te Her­e­ford-Kar­te aus dem 14. Jahr­hun­dert bezieht, die die Bri­ti­schen Inseln ganz unten am lin­ken Rand zeigt. In der Ur- und Früh­ge­schich­te ist Mor­ris als Alt­his­to­ri­ker und Archäo­lo­ge zu Hau­se, er bezieht sich auf zahl­rei­che Aus­gra­bun­gen und moder­ne Ana­ly­se­me­tho­den, ins­be­son­de­re, um immer wie­der die gene­ti­sche Her­kunft der Bri­ten zu ergründen.

Ver­schie­de­ne Vor­gän­ge ver­sucht Mor­ris dadurch zu illus­trie­ren, daß er sie mit gegen­wär­ti­gen Ereig­nis­sen ver­gleicht, zum Bei­spiel die Ein­füh­rung des Acker­baus durch Wan­der­be­we­gun­gen mit der gegen­wär­ti­gen Wirt­schafts­mi­gra­ti­on oder die Cha­rak­te­ri­sie­rung der nor­man­ni­schen Herr­schaft unter Wil­helm dem Erobe­rer als Apart­heid­re­gime. Das katho­li­sche Rom ist für Mor­ris die ursprüng­li­che Euro­päi­sche Uni­on, der die Bri­ten ange­hör­ten, nach­dem das Römi­sche Reich unter­ge­gan­gen war. Inter­es­sant ist eine The­se des Gegen­walls, den die Bri­ten immer wie­der, mög­lichst weit auf dem euro­päi­schen Fest­land, zu errich­ten such­ten, um sich vor Bedro­hun­gen zu schützen.

Die Pha­se ende­te, als Zuan ­Cabo­to im Auf­trag des eng­li­schen Königs 1497 Rich­tung Wes­ten segel­te und Neu­fund­land ent­deck­te, womit die Rei­se Bri­tan­ni­ens zum Mit­tel­punkt der Erde begann. Daher zeigt die zwei­te Kar­te Groß­bri­tan­ni­en als Mit­tel­punkt der Welt. Es ist die Sicht des poli­ti­schen Geo­gra­phen Hal­ford ­Mack­in­der, der damit 1902 zum Aus­druck brin­gen woll­te, daß aus der geo­gra­phi­schen Rand- eine poli­ti­sche Zen­tral­la­ge gewor­den war. Sie betrifft die Jah­re bis 1945 und beginnt mit dem »Engl­exit«, als sich die Eng­län­der von der römi­schen Kir­che ent­fern­ten und schließ­lich ganz trenn­ten. Die atlan­ti­sche Öko­no­mie macht die Rand­la­ge zum Vor­teil und zur Grund­la­ge des Wohl­stands. Hin­zu kom­men tech­ni­sche Erfin­dun­gen wie die Dampf­ma­schi­ne. Hier ent­steht auch, neben »Schneid und Beharr­lich­keit«, das bri­ti­sche Son­der­be­wußt­sein vom tugend­haf­tes­ten Volk der Welt, des­sen bei­spiel­lo­se Dop­pel­mo­ral ­Mor­ris aller­dings nur andeutet.

Die letz­te Kar­te ist eine Pro­jek­ti­on wirt­schaft­li­cher Macht der Gegen­wart. Die Geo­gra­phie ist auf ihr so ver­frem­det, daß die ein­zel­nen Staa­ten bzw. Kon­ti­nen­te nicht nach ihrer wirk­li­chen Aus­deh­nung dar­ge­stellt, son­dern ent­spre­chend ihrer wirt­schaft­li­chen Potenz auf­ge­bläht wur­den. Die Kar­te des Gel­des zeigt drei »Geld­ber­ge« in Nord­ame­ri­ka, Ost­asi­en und Westeu­ropa, von dem Groß­bri­tan­ni­en nur noch ein Teil, wenn auch ein bedeu­ten­der, ist.

Mor­ris sieht in der Wei­ge­rung, nach dem Krieg der EWG bei­zu­tre­ten, eine Abschir­mung vom Wett­be­werb und damit Ursa­che für den bri­ti­schen Nie­der­gang. Ob der Bei­tritt zur EU das geän­dert hat, the­ma­ti­siert Mor­ris nicht. Aller­dings sieht er, der den Brexit offen­sicht­lich bedau­ert, in die­sem kei­ne Kata­stro­phe. Die Ände­run­gen, die Groß­bri­tan­ni­en seit 1945 durch Ein­wan­de­rung und Glo­ba­li­sie­rung erfah­ren hat, sind so ein­schnei­dend, daß sich der Brexit dane­ben wie eine Rand­no­tiz ausnimmt.

Ian Mor­ris: Geo­gra­phie ist Schick­sal. Macht­kampf zwi­schen Groß­bri­tan­ni­en, Euro­pa und der Welt – eine 10000jährige Geschich­te, Frank­furt a. M.: Cam­pus Ver­lag 2022. 655 S., 32 €

 

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Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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