Spätestens seit Abschluß des Nichtangriffspakts zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich waren die Westalliierten davon überzeugt, daß Karl Haushofer einen maßgeblichen Einfluß auf die deutsche Außenpolitik habe.
Deshalb wurde nach Kriegsende der Gründer der Georgetown University School of Foreign Service, Edmund A. Walsh (1885 – 1956), mit der Vernehmung von Karl Haushofer beauftragt, um zu prüfen, ob dieser als Hauptkriegsverbrecher anzuklagen wäre. Wegen des hohen Alters und des schlechten Gesundheitszustands Haushofers sah man davon ab.
Aus den Gesprächen zwischen Walsh und Haushofer am 5. und 6. Oktober 1945 resultierte die folgende »Apologie«, die Haushofer am 2. November niederschrieb. Sie ist bislang nur zweimal veröffentlicht worden: in der von Walsh herausgegebenen Broschüre Wahre anstatt falsche Geopolitik für Deutschland (Frankfurt a. M. 1946, S. 18 – 27) und in der von Adolf Jacobsen herausgegebenen Edition über Karl Haushofer (Bd. 1: Lebensweg 1869 – 1946 und ausgewählte Texte zur Geopolitik, Boppard am Rhein 1979, S. 639 – 646). Unsere Dokumentation des Textes ist also die dritte Veröffentlichung. (Erik Lehnert)
- AD PERSONAM: Wenn auch nicht der Urheber des terminus technicus Geopolitik, so gelte ich doch wohl mit Recht als ihr Hauptvertreter in ihrer deutschen Erscheinungsform. Schon auf der ersten Zeile dieses Versuches einer objektiven Darstellung entsteht für den Verfasser der Zweifel, ob er sie in der dritten oder ersten Person durchführen soll? Das erste hätte den Vorzug größerer Sachlichkeit, würde aber notwendig gekünstelt wirken; er nimmt also lieber den Schein der Unbescheidenheit auf sich und spricht von sich in der ersten Person.
- Als Hemmung bei den Besprechungen in Nürnberg darf wohl gelten, daß dem Kreis der jüngeren, vollkräftigen, mit schriftlichem Material wohl versehenen Interrogatoren ein durch hohes Alter und lange Leidenszeit in seiner körperlichen und geistigen Spannkraft herabgedrückter Einzelner fast ohne jede Gedächtnishülfe gegenüberstand. [Soweit diese Darstellung als Zusammenfassung des Eindrucks jener Aussprache gelten soll, kann sie deshalb selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit machen.]
- AD REM: Die Genesis der deutschen Geopolitik ist gleichzeitig ihre Apologie; denn sie ist – als öffentliche Hochschullehre 1919 entstanden – eine Geburt der Not.
Das macht sich besonders geltend bei dreien der Fragenkreise, in die nach amerikanischer Lehrmethode die wesentlichsten Erkenntnisse der deutschen Geopolitik gruppiert werden: die des Lebensraumes, die der Grenzen und die des Gegensatzes ozeanischer und kontinentaler Geopolitik.
Denn eine in solchen Notzeiten des eigenen Landes entstandene Lehre – auch wenn ihr Urheber sich auch noch so sehr bemüht, streng wissenschaftlich legitim zu verfahren – wenn er kein wissenschaftlicher Automat, sondern ein lebhaft empfindender Mensch von Fleisch und Blut ist, kann Spuren und Mängel ihrer Entstehungszeit und ‑lage, und seines eigenen späten Eintritts in die wissenschaftliche Laufbahn tragen.
Es wäre eine unmenschliche und unmögliche Forderung, daß ein deutscher Wissenschaftler in der damaligen Zeit die Unzulänglichkeit der damaligen Lebensraum-Verteilung in Mitteleuropa (als Folge seiner übersteigerten Industrialisierung und Verstädterung) und dessen Zergliederung durch auf die Dauer unhaltbare und deshalb geopolitisch nicht zu rechtfertigende Grenzen außer acht lassen könnte. (So entstand u. a. mein Buch Grenzen.)
