H. Pluckrose, J. Lindsay: Zynische Theorien

von Jörg Seidel --

Ein Buch, das durch alle Lager schneidet, links, rechts, liberal, geliebt und gehaßt, verspricht schon deshalb ein Ereignis zu sein.

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Man kann Kon­sens und Dis­sens rein argu­men­ta­tiv ver­ste­hen. So über­wäl­ti­gend sei­ne Ver­diens­te näm­lich sind, so zahl­reich sind auch sei­ne inne­ren Wider­sprü­che und Feh­ler. Es gibt aber bis dato wohl nichts Ver­gleich­ba­res, wes­halb es zum Kanon aller gehö­ren soll­te, die sich dem The­men­kom­plex kri­tisch nähern wollen.

Pluck­ro­se und Lind­say gelingt es auf gut ver­ständ­li­che Wei­se, in das Den­ken der Social-Jus­ti­ce-Theo­rie ein­zu­füh­ren und die­se anhand ihrer theo­re­ti­schen Zwei­ge (Post­ko­lo­nia­lis­mus, Que­er-Theo­rie, Cri­ti­cal-Race-Theo­rie, Femi­nis­mus, Gen­der-Stu­dies, Disa­bi­li­ty und Fat-Stu­dies), dif­fe­ren­ziert nach zwei Prin­zi­pi­en und vier immer wie­der­keh­ren­den The­men, auf­zu­fä­chern. Schon am Über­set­zungs­kau­der­welsch (Race, Disa­bi­li­ty etc.) erkennt man die Span­nun­gen, denen eine deut­sche Über­set­zung aus­ge­setzt ist.

Dies selbst ist Zei­chen der all­ge­gen­wär­ti­gen Macht besag­ter Theo­rien – sie dik­tie­ren heu­te weit­flä­chig den Raum des noch Sag­ba­ren und schnü­ren ihn immer enger. Theo­rie (kur­siv) meint das qua­si­re­li­giö­se Ele­ment, das sie über alle tra­dier­te Theo­rie hebt. Geleb­te Erfah­rung, Emo­tio­nen und kul­tu­rel­le Tra­di­tio­nen gel­ten heu­te als genui­nes Wis­sen, das der Ratio­na­li­tät, der wis­sen­schaft­li­chen Ver­nunft über­le­gen ist; die Mar­gi­na­li­sier­ten haben einen nicht hin­ter­geh­ba­ren Wis­sens­vor­sprung durch Dis­kri­mi­nie­rungs­er­fah­run­gen. Es ent­steht das, was man zu bekämp­fen vor­gibt: ein Metanarrativ.

Die Ent­wick­lung der Theo­rie führt in einem jahr­zehn­te­lan­gen theo­re­ti­schen Vor­lauf vom berech­tig­ten Skep­ti­zis­mus über die Theo­rie zur Pra­xis, von der Deskrip­ti­on über die Prä­skrip­ti­on zum uner­schüt­ter­li­chen Glau­ben. Am Ende ste­hen bewußt her­bei­ge­führ­te Para­do­xien zur kom­plet­ten Selbst­im­mu­ni­sie­rung, um die Dis­kurs­ho­heit zu wah­ren. Die Lek­tü­re wirkt zuneh­mend beklem­mend, denn sie macht deut­lich, wie weit der ver­ab­so­lu­tier­te Gerech­tig­keits­ge­dan­ke, der immer neue Unge­rech­tig­kei­ten schafft, in nahe­zu alle gesell­schaft­li­chen Berei­che ein­ge­drun­gen ist und wie die »Social-Jus­ti­ce-For­schung eine direk­te Fol­ge des radi­ka­len Abbaus von sozia­ler Gerech­tig­keit« wer­den konnte.

