Der Balkan und die serbische Frage

von Dušan Dostanić -- PDF der Druckfassung aus Sezession 110/ Oktober 2022

 Druckausgabe

Beitrag aus der Druckausgabe der Sezession. Abonnieren Sie!

Schon Otto von Bis­marck wuß­te, daß die Geo­gra­phie die Kon­stan­te der Geschich­te ist. Die geo­gra­phi­sche Lage, um Wor­te Fried­rich Nau­manns zu para­phra­sie­ren, ist die Lehr­meis­te­rin jeder Poli­tik. (1)

Wenn die erd­ge­bun­de­nen Züge und die Geo­gra­phie die poli­ti­sche Lage und die poli­ti­schen Inter­es­sen eines Staa­tes beein­flus­sen oder sogar bestim­men, wenn also jedes Volk von räum­li­chen Kon­stan­ten poli­tisch bestimmt ist, dann kann man von geo­po­li­ti­scher Iden­ti­tät spre­chen, die selbst­ver­ständ­lich mit der kul­tu­rel­len Iden­ti­tät eng ver­bun­den ist.

Ser­bi­en nun ist Teil des Bal­kans, und »das Wort Bal­kan beschwört in Euro­pa Bil­der von eth­ni­schen Kon­flik­ten und Stell­ver­tre­ter­krie­gen der Groß­mäch­te her­auf.« (2) Die ers­te Asso­zia­ti­on ist immer »Bal­ka­ni­sie­rung«, also die chro­ni­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen den zahl­rei­chen eth­ni­schen Grup­pen, die poli­ti­sche und ter­ri­to­ria­le Frag­men­tie­rung und die sich kreu­zen­den Inter­es­sen der Groß­mäch­te. Das heißt, daß die Groß­mäch­te »das Pul­ver­faß Bal­kan« rela­tiv ein­fach aus eige­nen Inter­es­sen anzün­de­ten und noch immer anzün­den kön­nen. Die berühm­te bal­ka­ni­sche Insta­bi­li­tät hat­te zu oft raum­frem­de Ursa­chen. Die alte Paro­le aus dem 19. Jahr­hun­dert, »Bal­kan den Bal­kan­völ­kern«, hat in die­ser Hin­sicht wenig an Aktua­li­tät verloren.

Aber war­um und für wen ist der Bal­kan geo­po­li­tisch so bedeu­tend? Man sagt, daß der Bal­kan einer der wich­tigs­ten Tei­le Euro­asi­ens ist, weil er eine Ver­bin­dung oder eine Brü­cke und zugleich eine Unter­bre­chung oder eine Blo­cka­de dar­stel­len kann. Des­we­gen wur­de schon in der Renais­sance für das zen­tra­le Gebir­ge des Bal­kans der Name Cate­na Mun­di genutzt, die Ket­te der Welt. Die Ket­te ver­bin­det und hält die Welt zusam­men, und wenn sie reißt oder ver­lo­ren wird, dann fällt die Welt aus­ein­an­der. Auf dem Bal­kan berüh­ren sich Mit­tel­eu­ro­pa und Klein­asi­en sowie der ortho­do­xe, der katho­li­sche und der mus­li­mi­sche Glau­ben. Einer der ers­ten Bal­ka­no­lo­gen, Rat­ko Pareža­nin, hat 1928 geschrie­ben: »Der Bal­kan ist nicht Euro­pa, der Bal­kan ist nicht Asi­en. Der Bal­kan ist die Welt für sich.«

Vor allem ist der Bal­kan einer der Schau­plät­ze, auf denen die Groß­mäch­te ihre Kräf­te erpro­ben und ein­an­der in Fal­len locken. Raum­frem­de Mäch­te orga­ni­sier­ten Macht­wech­sel und Staats­strei­che, wie zum Bei­spiel in Bel­grad am 27. März 1941 (als die Bri­ten einen deut­schen­feind­li­chen Putsch durch­setz­ten) oder im Okto­ber 2000, als der ser­bi­sche Minis­ter­prä­si­dent Slo­bo­dan Miloše­vić zurück­tre­ten muß­te. Die klei­nen und bank­rot­ten Bal­kan­län­der sind eben recht leicht zu erpres­sen. Bul­ga­ri­en zum Bei­spiel hat 2014 den Bau einer Gas­lei­tung unter rus­si­scher Füh­rung blo­ckiert, weil der Wes­ten das Land unter Druck setzte.

