Abramovychs erste eigenständige Buchveröffentlichung ist eine detaillierte Magisterarbeit, die eine heute vergessene Intellektuellenkontroverse aus dem Wilhelminischen Kaiserreich untersucht. Der jüdische Philosoph Theodor Lessing hatte 1910 eine scharfe Satire (»Samuel zieht die Bilanz«) auf den jüdischen Schriftsteller Samuel Lublinski veröffentlicht und damit einen Sturm der Entrüstung entfesselt, der dem Autor sogar Morddrohungen einbrachte.
Lessing, der spätere Analytiker des »jüdischen Selbsthasses«, attackierte Lublinski als Vertreter »des schreibenden Typus, den ich den espritjüdischen nenne«. Dabei hagelte es persönliche Beleidigungen, die heute in der Tat kraß antisemitisch wirken. Lessing nannte seinen Stammesgenossen ein »Talmud-Mißgebürtchen mit hypertrophisch entarteten Schreib- und Redezentren«, ein »fettiges Synagöglein auf ein paar ganz kurzen fahrigen Beinen«, alles in allem sei er ein substanzloser Blender und Dampfplauderer.
Lublinski war nun ein »Renegat des Zionismus«, wie Abramovych formuliert, der 1899 die »Entdeckung gemacht« hatte, »daß er aus psychischem Zwang ein Deutscher sei«, wie er in einem Brief an Theodor Herzl schrieb. Diesen »zwanghaften« Assimilierungsdrang fand nun Lessing, den Lublinski seinerseits als fanatischen Zionisten und Anhänger von »Rassentheorien« charakterisierte, peinlich und unaufrichtig. Lublinski war für ihn der Archetyp des Juden, der aufgrund von Minderwertigkeitskomplexen gerne ein »blonder Germane« wäre, dabei aber physisch, geistig und habituell erz- und oberjüdisch geblieben sei, dies allerdings in einer »entarteten«, negativen Form.
Schließlich mischte sich Dichterfürst Thomas Mann in die Debatte ein und ergriff wider Erwarten Partei gegen Lessing, in erster Linie, weil Lublinski die Buddenbrooks über den grünen Klee gelobt hatte und er ihm einen Gefallen schuldig war. In der Sache stimmte er mit Lessing weitgehend überein, aber drehte den Spieß in dessen Richtung: Lessing solle nicht mit Steinen im Glashaus um sich werfen, sei er doch selbst ein »Schreckbeispiel schlechter jüdischer Rasse« und überhaupt das »schäbigste Exemplar dieses in einigen Fällen bewunderungswürdigen Typus«. Der tiefverletzte Lessing versuchte nun, auch Mann in einer Satire (»Tomi melkt die Moralkuh«) als degenerierte Figur bloßzustellen. Lessing und Mann haßten einander für den Rest ihres Lebens, und als ersterer 1933 von Nationalsozialisten ermordet wurde, fand letzterer, daß ein solch elendes Ende »einem Lessing durchaus anstehen mag.«
Weder Lessing noch Lublinski noch Mann gaben in dieser Schlammschlacht, befeuert von kleinkarierten Eitelkeiten, eine gute Figur ab. Abramovych nutzt sie, um mit der Schublade »literarischer Antisemitismus«, in die Mann seit Jahrzehnten von außerliterarisch motivierten Germanisten gepackt wird, abzurechnen und sie als »unwissenschaftlich, weil rein politischer Natur«, zu verwerfen. In der »Assimilationskritik« Lessings und Manns entdeckt er einen »jüdischen« bzw. projüdischen »Nietzscheanismus«. Nietzsches Kritik der »décadence« und sein Aufruf zur »Selbstüberwindung« sollten der zionistischen Idee Attraktivität und polemische Munition verleihen. Juden sollten Nietzsches Ermahnung »Werde, der du bist« befolgen, ohne Selbsthaß und Selbstverleugnung im Karneval einer unfruchtbaren kulturellen Mimikry.
Auf diese Weise gelangt Abramovych zu einer Ehrenrettung seines literarischen Säulenheiligen Thomas Mann, in dessen Werk häufig dekadent angekränkelte Gestalten auftauchen, die implizit (und gelegentlich explizit) »jüdisch« konnotiert sind. Freilich steht und fällt dies alles mit der Frage, wann die »legitime« Kritik an Juden, Judentum und Jüdischem aufhört und wann der »Antisemitismus« beginnt. Darauf gibt es nirgends eine verbindliche Antwort. Die Gründe dafür liegen ebenso in gewissen historisch bedingten Komplexen wie in verschiedenen politischen Opportunitäten. Die heute weitverbreitete Auffassung, daß zum Antisemitismus schon die »die Empfindung der Andersartigkeit von Juden« (Abramovych) genüge, ist offensichtlich zu eng und negiert (antisemitisch?) die Tatsache, daß so etwas wie ein »Geblüt« (Thomas Mann) namens »Juden« nun einmal existiert und der Weltgeschichte einen markanten Stempel aufgedrückt hat.
Allerdings bietet auch Abramovych keine »konkrete wissenschaftliche Definition des Antisemitismusbegriffs« an; sein impliziter Maßstab scheint das positive oder negative Verhältnis zum Zionismus zu sein. Auch das ist zweischneidig, denn Zionisten und Antisemiten waren sich häufig in ihrer Ablehnung der Assimilation einig und dachten zuweilen, man könnte die »Judenfrage« durch eine einvernehmliche Scheidung lösen.
Die germanistische Zunft wird die vorliegende Arbeit wohl ignorieren. An einem differenzierten Antisemitismusbegriff herrscht dort kein Bedarf; er würde nur die Arbeit erschweren und manche akademische Karriere aufs Glatteis führen.
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Artur Abramovych: Entartete Espritjuden und heroische Zionisten. Jüdischer Nietzscheanismus in der Auseinandersetzung zwischen Theodor Lessing und Thomas Mann, Bad Schussenried: Gerhard Hess Verlag 2022. 140 S., 16,99 €
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