Man kann Konsens und Dissens rein argumentativ verstehen. So überwältigend seine Verdienste nämlich sind, so zahlreich sind auch seine inneren Widersprüche und Fehler. Es gibt aber bis dato wohl nichts Vergleichbares, weshalb es zum Kanon aller gehören sollte, die sich dem Themenkomplex kritisch nähern wollen.
Pluckrose und Lindsay gelingt es auf gut verständliche Weise, in das Denken der Social-Justice-Theorie einzuführen und diese anhand ihrer theoretischen Zweige (Postkolonialismus, Queer-Theorie, Critical-Race-Theorie, Feminismus, Gender-Studies, Disability und Fat-Studies), differenziert nach zwei Prinzipien und vier immer wiederkehrenden Themen, aufzufächern. Schon am Übersetzungskauderwelsch (Race, Disability etc.) erkennt man die Spannungen, denen eine deutsche Übersetzung ausgesetzt ist.
Dies selbst ist Zeichen der allgegenwärtigen Macht besagter Theorien – sie diktieren heute weitflächig den Raum des noch Sagbaren und schnüren ihn immer enger. Theorie (kursiv) meint das quasireligiöse Element, das sie über alle tradierte Theorie hebt. Gelebte Erfahrung, Emotionen und kulturelle Traditionen gelten heute als genuines Wissen, das der Rationalität, der wissenschaftlichen Vernunft überlegen ist; die Marginalisierten haben einen nicht hintergehbaren Wissensvorsprung durch Diskriminierungserfahrungen. Es entsteht das, was man zu bekämpfen vorgibt: ein Metanarrativ.
Die Entwicklung der Theorie führt in einem jahrzehntelangen theoretischen Vorlauf vom berechtigten Skeptizismus über die Theorie zur Praxis, von der Deskription über die Präskription zum unerschütterlichen Glauben. Am Ende stehen bewußt herbeigeführte Paradoxien zur kompletten Selbstimmunisierung, um die Diskurshoheit zu wahren. Die Lektüre wirkt zunehmend beklemmend, denn sie macht deutlich, wie weit der verabsolutierte Gerechtigkeitsgedanke, der immer neue Ungerechtigkeiten schafft, in nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche eingedrungen ist und wie die »Social-Justice-Forschung eine direkte Folge des radikalen Abbaus von sozialer Gerechtigkeit« werden konnte.
So hat das Buch einen stark appellativen Charakter: Man muß etwas dagegen tun, die Totalität der »Argumente« ist auf dem Weg, zum Totalitarismus zu werden. Es ist das große Verdienst der Verfasser, die innere Stringenz der Argumentationen ebenso aufzuzeigen wie die geistigen Kapriolen und die versteckten Aporien und zugleich sichtbar zu machen, daß man es mit gebildeten, intelligenten Autoren zu tun hat: Die Frage steht im Raum, wie strenge Intelligenz in die Irrationalität, in die Selbstimmunisierung, in die Quasireligiosität führen kann.
Das Problem wird aus der philosophischen Postmoderne hergeleitet, die sich in eine »angewandte« und eine »verdinglichte Postmoderne« entwickelt habe. Foucault, Deleuze, Derrida, Lyotard werden als Schöpfer kenntlich gemacht. Allein, es scheint den Autoren an einer wirklichen Kenntnis dieser Denkrichtung zu fehlen; nicht nur werden wesentliche Inspiratoren wie Lacan, Barth, Baudrillard, Levinas gar nicht erwähnt, auch die Wahrnehmung der genannten Denker ist sehr selektiv und dünn, ihre philosophischen Verdienste, die positiven Erkenntnisse der philosophischen Postmoderne werden kaum gewürdigt.
Die Binnenvielfalt läßt den Sammelbegriff ohnehin fragwürdig erscheinen. Die lineare Rückführung auf die Postmoderne verschleiert zudem die Komplexität des Herkommens. So werden ökonomische, materielle, gesellschaftliche, technische, mediale Ursachen ausgeblendet, und der Postmoderne wird eine Alleinschuld zugewiesen. Es scheint, als handelte es sich um ein innerakademisches Phänomen, das »irgendwie« in die Gesellschaft schwappte. Es käme zudem darauf an, die positiven Erkenntnisse vor allem der frühen und auch die teilweise berechtigten Ansprüche der angewandten Postmoderne zu nutzen, statt nur vorzuführen.
Auch wird der Eindruck erweckt, als gäbe es aus der philosophischen Postmoderne nur diesen einen Ausweg, als wäre diese Entartung ihre Entelechie. Ihr im Titel unterstellter Zynismus wird zudem nie deutlich gemacht, und natürlich darf auch der obligatorische Hinweis nicht fehlen, daß die eigentliche Gefahr von »Nationalisten und Rechtspopulisten« komme.
Am ärgerlichsten ist freilich die vergatternde Apologie des Liberalismus. Dieser bringt in seiner theoretischen Form sicher viele Vorteile mit sich, man sollte umgekehrt aber auch nicht übersehen, daß der Liberalismus selbst zu den ureigenen Wurzeln der Postmoderne und ihrer späteren Dekadenzformen gehört. Der Liberalismus wird aus dem geschichtlichen Prozeß herausgelöst, als archimedischer Ausgangspunkt genommen.
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Helen Pluckrose, James Lindsay: Zynische Theorien. Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt – und warum das niemandem nützt, München: C. H. Beck 2022. 380 S., 22 €
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