Alles, was man über den Bal­kan sagen kann, betrifft aus drei Haupt­grün­den beson­ders Ser­bi­en. Zuerst sind die Ser­ben ein recht klei­nes, aber im Rah­men des Bal­kans doch ein gro­ßes Volk. Der ser­bi­sche Geo­graph Jovan Cvi­jić hat zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts geschrie­ben, daß es von Wien bis Kon­stan­ti­no­pel kein grö­ße­res Volk gebe. (3) Natür­lich hat sich seit die­ser Zeit vie­les ver­än­dert, aber im der­zei­ti­gen ser­bi­schen Rumpf­staat leben immer­hin knapp sie­ben Mil­lio­nen Serben.

Der zwei­te Grund ist die Lage Ser­bi­ens. Ser­bi­en befin­det sich im Zen­trum des Bal­kans in einer Zone zwi­schen dem Schwar­zen und dem Adria­ti­schen Meer. Der schnells­te Weg von Klein­asi­en nach Euro­pa führt durch das Mora­va-Var­dar-Tal, wel­ches in Ser­bi­en liegt. Schon bei Bel­grad beginnt die Pan­no­ni­sche Tief­ebe­ne. Mit ande­ren Wor­ten: Die am Zusam­men­fluß von Sava und Donau lie­gen­de Stadt Bel­grad ist das Tor des Bal­kans oder Tor von Mit­tel­eu­ro­pa. Um Jovan Cvi­jić noch ein­mal zu zitie­ren: Die Ser­ben haben ihr Haus mit­ten auf der Stra­ße gebaut.

Der drit­te Grund ist die Tat­sa­che, daß die Ser­ben auch die Ter­ri­to­ri­en außer­halb des heu­ti­gen Ser­bi­ens besie­deln – Baran­ja, Sla­wo­ni­en, Dal­ma­ti­en, Bos­ni­en, Her­ze­go­wi­na, Mon­te­ne­gro, den Nor­den von Alba­ni­en und Nord­ma­ze­do­ni­en. Der ser­bi­sche eth­nisch-kul­tu­rel­le Raum wur­de durch künst­li­che Gren­zen und die Schaf­fung neu erfun­de­ner eth­ni­scher Iden­ti­tä­ten ver­krüp­pelt. Wie­der­um Jovan Cvi­jić schrieb, daß in den Rand­ge­bie­ten des ser­bi­schen Raums die Bil­dung einer »eth­nisch schwe­ben­den Mas­se« statt­ge­fun­den habe, die dem ser­bi­schen Ein­fluß ent­zo­gen wor­den sei. Wie lan­ge die­se künst­li­chen Natio­nen bestehen wer­den, ist eine ande­re Fra­ge. Sicher ist aber, daß man die­se neu­en Iden­ti­tä­ten sehr ein­fach von außen mani­pu­lie­ren kann, wenn man eine Insta­bi­li­tät auf dem Bal­kan schaf­fen will. Das ist eine sehr nütz­li­che Situa­ti­on bei­spiels­wei­se für atlan­ti­sche Kräf­te, die sich als Schieds­rich­ter und Schlich­ter insze­nie­ren und uner­wünsch­te Poli­ti­ker besei­ti­gen können.

Mit ande­ren Wor­ten: Die Bal­kan­fra­ge ist in ihrem Kern die ser­bi­sche Fra­ge – und umge­kehrt, und wie der ser­bi­sche Geo­po­li­ti­ker Milo­mir Ste­pić fest­ge­stellt hat, ist die ser­bi­sche Fra­ge vor allem eine geo­po­li­ti­sche Fra­ge. (4) Sie ist also weder eine demo­kra­ti­sche Fra­ge noch eine der Moder­ni­sie­rung oder der Libe­ra­li­sie­rung. Die Geschich­te Ser­bi­ens des 20. Jahr­hun­derts ist ohne geo­po­li­ti­sches Wis­sen schwer zu verstehen.