- Weiträumigkeit des Denkens (in Kontinenten!) und die Kenntnis der Lebensbedingungen anderer, namentlich ozeanischer Völker schienen bei der Aufnahme des Lehrbetriebs der deutschen Nachkriegsjugend am meisten zu fehlen. Vom belebenden Atem des Meeres zurückgeschnitten und ihrer überseeischen Beziehungen beraubt, war sie in kontinentaler Enge auch in ihrem Weltbild gebunden, engherzig (narrow-minded) geworden und verlor sich im Gedränge kleinlicher Reibungen, was ja auch die Parteizersplitterung in 36 Parteien und zahlreiche Bünde bewies.
Die Kenntnis der großen, im wesentlichen meerbestimmten Lebensformen, wie des britischen Reiches, der Vereinigten Staaten Amerikas, Japans, des niederländischen Sundareichs war noch unzulänglicher als die des Nahen und Mittleren Ostens, Eurasiens, der Sowjetunion.
Deshalb schien es der deutschen Geopolitik so notwendig, für Kenntnis meerumspannender Reiche, des Indo-Pazifischen Raumes zu sorgen, und dadurch ein Gegengewicht gegen das Binnengedränge der Zeit von 1919 bis 1933 zu schaffen, das nachher unter dem Druck innerer Parteikämpfe leider erst recht die Auslandskenntnis beschattete und verdunkelte.
Diesen Aufgaben diente auch die auslandswissenschaftliche Fakultät der Universität Berlin mit dem einzigen Institut für politische Erdkunde und Geopolitik meines Sohnes, Prof. Albrecht Haushofer, das es in Deutschland gab.
Ein Institut für Geopolitik in München hat nie existiert. Meine leider zum Teil durch USA-Beauftragte (Lt. Morgenstern, Kaufmann) entführte persönliche Bücherei war mein mühsam erworbenes Privateigentum; irgendwelche Mittel oder Gehalt von der Universität habe ich nicht erhalten, weil ich sonst wegen meiner Militärpension als Kriegsinvalide »Doppelverdiener« geworden wäre.
Die Anfangsschwierigkeiten der staatlich in keiner Weise unterstützten deutschen Geopolitik aus ärmlichen Anfängen waren groß.
- Kein normal empfindender Mann irgendeiner andern Nation wird bestreiten können, daß auch ein deutscher Gelehrter nach so schwerem Werdegang bei aller angestrebten Objektivität berechtigt ist, aus den ehrlich und legitim erworbenen Erkenntnissen seines Wissensgebietes, in einem solchen Ringen ums Dasein wie von 1919 bis 1932, seinem Volk mit seiner geistigen Kraft zur Seite zu stehen.
Wenn ich mir auch niemals den Grundsatz: »Right or wrong, my country« in seiner ganzen Tragweite zu eigen gemacht habe, so ist doch zuzugeben, daß in solchen Zeiten der Hochspannung die Grenze zwischen reiner und angewandter Wissenschaft sich leicht verwischt und daß also auch mir gelegentliche Überschreitungen mit unterlaufen sind, was ich auch den Interrogatoren gegenüber offen zugegeben und bedauert habe – wie sie ihrerseits anerkannt haben, daß ich von 1933 ab in meinen mündlichen und schriftlichen Äußerungen unter vierfacher Zensur, nur »under pressure«, unter Druck habe arbeiten können.
- Wenn die Interrogatoren anerkannten, daß – verglichen mit der USA-Auffassung »legitimer« Geopolitik – an der deutschen Geopolitik ein erarbeiteter Wissensbestand von etwa 60 bis 70 Prozent sei, der allgemein angenommen werden könne, so wird dabei ein scharfer Unterschied zwischen allem vor 1933 und nach 1933 gedruckten Bestand zu machen sein.
