So steht es im Vorwort, in dem Morris auch gleich hervorhebt, daß sein Buch ganz anders sei als die zahlreichen anderen über den Brexit, der am 31. Januar 2020 erfolgte. Denn, der Untertitel deutet es an, Morris ist ein Freund der langen Linien und versteht sich als Vertreter einer »Big History«: Er studiert Trends, die sich über Jahrtausende erstrecken.
Daß der Brexit etwas mit der letzten Eiszeit zu tun haben soll, nach deren Ende der Meeresspiegel stieg und die Britischen Inseln vom Festland trennte, ist überraschend und naheliegend zugleich. Denn ohne die Insellage wäre die britische Geschichte zweifellos anders verlaufen.
Aber seitdem ist viel passiert, auch wenn die Themen des Brexit, »Identität, Mobilität, Wohlstand, Sicherheit und Souveränität«, diejenigen waren, entlang derer man schon immer die Auswirkungen der Geographie am deutlichsten spüren konnte.
Der Titel des Buches stellt mit »Geographie ist Schicksal« eine ziemlich starke These (die manchmal Napoleon zugeschrieben wird) auf, wenn man darunter geopolitischen Determinismus versteht. Aber Morris sieht Geographie weniger als Schicksal denn als Herausforderung für den Menschen: »Wir sind weder die Sklaven noch die Herren des Schicksals. Das Geheimnis des Erfolgs besteht darin zu verstehen, in welche Richtung sich der Karren bewegt, und herauszufinden, wie man das meiste daraus machen kann.« Die Geographie ist der Schlüssel zum Verständnis des Karrens der Politik.
Wer von diesem Buch großartige geopolitische Einsichten erwartet, dürfte enttäuscht werden. Morris erwähnt das Wort Geopolitik zwar immer mal wieder, jedoch ohne theoretischen Anspruch. Was er bietet, ist eine Geschichte der Britischen Inseln, deren geographische Lage in den letzten 8000 Jahren zwar unverändert blieb, deren geopolitische Bedeutung in bezug auf den Rest der Welt sich allerdings dramatisch veränderte.
Morris gliedert diese Geschichte anhand von drei Karten in drei unterschiedlich lange Abschnitte. Der erste Abschnitt betrifft den langen Zeitraum von 6000 v. Chr. bis 1497 n. Chr., den Morris auf die nach damaligen Konventionen geostete Hereford-Karte aus dem 14. Jahrhundert bezieht, die die Britischen Inseln ganz unten am linken Rand zeigt. In der Ur- und Frühgeschichte ist Morris als Althistoriker und Archäologe zu Hause, er bezieht sich auf zahlreiche Ausgrabungen und moderne Analysemethoden, insbesondere, um immer wieder die genetische Herkunft der Briten zu ergründen.
Verschiedene Vorgänge versucht Morris dadurch zu illustrieren, daß er sie mit gegenwärtigen Ereignissen vergleicht, zum Beispiel die Einführung des Ackerbaus durch Wanderbewegungen mit der gegenwärtigen Wirtschaftsmigration oder die Charakterisierung der normannischen Herrschaft unter Wilhelm dem Eroberer als Apartheidregime. Das katholische Rom ist für Morris die ursprüngliche Europäische Union, der die Briten angehörten, nachdem das Römische Reich untergegangen war. Interessant ist eine These des Gegenwalls, den die Briten immer wieder, möglichst weit auf dem europäischen Festland, zu errichten suchten, um sich vor Bedrohungen zu schützen.
Die Phase endete, als Zuan Caboto im Auftrag des englischen Königs 1497 Richtung Westen segelte und Neufundland entdeckte, womit die Reise Britanniens zum Mittelpunkt der Erde begann. Daher zeigt die zweite Karte Großbritannien als Mittelpunkt der Welt. Es ist die Sicht des politischen Geographen Halford Mackinder, der damit 1902 zum Ausdruck bringen wollte, daß aus der geographischen Rand- eine politische Zentrallage geworden war. Sie betrifft die Jahre bis 1945 und beginnt mit dem »Englexit«, als sich die Engländer von der römischen Kirche entfernten und schließlich ganz trennten. Die atlantische Ökonomie macht die Randlage zum Vorteil und zur Grundlage des Wohlstands. Hinzu kommen technische Erfindungen wie die Dampfmaschine. Hier entsteht auch, neben »Schneid und Beharrlichkeit«, das britische Sonderbewußtsein vom tugendhaftesten Volk der Welt, dessen beispiellose Doppelmoral Morris allerdings nur andeutet.
Die letzte Karte ist eine Projektion wirtschaftlicher Macht der Gegenwart. Die Geographie ist auf ihr so verfremdet, daß die einzelnen Staaten bzw. Kontinente nicht nach ihrer wirklichen Ausdehnung dargestellt, sondern entsprechend ihrer wirtschaftlichen Potenz aufgebläht wurden. Die Karte des Geldes zeigt drei »Geldberge« in Nordamerika, Ostasien und Westeuropa, von dem Großbritannien nur noch ein Teil, wenn auch ein bedeutender, ist.
Morris sieht in der Weigerung, nach dem Krieg der EWG beizutreten, eine Abschirmung vom Wettbewerb und damit Ursache für den britischen Niedergang. Ob der Beitritt zur EU das geändert hat, thematisiert Morris nicht. Allerdings sieht er, der den Brexit offensichtlich bedauert, in diesem keine Katastrophe. Die Änderungen, die Großbritannien seit 1945 durch Einwanderung und Globalisierung erfahren hat, sind so einschneidend, daß sich der Brexit daneben wie eine Randnotiz ausnimmt.
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Ian Morris: Geographie ist Schicksal. Machtkampf zwischen Großbritannien, Europa und der Welt – eine 10000jährige Geschichte, Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2022. 655 S., 32 €
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