Ande­re Fak­to­ren soll­ten auch in Betracht gezo­gen wer­den. Die Ser­ben sind ein sla­wi­sches Volk und von der Reli­gi­on her über­wie­gend ortho­dox. Geo­po­li­tisch betrach­tet, spielt die­se Tat­sa­che eine wich­ti­ge Rol­le. Wie ­Arnold Toyn­bee geschrie­ben hat, gehört Ser­bi­en dem »byzan­ti­nisch-ortho­do­xen Zivi­li­sa­ti­ons­kreis« an oder nach der Mei­nung Samu­el ­Hun­ting­tons dem sla­wisch-ortho­do­xen Kul­tur­kreis. Das alles impli­ziert eine gewis­se tra­di­tio­nel­le Sym­pa­thie für Ruß­land. Die pro­rus­si­sche Hal­tung ist in Ser­bi­en geschicht­lich gut begründet.

Schon im 19. Jahr­hun­dert waren die ser­bi­schen Libe­ra­len eine stark an Ruß­land ori­en­tier­te Par­tei, wäh­rend die ser­bi­schen Kon­ser­va­ti­ven damals eine Ori­en­tie­rung an Öster­reich-Ungarn und an Deutsch­land befür­wor­te­ten. Die ser­bi­sche intel­lek­tu­el­le Eli­te wur­de seit dem 19. Jahr­hun­dert an den deut­schen und fran­zö­si­schen Uni­ver­si­tä­ten aus­ge­bil­det. Die eng­li­sche Poli­tik hat die Ser­ben tra­di­tio­nell als klei­ne Rus­sen oder rus­si­sche Stoß­trupps wahr­ge­nom­men. Schlech­te Erfah­run­gen mit dem katho­li­schen Pro­se­ly­tis­mus und mit der Wes­ter­ni­sie­rung über­haupt haben gro­ße Tei­le des ser­bi­schen Vol­kes, vor allem in den Rand­ge­bie­ten, dazu getrie­ben, in Ruß­land einen Schüt­zer des ortho­do­xen Glau­bens und der tra­di­tio­nel­len Kul­tur zu sehen. Das alles hat manch­mal zu einer unkri­ti­schen Roman­ti­sie­rung Ruß­lands geführt, aber es wirkt sich real­po­li­tisch aus: Ser­bi­en schließt sich nicht der Euro­päi­schen Uni­on an, denn es lehnt die Wer­te ab, die heu­te vom Wes­ten pro­kla­miert werden.

Man darf sich aber von der pro­rus­si­schen Hal­tung der Ser­ben kein fal­sches Bild machen: Obwohl die kul­tu­rel­len Ähn­lich­kei­ten groß und die tra­di­tio­nel­len poli­ti­schen Bezie­hun­gen eng sind, blei­ben Ser­ben und Rus­sen zwei ver­schie­de­ne Völ­ker mit aus­ge­präg­tem Selbst­be­wußt­sein und eige­nen natio­na­len Inter­es­sen. Nach eige­nem Selbst­ver­ständ­nis ist Ser­bi­en vom kul­tu­rel­len Stand­punkt aus weder im Osten noch im Wes­ten ver­or­tet, son­dern so etwas wie ein Brü­cken­bau­er oder Ver­mitt­ler, also »Osten für den Wes­ten und Wes­ten für den Osten«.

Woher rüh­ren das aus­ge­präg­te Selbst­be­wußt­sein und der star­ke natio­na­le Stolz Ser­bi­ens? Im Unter­schied zu den ande­ren Bal­kan­völ­kern, die von frem­den Dynas­tien beherrscht waren, hat­ten die Ser­ben drei Volks­dy­nas­tien im 19. Jahr­hun­dert. Die­se Dynas­tien sind tat­säch­lich aus dem Vol­ke erstan­den und waren volks­ver­bun­den. Vor allem die Dynas­tie der Karađorđe­vić erhob sich wäh­rend des Ers­ten Welt­kriegs zu mythi­scher Grö­ße. (5)

Mit dem Wil­len zur natio­na­len Selbst­be­haup­tung ist eine star­ke anti­im­pe­ria­lis­ti­sche Stim­mung der Ser­ben eng ver­bun­den. Im Wesen des ser­bi­schen ortho­do­xen Volks liegt es, sich jeder frem­den Bevor­mun­dung zu wider­set­zen. Laut Žar­ko Vido­vić gehört zur »sve­to­sa­vi­schen Nati­on der Wider­stand nicht nur gegen das Impe­ri­um, son­dern auch gegen jede Art von impe­ria­ler Idee, sei sie künst­lich, meta­phy­sisch oder theo­lo­gisch.« (6) Selbst­ver­ständ­lich kann eine auto­ke­pha­le Natio­nal­kir­che gegen­über der natio­na­len Frei­heit und dem natio­na­len Staat nicht gleich­gül­tig sein. Für die ser­bi­sche Ortho­do­xie gehö­ren unab­hän­gi­ger Natio­nal­staat und selb­stän­di­ge Natio­nal­kir­che zusam­men wie Kör­per und See­le, und als Bewah­re­rin des Gelüb­des ist die Kir­che das Gewis­sen von Volk und Staat.