Aus der Jahresreihe von 1919 bis 1933 könnte ich zahlreiche Vorlesungen vorzeigen, die im Aufbau z. B. mit dem Schema II »Methodology« des »Course on Geopolitics« der »School of Foreign Service« der Georgetown University vom 1. Juli 1944 übereinstimmen, wenn nicht meine ganze wissenschaftliche Arbeitswerkstatt durch eine Kommission Anfang Mai unter Anleitung von Lt. Morgenstern und Herrn Kaufmann (USA) aufgebrochen und zum Teil entführt worden wäre (allerdings gegen Versprechen der Rückgabe) – darunter meine gesammelten ausgearbeiteten Vorlesungsgrundlagen.
- Was nach 1933 geschrieben und gedruckt wurde, stand »under pressure« und muß dementsprechend beurteilt werden. Wie sich dieser Druck schließlich auswirkte (an dem sich Rudolf Heß niemals beteiligte, der eher zu schützen versuchte), beweisen fast drei Jahre Gefängnis oder Aufenthaltsbeschränkung meiner Familie, meine eigene Einsperrung im KZ Dachau, die Ermordung meines ältesten Sohnes am 23. April 1945 durch die Gestapo, die scharfe Einschränkung, dann Einstellung der Zeitschrift für Geopolitik.
- Im Dritten Reich fehlte der herrschenden Partei jedes amtliche Organ zu Aufnahme oder Verständnis für geopolitische Lehren, so daß sie sich nur mißverstandener Schlagworte aus ihnen bediente, diese selbst aber nicht verstand; nur Rudolf Heß und Außenminister v. Neurath, ersterer aus seiner Zeit als mein Schüler, ehe es eine NSDAP gab, besaßen ein gewisses Verständnis für Geopolitik, ohne sich damit durchsetzen zu können.
Hingegen war unter den für die Zeit von 1922 bis 1933 kennzeichnenden Staatsmännern oder Vertretern von political science Verständnis für Geopolitik häufig. Ich nenne unter den Deutschen Außenminister Stresemann, Botschafter Schulenburg u. a., unter den Österreichern Kanzler Seipel und Kultusminister v. Srbik; in Ungarn Graf Paul Teleki u. Gömbös; in Prag Präsident Masaryk, namhafte Russen und Rumänen, Franzosen, wie Ancel, Briand, Demangeon, Montandon, Italiener, wie Gabetti, Tucci, Massi, Roletto, die guten Beziehungen zum Paneuropa-Kreis des Grafen Coudenhove-Kalergi, mit Vorträgen für ihn in Brünn, Olmütz, Prag, Wien.
- Diese bereits Interrogatoren der 3. Armee (14. – 18. 6.), des Gr. H. Qu. General Eisenhowers (24. 8. – 2. 9.), des Staff of Justice Jackson (2. – 10. 10.) breiter dargelegten Entwicklungstatsachen legitimer Geopolitik bis zur Störung ihres natürlichen Wuchses ab 1933 lassen sich am besten anschaulich machen an dem Verhältnis zu meinen Theorien über ozeanische und kontinentale wissenschaftliche Geopolitik.
Diese Theorien, ursprünglich von Friedrich Ratzel (Die Erde und das Leben; Politische Geographie; Anthropogeographie) und seinen Fortsetzern in den USA (Semple) und Schweden (Rudolf Kjellén) angeregt, sind weit mehr aus Quellen der englisch redenden Völker als aus kontinentalen geformt, und erst nach deren Grundsatz: »Let us educate our masters« an deutsche Stellen herangebracht worden.
Mahan, Brooks-Adams, Joe Chamberlain (mit einer persönlichen Aussprache 1899 über das Wünschenswerte eines Bundes Britenreich, USA, Japan, Deutschland), Sir Thomas Holdich (Grenzschöpfer), Sir Halford Mackinder (»The geographical pivot of history«), Lord Kitchener (1909), später J. Bowman (The New World u. a.) sind meine wesentlichsten Anreger gewesen, und immer wieder zitiert. Grotesk mißverstanden wurde im Dritten Reich die Warnung vor einem Schaukelspiel zwischen ozeanischer und kontinentaler Politik, das schon Wilhelm II. zum Verhängnis geworden war; noch mehr der von Reichskanzler Fürst Ito stammende Vergleich der russischen Troika mit dem Verhältnis zwischen Kultureuropa, Kulturostasien und Eurasien. Die einseitige Ostexpansion von 1939 und 1941 war eine Todsünde dagegen.