So hat das Buch einen stark appel­la­ti­ven Cha­rak­ter: Man muß etwas dage­gen tun, die Tota­li­tät der »Argu­men­te« ist auf dem Weg, zum Tota­li­ta­ris­mus zu wer­den. Es ist das gro­ße Ver­dienst der Ver­fas­ser, die inne­re Strin­genz der Argu­men­ta­tio­nen eben­so auf­zu­zei­gen wie die geis­ti­gen Kaprio­len und die ver­steck­ten Apo­rien und zugleich sicht­bar zu machen, daß man es mit gebil­de­ten, intel­li­gen­ten Autoren zu tun hat: Die Fra­ge steht im Raum, wie stren­ge Intel­li­genz in die Irra­tio­na­li­tät, in die Selbst­im­mu­ni­sie­rung, in die Quasi­religiosität füh­ren kann.

Das Pro­blem wird aus der phi­lo­so­phi­schen Post­mo­der­ne her­ge­lei­tet, die sich in eine »ange­wand­te« und eine »ver­ding­lich­te Post­mo­der­ne« ent­wi­ckelt habe. Fou­cault, Deleu­ze, Der­ri­da, Lyo­tard wer­den als Schöp­fer kennt­lich gemacht. Allein, es scheint den Autoren an einer wirk­li­chen Kennt­nis die­ser Denk­rich­tung zu feh­len; nicht nur wer­den wesent­li­che Inspi­ra­to­ren wie Lacan, Barth, Bau­dril­lard, ­Levi­n­as gar nicht erwähnt, auch die Wahr­neh­mung der genann­ten Den­ker ist sehr selek­tiv und dünn, ihre phi­lo­so­phi­schen Ver­diens­te, die posi­ti­ven Erkennt­nis­se der phi­lo­so­phi­schen Post­mo­der­ne wer­den kaum gewürdigt.

Die Bin­nen­viel­falt läßt den Sam­mel­be­griff ohne­hin frag­wür­dig erschei­nen. Die linea­re Rück­füh­rung auf die Post­mo­der­ne ver­schlei­ert zudem die Kom­ple­xi­tät des Her­kom­mens. So wer­den öko­no­mi­sche, mate­ri­el­le, gesell­schaft­li­che, tech­ni­sche, media­le Ursa­chen aus­ge­blen­det, und der Post­mo­der­ne wird eine Allein­schuld zuge­wie­sen. Es scheint, als han­del­te es sich um ein inner­aka­de­mi­sches Phä­no­men, das »irgend­wie« in die Gesell­schaft schwapp­te. Es käme zudem dar­auf an, die posi­ti­ven Erkennt­nis­se vor allem der frü­hen und auch die teil­wei­se berech­tig­ten Ansprü­che der ange­wand­ten Post­mo­der­ne zu nut­zen, statt nur vorzuführen.

Auch wird der Ein­druck erweckt, als gäbe es aus der phi­lo­so­phi­schen Post­mo­der­ne nur die­sen einen Aus­weg, als wäre die­se Ent­ar­tung ihre Entel­echie. Ihr im Titel unter­stell­ter Zynis­mus wird zudem nie deut­lich gemacht, und natür­lich darf auch der obli­ga­to­ri­sche Hin­weis nicht feh­len, daß die eigent­li­che Gefahr von »Natio­na­lis­ten und Rechts­po­pu­lis­ten« komme.

Am ärger­lichs­ten ist frei­lich die ver­gat­tern­de Apo­lo­gie des Libe­ra­lis­mus. Die­ser bringt in sei­ner theo­re­ti­schen Form sicher vie­le Vor­tei­le mit sich, man soll­te umge­kehrt aber auch nicht über­se­hen, daß der Libe­ra­lis­mus selbst zu den urei­ge­nen Wur­zeln der Post­mo­der­ne und ihrer spä­te­ren Deka­denz­for­men gehört. Der Libe­ra­lis­mus wird aus dem geschicht­li­chen Pro­zeß her­aus­ge­löst, als archi­me­di­scher Aus­gangs­punkt genommen.

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Helen Pluck­ro­se, James Lind­say: Zyni­sche Theo­rien. Wie akti­vis­ti­sche Wis­sen­schaft Race, Gen­der und Iden­ti­tät über alles stellt – und war­um das nie­man­dem nützt, Mün­chen: C. H. Beck 2022. 380 S., 22 €

 

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