Obwohl die bei­den jugo­sla­wi­schen Staa­ten unter dem Ein­fluß atlan­ti­scher, also gegen­kon­ti­nen­ta­ler Kräf­te stan­den, ist Ser­bi­en sei­ner geo­po­li­ti­schen Iden­ti­tät nach ein aus­ge­spro­chen tel­lu­ro­kra­ti­sches Land. Ihre gegen­atlantische Hal­tung haben die Ser­ben am Ende des 20. Jahr­hun­derts deut­lich gezeigt. Die Ser­ben sind das ein­zi­ge euro­päi­sche Volk, das nach dem Zwei­ten Welt­krieg ohne Ver­bün­de­te hin­ter sich, ohne durch­ge­dach­te Stra­te­gie, ganz allein und ganz instink­tiv den atlan­ti­schen Kräf­ten Wider­stand geleis­tet hat. Die­ser instink­ti­ve Wider­stand ist natür­lich mit dem aus­ge­präg­ten natio­na­len Bewußt­sein eng ver­bun­den. Der Kon­flikt mit dem poli­ti­schen Wes­ten war kein Miß­ver­ständ­nis. Obwohl man­che glaub­ten, daß die Pro­ble­me durch die Abset­zung von Slo­bo­dan Miloše­vić gelöst wären und daß der Wes­ten Ser­bi­en nun in Ruhe lie­ße, voll­zog sich der umge­kehr­te Vor­gang. Als Ser­bi­en sich zurück­zog, dehn­ten sich ande­re aus und ver­la­ger­ten den Fokus des geo­po­li­ti­schen Kamp­fes auf das Ter­ri­to­ri­um Serbiens.

Aus den Krie­gen, die um das jugo­sla­wi­sche Erbe geführt wor­den sind, sind die Ser­ben als Ver­lie­rer her­aus­ge­gan­gen. Wir haben es sogar mit einem dop­pel­ten Ver­lust zu tun: Zuerst hat die Schaf­fung des über­na­tio­na­len süd­sla­wi­schen Staats für die Ser­ben eine »natio­na­le Demo­bi­li­sa­ti­on« (Slo­bo­dan Jova­no­vić) (7) bedeu­tet. Für die jugo­sla­wi­sche Illu­si­on haben die Ser­ben nicht nur Blut und Kraft geop­fert, son­dern sie haben auch ihren eige­nen Name auf­ge­ge­ben. Wie der wich­tigs­te ser­bi­sche Schrift­stel­ler, Miloš Crn­jan­ski, geschrie­ben hat, war Jugo­sla­wi­en für die Ser­ben »ein Ver­zicht auf ihren Namen, ihr staat­li­ches Wesen, ihre Fah­nen, und was noch mehr ist, auf ihren Sieg, Stolz und ihre Moral.« (8)

Jugo­sla­wi­en war eine Tra­gö­die für das Ser­ben­tum. Trotz­dem spricht man nur von der ser­bi­schen Hege­mo­nie. Ser­bi­en ist aus dem jugo­sla­wi­schen Alp­traum als ter­ri­to­ri­al ver­krüp­pel­te und besieg­te Nati­on her­vor­ge­gan­gen. Die Ser­ben wur­den aus vie­len Tei­len des ehe­ma­li­gen Jugo­sla­wi­ens ver­trie­ben, das Land wur­de zer­stört und am Ende von der NATO bom­bar­diert. Dis­kus­si­on über Schuld an Krie­gen, Schuld­be­kennt­nis­se der Besieg­ten und die Pro­zes­se vor dem Gericht in Den Haag die­nen nicht his­to­ri­scher Wahr­heits­su­che. Sie stel­len viel­mehr eine Fort­set­zung des Krie­ges mit ande­ren Mit­teln dar und ver­hin­dern die Wie­der­her­stel­lung eines sta­bi­len poli­ti­schen Selbst­be­wußt­seins. »Schuld« ist kei­ne poli­ti­sche Kate­go­rie, schrieb Ber­nard Willms.