- Imperialistische Eroberungspläne sind weder durch meine eigenen Schriften noch durch meine Vorträge jemals begünstigt worden. Ich habe, wie in meinem Buch über die Grenzen, so auch in meiner öffentlichen Vortragstätigkeit, wohl gegen die Verstümmelung Deutschlands durch die Versailler Grenzziehung protestiert, habe mich für die Deutschen in Südtirol eingesetzt, die Rückgewinnung der sudetendeutschen Gebiete begrüßt, aber niemals Annexionen von volksfremden Gebieten gutgeheißen, die nicht von Deutschen besiedelt waren. Die Träume von solchen Angliederungen sind von mir stets als gefährliche Träume angesehen und abgelehnt worden. Daß durch den VDA [Verein für das Deutschtum im Ausland] zur Zeit meiner Leitung viele Tausende von deutschen Siedlern mit Kosten und Mühe aus dem Osten nach Deutschland zurückgeführt wurden, beweist am besten, daß damals jedenfalls eine Okkupation jener Gebiete nicht geplant war, mindestens der Wunsch nach ihr nicht bekannt gewesen ist. Durch Eroberung fremdblütiger Volksgebiete hätte sich der Nationalsozialismus, wie er in den ersten Jahren seine Ideale verkündigte, selbst aufgegeben, und ich habe das bei jeder Gelegenheit betont, u. a. am 8. November 1938, und mich gegen solche Eroberungspläne gewendet. Ich glaubte an das Saturierungsversprechen von 1938.
Eine wirklich gerechte, alle befriedigende Grenzziehung, die keinerlei Volksteile vergewaltigt, ist bei der ungeheuer verwickelten Verzahnung der Sprachgrenzen und Wirtschaftsbildungen besonders in Osteuropa kaum möglich, und sowohl ich als auch mein Sohn Albrecht und andere meiner Schüler und Mitarbeiter haben in langen Beratungen vergeblich versucht, völlig gerechte und dauerhafte Grundlagen für eine solche Grenzziehung zu schaffen, wobei mein Bestreben immer dahin ging, keine Irredenta irgendwelcher Art dabei entstehen zu lassen.
Daß bei einer solchen überzeugten Zurückhaltung schon innerhalb Europas die mir zur Last gelegten Eroberungspläne mit ausgearbeiteten Karten für eine Überflutung anderer Erdteile, wie Südamerika, völlig aus der Luft gegriffen waren, versteht sich dann wohl von selbst. In solchen Dingen hat sich die Sensationslust der Presse auch mit weit gehenden Kartenfälschungen hemmungslos ausgetobt.
- Meine kulturgeographische Vorliebe für Japan stammt aus meiner zweijährigen Vertrautheit mit Land und Volk. Sie wurde dadurch verstärkt, daß ich die Träger der Altkultur dort, durch Kenntnisse altasiatischer Kultur- und Religionsgeschichte besonders vorbereitet, in vornehmen und erfreulichen Persönlichkeiten, die unsympathischen Erscheinungen Neu-Japans dagegen fast gar nicht kennenlernte.
Den japanisch-chinesischen Krieg von 1937 habe ich, wie mein zur Zeit seines Ausbruchs aus den USA in Japan und China eintreffender Sohn, Professor Dr. Albrecht Haushofer, für ein Unglück gehalten, und zu seiner Hintanhaltung getan, was ich konnte. Korea dagegen hat mir 1909 den Eindruck gemacht, daß es nur die Wahl zwischen japanischer, chinesischer, russischer oder überseeischer Vormundschaft hatte und auf eigenen Füßen nicht stehen konnte, wie damals auch die Mandschurei. Jeden bewaffneten Zusammenstoß des europäischen Westens mit den Kulturrassen des Fernen Ostens in China, Japan oder Südostasien hielt ich für sinnlos und suchte, ihm durch Förderung des Angleichs in weiser Kulturpolitik vorbeugen zu helfen. Daher das Buch Deutsche Kulturpolitik im Indopazifischen Raum, aber auch schon 1913 Dai Nihon mit seinen Warnungen gegen Rassen-Überheblichkeit und seinem Hinweis auf die Stärken des menschenreichen Südostens von Asien bei seiner Tendenz zum Wiederaufstieg zur Selbstbestimmung.
