Aus diesen beiden Sentenzen ließe sich eine anthropologisch gegründete Staatslehre entwickeln, die einerseits klar sieht, daß Staat notwendig ist, und andererseits die Grenzen des Staates in entscheidenden Dingen klar benennt. So etwa dort, wo die Politik auf die Gesinnung der einzelnen zugreifen möchte und tendenziell totalitär wird.
Der Staat aber, so Böckenförde (Der Staat als sittlicher Staat, Berlin 1978, S. 24 f.), »verfolgt Zwecke des Gemeinlebens, nicht des individuellen Lebens, und er verfolgt diese Zwecke nur in rechtlicher Weise, das heißt soweit es durch äußere Anstalten und vollziehbare Gebote möglich ist, die sich am Verhalten der einzelnen orientieren, nicht auf ihre Gesinnung zugreifen.« Es sei nicht »ohne inneren Grund« der Fall, daß es »totalitäre Regime« seien, »die die politische Gesinnungseinheit als ihr eigenes Fundament propagieren, sie in der Erziehung indoktrinieren und schließlich auch zur Rechtspflicht und Bedingung des politischen Bürgerstatus erheben.«
Einsichten wie diese erwuchsen auch aus der intensiven Prägung des Juristen und Rechtshistorikers Böckenförde durch den ehemaligen Preußischen Staatsrat Carl Schmitt, die im Briefwechsel anschaulich zutage tritt. Schmitt war der heimliche Lehrer neben den offiziellen akademischen; und sein Schüler war ihm gegenüber immer loyal. Stets bekannte er sich zu ihm, mag er auch zuweilen aus Klugheitsgründen auf einschlägige Schmitt-Fußnoten verzichtet haben.
Gemeinsam mit Joseph Kaiser, dem späteren Nachlaßverwalter Schmitts, versuchte Böckenförde über viele Jahre vergeblich, Schmitt zu einer dreibändigen Ausgabe seiner Aufsätze zu überreden – der sich aber, obwohl Dezisionist, einfach nicht entscheiden konnte. Schmitt folgte aber auch oft genug dem Drängen und den Ratschlägen Böckenfördes, zum Beispiel bei der Herausgabe einer dritten Auflage des Begriffs des Politischen. Und auch wichtige Beiträge Schmitts zur Hobbes-Forschung wie »Die vollendete Reformation« (1965) verdanken sich dem Anstoß seines Schülers, der maßgeblich an der Gründung der in vieler Hinsicht Schmitt-affinen Zeitschrift Der Staat beteiligt war.
Böckenförde tritt 1967 in die SPD ein; 1983 wird er zum Bundesverfassungsrichter gewählt und erreicht damit den Höhepunkt seiner Karriere; Schmitt stirbt 1985, aber dieser bleibt bei Böckenförde präsent, nicht zuletzt weil beide das leidenschaftliche Interesse an Politischer Theologie teilten. Die Edition läßt nicht nur Schmitt und Böckenförde selbst zu Wort kommen, sondern auch die Brüder des letzteren: den Theologen und katholischen Priester Werner und den Juristen Christoph.
Schmitt und Böckenförde waren aber auch eingebunden in ein weitgespanntes Netzwerk, zu dem essentiell der Kreis um den Münsteraner Philosophen Joachim Ritter mit Denkern wie Hermann Lübbe, Odo Marquard, Günter Rohrmoser, Robert Spaemann, Rainer Specht und Bernard Willms gehörte. Denn hier sollte Schmitt ebenso wie im Ebracher Kreis Ernst Forsthoffs seine wohl größte Wirkung in der frühen Bundesrepublik entfalten – in einem Staat, den der Staatsrechtler Schmitt selbst nicht mehr ohne weiteres als Staat anzuerkennen bereit war.
Erstmals seit seinem Erscheinen zum 70. Geburtstag Hans Freyers wird im Briefband auch Schmitts wichtiger Artikel »Die andere Hegel-Linie« wieder abgedruckt, fürwahr ein Kleinod der Schmittschen Publizistik. Schmitt erinnert hier nachdrücklich an eine von der östlichen, das heißt kommunistischen Hegel-Deutung abweichende Lehre, in deren Tradition er sich auch selbst stellt. Es ist diese Lehre zugleich eine Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, in welchem sich Feindschaft in besonderer Weise manifestiert.
Schmitt entnimmt Freyers Weltgeschichte Europas das für ihn eminent wichtige Theorem des »Aufhalters«, und er denkt Descartes und Freyer zusammen, wenn er schreibt: »Ich denke, also habe ich Feinde. Ich habe Feinde, also bin ich.« Schmitt führt die Deutung aber noch weiter, wenn er den Freyerschen Gedanken des »sekundären Systems« aufgreift, in dem alles verwischt werde und die Spannung der »ehrlichen Feindschaft« entfalle.
Wenn es aber keine ehrlichen Feinde mehr gebe, blieben »nur noch Schädlinge, Saboteure und Verräter, die durch Schweigen oder Diffamierung offen oder unter der Hand, prozeßförmig oder geräuschlos beseitigt werden.« Europa, so Schmitt weiter, könne nicht vom geschichtlichen Bewußtsein abstrahieren, sosehr wir uns auch anstrengten, »problemlos zu werden«; es habe sich nicht mehr fremder Invasoren zu erwehren, sondern der »Ausgeburten seines eigensten europäischen Geistes nach Osten und Westen«.
Es versteht sich, daß an diesem Band niemand vorbeikommt, der sich für Staatsrecht und Staatsreflexion in der alten Bundesrepublik interessiert; der Herausgeber Reinhard Mehring hat gute Arbeit geleistet. Und was das Beste ist: Das Buch steht auch zum kostenlosen Herunterladen zur Verfügung – das ist praktizierte Barrierefreiheit für eine geistig-politische Fundgrube, die so schnell nicht auszuschöpfen sein wird.
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Reinhard Mehring: Welch gütiges Schicksal. Ernst-Wolfgang Böckenförde / Carl Schmitt: Briefwechsel 1953 – 1984, Baden-Baden: Nomos 2022. 870 S., 169 €
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