Mate­ri­el­le und ter­ri­to­ria­le Ver­lus­te sowie schwe­re Armut sind nicht die schlimms­ten Fol­gen die­ser unglück­li­chen Ent­wick­lung. Schlim­mer noch sind der mora­li­sche Ver­fall, der Defä­tis­mus und »der Geist der Selbst­ver­leug­nung« (Milo Lompar),(9) die der Jugo­sla­wis­mus her­vor­ge­bracht hat und die in Tei­len der ser­bi­schen Intel­li­genz zum auto­de­struk­ti­ven Natio­nal­ma­so­chis­mus (10) führen.

Selbst­ver­leug­nung und natio­na­le Demut gehen in Ser­bi­en mit einer atlan­ti­schen Ori­en­tie­rung ein­her und mit der unkri­ti­schen Idea­li­sie­rung der EU und des poli­ti­schen Wes­tens über­haupt. Die ehe­ma­li­gen Kom­mu­nis­ten haben eine neue uni­ver­sa­lis­ti­sche Ideo­lo­gie des Links­liberalismus in der Gestalt der EU gefun­den, und im Namen der west­li­chen Wer­te bekämp­fen sie aufs neue die tra­di­tio­nel­le Kul­tur der Ser­ben, den ver­meint­li­chen ser­bi­schen Hege­mo­nis­mus und das »Groß­ser­ben­tum«. (11) Umer­zie­hungs­trieb und mora­li­scher Impe­ria­lis­mus stam­men aus dem Wes­ten. In Ser­bi­en wird das Wort »Wes­ten« als Syn­onym für nicht­tra­di­tio­nel­le oder sogar kom­plett deka­den­te Kul­tu­ren wahr­ge­nom­men. Dar­aus folgt, daß die geo­po­li­ti­sche Ori­en­tie­rung Ser­bi­ens auch aus der geis­ti­gen Ori­en­tie­rung rührt.

War das ein Irr­weg? Ser­bi­en jeden­falls braucht Ord­nung, Sta­bi­li­tät, Halt und einen gesun­den Skep­ti­zis­mus. Nach einem ver­lo­re­nen Jahr­hun­dert wer­den kei­ne neu­en Expe­ri­men­te und Illu­sio­nen gebraucht, son­dern eine nüch­ter­ne Geo­po­li­tik, die den eige­nen Inter­es­sen und der ser­bi­schen Lage ange­mes­sen ist. Das setzt kla­res Selbst­be­wußt­sein vor­aus. Denn –wie Johan­nes Groß geschrie­ben hat: Wer kein Selbst­be­wußt­sein hat, kann kei­ne Poli­tik for­mu­lie­ren und kei­ne Poli­tik betrei­ben. Um also über das eige­ne Schick­sal frei ent­schei­den zu kön­nen, muß ein Volk kla­re Vor­stel­lun­gen von sei­ner Iden­ti­tät und sei­ner Lage besitzen.

Von die­sem Stand­punkt aus betrach­tet, hat Ser­bi­en weder von einer Euro­päi­schen Uni­on noch von Ame­ri­ka noch von den atlan­ti­schen Kräf­ten über­haupt etwas Gutes zu erwar­ten. Und wenn man sich gegen die ame­ri­ka­ni­sche Hege­mo­nie, den Atlan­tis­mus, den mora­li­schen Impe­ria­lis­mus und gegen alles, was damit ein­her­geht, weh­ren will, muß ein klei­nes Land einen Ver­bün­de­ten fin­den. Im Moment ist eine wei­te­re Stär­kung der geo­po­li­ti­schen Posi­ti­on Ser­bi­ens nur mit einer stra­te­gi­schen Part­ner­schaft Ruß­lands mach­bar. Auf kei­nen Fall bedeu­tet das eine unkri­ti­sche Idea­li­sie­rung Ruß­lands oder eine Mora­li­sie­rung rus­si­scher Posi­tio­nen. Die eine, west­li­che Ideo­lo­gie der Hyper­mo­ral kann nicht mit der ande­ren bekämpft wer­den. Die Bin­dung an Ruß­land soll also kein Resul­tat der emo­tio­na­len Betrun­ken­heit oder der roman­ti­schen sla­wi­schen Brü­der­lich­keit sein, son­dern aus nüch­ter­ner, poli­ti­scher Erwä­gung erfolgen.