Ich glaube auch, daß dem Großvater des Kaisers von Japan, Mutsuhito Meiji-Tenno, den ich persönlich kannte, die immer aufeinander eifersüchtigen japanischen Parteien und Clane nie so weit aus der Hand gekommen wären wie seinem Enkel.
Die ersten Ausgaben der Geopolitik des Pazifischen Ozeans betonen gerade dessen Freiheit von kriegerischen Vorbelastungen. Darin befand ich mich im Einklang mit den ersten Herausgebern der Pacific Affairs, damals noch in Honolulu, den Begründern der panpazifischen Ausgleichsbestrebungen, auch Forschern, wie dem Australier Griffith Taylor, der mir Environment and Race zusandte, das ich ehrend besprach. Ich habe nichts getan, um das Feuer im Pacific zu schüren, habe im Gegenteil bei Buchbesprechungen der zeitweilig beliebten Zukunftskriegsromane (Bayswater) vor solchem Spiel mit einem gefährlichen Feuer gewarnt, nur dann die wehrgeopolitischen Tatsachen in laufenden Berichten erwähnen müssen.
- Das Buch Mein Kampf habe ich zum erstenmal gesehen, als es bereits im ersten Band gedruckt war, und seine Besprechung abgelehnt, weil es mit Geopolitik nichts zu tun habe. Es schien mir damals eine der vielen ephemeren Agitationserscheinungen. Selbstverständlich war ich an seiner Entstehung unbeteiligt und glaube, durch jeden wissenschaftlichen Vergleich meiner Schreibweise mit der jenes Buches vor jedem in der gelben Presse ausgesprochenen Verdacht der Mitwirkung geschützt zu sein. Hitler habe ich niemals unter vier Augen, zum letztenmal vor Zeugen am 8. November 1938 gesehen und einen Zusammenstoß mit ihm gehabt. Von da an war ich in Ungnade, seit dem Flug von Rudolf Heß im Mai 1941 den Verfolgungen der Gestapo preisgegeben, die erst Ende April 1945 mit der Ermordung meines ältesten Sohnes wegen Mitwisserschaft am 20. Juli 1944 und seiner Beziehungen zu den englisch sprechenden Völkern endete. Meine Freundschaft mit Rudolf Heß stammte aus dem Jahre 1918, ist, wie seine Zuhörerschaft bei meinen Vorlesungen, vier Jahre älter als die NS-Parteibildung. Hitler sah ich zum erstenmal 1922, als einen der vielen Volkstribunen, die damals aus dem überhitzten deutschen Volksboden und seinen verschiedenen Bünden und Bewegungen aufsprangen.
Bis 1938 gab ich mich allerdings ähnlichen Irrtümern über Entwicklungsmöglichkeiten zum Guten hin, wie z. B. Henderson und Chamberlain, und hoffte noch bis Mitte Oktober auf friedliche Lösung.
- Vom Herbst 1938 ab vollzog sich, an unserem Einzelschicksal von Vater und Sohn mit Gefangenschaft und Tod illustriert, der Leidensweg der deutschen Geopolitik, innerhalb des Leidensweges von »political science« in Mitteleuropa überhaupt, unter dem Druck der Alleinherrschaft einer Partei bis zu Mißbrauch und Mißverstehen durch staatliche Stellen.
Dabei war die deutsche Geopolitik ursprünglich, von 1919 bis 1932, auf ganz ähnliche Ziele gerichtet wie die amerikanische. In dem Programm ihres ersten Auftretens fand sich die Stelle, daß sie »das geographische Gewissen des Staates« sein wolle. Das hätte z. B. 1938 geboten, sich dankbar mit dem in München Erreichten zu begnügen. Als ich das aber am 8. November 38 nach der Rückkehr aus Italien, endlich das Staatsoberhaupt erreichend, durchzusetzen versuchte, fiel ich in Ungnade und sah es nie wieder. Bis dahin also darf dieser Träger deutscher Geopolitik sich wohl als legitimen Vorfechter auch im Sinne der amerikanischen betrachten.
- Das Ziel der deutschen Geopolitik war ursprünglich, wie das der legitimen amerikanischen, gewesen, durch gegenseitiges Verständnis der Völker in ihren Entwicklungsmöglichkeiten aus Kulturboden und Lebensraum künftige Wirren, wie die von 1914 bis 1918, möglichst auszuschließen; für Minderheiten aber ein Höchstmaß von Gerechtigkeit und kulturpolitischer Autonomie zu erlangen, wie es etwa in Estland der Fall war und in Siebenbürgen zeitweilig erreicht schien.
Das setzte ein geographisch richtiges Weltbild, dann Gegenseitigkeit und Achtung einer Nationalität und Rasse durch die andere und Anerkennung des Menschenrechtes auf »Persönlichkeit« voraus: ein Höchstmaß von Duldung, Toleranz, von dem z. B. meine Vorlesungen und Übungen von 1919 bis 1932 erfüllt waren. Sonst hätten mich gewiß nicht die Paneuropa-Verbände zu Vorträgen in Prag unter Einladung des Staatspräsidenten, in Brünn und Olmütz, in Seipels Wien eingeladen, ungarische und estnische Kultusminister meine Vorträge in Budapest und Reval besucht, Kulturanstalten in Zeiten staatlicher Spannung mich nach Rom, in die Schweiz, nach Oxford und Lissabon gebeten, Angehörige aller Kulturrassen, Geopolitik-Gesellschaften in Tschungking, Professoren der Universität Jerusalem, wie Kohn, mit mir in dauerndem Schriftwechsel gestanden.
Einige dieser kulturpolitischen Ausstrahlungen der deutschen Geopolitik wirkten auch nach 1933 noch fort, so die nach Schweden und Norwegen, zum Vatikan, nach China, England (wo ich Ehrenmitglied der Britischen Legion bin), Frankreich (Ancel, Demangeon, Montandon, Haguenauer, Societé Franco-Japonaise de Paris), abgesehen von den der deutschen Politik näherstehenden Ländern, wie Italien, Japan, Ungarn, Rumänien.
- Das leider nur im Ersten Band als Handschrift gedruckte Handbuch meines von der Gestapo ermordeten Sohnes über Politische Geographie und Geopolitik könnte ebenso gut in geistigen geopolitischen Werkstätten des Auslandes irgendwelcher der alliierten Nationen entstanden sein. Es hat im Entstehen während eines Ferienaufenthaltes im Elternhaus geschrieben, gemeinsam durchdacht, meine volle Billigung gefunden, – nur hätte ich es selbst nicht schreiben können, weil mir die methodologische Anlage und Schulung dafür fehlte, so brauchbar ich vielleicht als Anreger gewesen sein mag.
- In Denkschriften, die als Antworten auf Befragung im Stabe General Eisenhowers entstanden und den Interrogatoren vorlagen, habe ich im einzelnen ausgeführt, daß eine international im lebendigsten Gedankenverkehr und Personenaustausch von Professoren, Lehrern, Assistenten und Studenten aufgebaute Geopolitik eines der besten Mittel zur Vermeidung künftiger Weltkatastrophen sein würde. Nach dem Sinn ihres Namens könnte sie das »Sakrale der Erde«, die Heiligkeit des tragenden Bodens der Menschheit in der politischen Kunst ihrer Führung wieder zur gebührenden Ehre bringen. Zu diesem erhabenen Ziel suchte die deutsche Geopolitik zwischen den Erdbeben von 1914 bis 1919 und 1938 bis 1945 einen Weg zu bauen. Liefen ihr dabei Fehler und Irrtümer unter, so standen sie doch unter der Wohltat eines Weisheitsspruches in englischer Sprache: »All human progress resolves itself into the building of new roads.«