Zu ver­mu­ten ist, daß eine mul­ti­po­la­re Welt klei­nen Staa­ten etwas mehr Spiel­raum läßt. Aus die­sem Grund ist es sinn­voll, Ruß­land zu unter­stüt­zen. Gleich­zei­tig muß Ser­bi­en sei­ne guten Bezie­hun­gen vor allem zu Ungarn erhal­ten und ver­tie­fen. Die Aus­zeich­nung Vik­tor Orbáns durch den Patri­ar­chen der ser­bisch-ortho­do­xen Kir­che, Porf­iri­je, ist ein wich­ti­ger Schritt in die­se Rich­tung. Auf der ande­ren Sei­te wäre eine neue »über­na­tio­na­le Inte­gra­ti­on«, ein Jugo­sla­wi­en unter neu­em Namen und unter atlan­ti­scher Kon­trol­le (wie etwa die Initia­ti­ve Open Bal­kan), für das ser­bi­sche Volk nicht nur ein Beweis sei­nes kur­zen poli­ti­schen Gedächt­nis­ses, son­dern poli­ti­scher Selbstmord.

Man muß beden­ken, daß der sou­ve­rä­ne Natio­nal­staat der ein­zi­ge bekann­te Rah­men für natio­na­le Selbst­be­stim­mung, für Demo­kra­tie, für ein­deu­ti­ge poli­ti­sche Ver­ant­wor­tung, für die Herr­schaft des Rechts, für Bür­ger­frei­heit, sozia­le Soli­da­ri­tät und die Erhal­tung eige­ner Kul­tur und Über­lie­fe­rung ist. Für die Ser­ben mit ihren geschicht­li­chen Erfah­run­gen und in ihrer Lage ist die Erhal­tung des Natio­nal­staats auf sve­to­sa­vi­scher Grund­la­ge exis­ten­ti­ell wich­tig. Die­sem Erhalt sind die meis­ten ande­ren poli­ti­schen Zie­le unterzuordnen.

– – –

 

(1) – Vgl. Fried­rich Nau­mann: Bul­ga­ri­en und Mit­tel­eu­ro­pa, Ber­lin 1916.

(2) – Zbi­gniew Brze­zinski: Die ein­zi­ge Welt­macht. Ame­ri­kas Stra­te­gie der Vor­herr­schaft, Frank­furt a. M. 42001, S. 181.

(3) – Vgl. Јован Цвијић: Говори и чланци, Сабрана дела, књига 3 (том 1), Књижевне новине; Завод за уџбенике и наставна средства, Београд 1987, S. 66.

(4) – Vgl. Миломир Степић: Српски геополитички образац, Cate­na Mun­di, Београд 2019.

(5) – Vgl. Miloš Crn­jan­ski: »Die jugo­sla­wi­sche Dynas­tie«, in: Volk und Reich, Heft 1, Ber­lin 1938, S. 5 – 7.

(6) – Жарко Видовић: Историја и вера, Београд 2009, S. 49.

(7) – Слободан Јовановић: »Српски национализам у Југославији«, Сабрана дела 12, Београд 1991, S. 563.

(8) – Милош Црњански: »Трагедија српства«, Политички чланци 1919 – 1939, Задужбина Милоша Црњанског, Cate­na Mun­di, Београд 2017, S. 352.

(9) – Мило Ломпар: Дух самопорицања, Orpheus, Нови Сад 2012.

(10) – In Ser­bi­en ver­wen­det man den Begriff »Auto­ch­au­vi­nis­mus«.

(11) – Für struk­tu­rel­le Ähn­lich­kei­ten zwi­schen dem Kom­mu­nis­mus und dem heu­ti­gen Libe­ra­lis­mus sie­he: Rys­zard Legut­ko: Der Dämon der Demo­kra­tie. Tota­li­tä­re Strö­mun­gen in libe­ra­len Gesell­schaf­ten, Wien / Leip­zig 2017.

 

 

 Druckausgabe

Beitrag aus der Druckausgabe der Sezession. Abonnieren Sie!

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)