Dieser Antrag verdient absolute Zustimmung, wurde ungewöhnlicherweise nicht nur in den Bildungsausschuß überwiesen, sondern dort sogar mit einer Sachverständigenanhörung behandelt. Gleichwohl dürfte er keine Chance auf eine parlamentarische Mehrheit haben.
Dabei möchte die AfD-Fraktion zu einem Bewertungsschlüssel zurück, den es genau so mal gab, damals ministeriell begründet. Das eben zeigt ja die Schwundstufen.
Zum Hintergrund des Problems:
Die Tendenz zu Inflationierung von Benotungen und Bewertungen ist in der Betrachtung über die letzten dreißig Jahre Schulgeschichte hinweg offensichtlich. Die Richtung: Verringerung von Anforderungen bei ohnehin reduzierter Vermittlung von Inhalten.
Sowohl Berufsausbilder als auch Hochschullehrer beklagen daher unisono, daß Absolventen der verschiedenen Schularten selbst bei passablen bis sehr guten Abschlüssen und Notenschnitten mittlerweile zu wenig wissen und können, um nach Absolvieren der Schule gut an Lehre oder Studium anzuschließen.
Da das Abitur eine Studierfähigkeit und kritische Urteilskraft schon lange nicht mehr garantiert, halten Hochschulen und Universitäten gesonderte Einführungskurse für erforderlich, um Erstsemester „fit zu machen“. Befähigungen zum sinnentnehmenden Lesen gingen ebenso zurück wie das Vermögen, selbständig längere Facharbeiten zu verfassen.
Lehrmeister wiederum weisen darauf hin, daß von neuen Lehrlingen immer schlechter gerechnet, mithin beispielsweise im Handwerk nicht sicher aufgemessen und kalkuliert werden kann. Zudem fehlt es an Grundtugenden und an Arbeitsdisziplin.
So, wie das Schulsystem überhaupt eher quantifiziert, als daß es noch qualifizierte, wurden die Anforderungen an die einzelnen Benotungsstufen stetig verringert, um so mindestens noch äußerlich einer zweifelhaften Vorstellung von Gerechtigkeit und Inklusion, gar von Gleichheit zu entsprechen.
Aber: Ebenso wenig, wie Gendersprache die Welt geschlechtergerechter macht, führt eine offiziell hochgeschwindelte Benotung zu mehr Chancengleichheit. Im Gegenteil.
Daß allen Schüler bei aufmerksamer Förderung grundsätzlich alles möglich wäre, erscheint aus anthropologischen Gründen zwar unsinnig, es soll aber gemäß den Vorstellungen gegenwärtiger Bildungspolitik im Notenbild möglichst so aussehen. Provokant ausgedrückt: Wo immer weniger vermittelt wird, paßt man die Bewertungen einfach dem degressiven Verlauf nach unten an.
Damit werden den Schülern und Absolventen letztlich zwar gute Zeugnisse, damit aber ungedeckte Schecks ausgestellt, und so kommt es in der Lebenspraxis und im Verlaufe weiterführender Bildung ganz unweigerlich zu Enttäuschungen und sowohl in der Facharbeiterausbildung als auch im Studium zum häufigen Abbruch von Ausbildungen, zumal die jungen Menschen in der permanent lobenden Schule allzu wenig lernten, mit eigenen Mißerfolgen und zeitweiligem Scheitern umzugehen. Vielen fällt eine kritische Selbsteinschätzung schwer.
Trivial ausgedrückt: Mehr Schein als Sein, das rächt sich früher oder später. Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ gewann vorm Hintergrund dieser essentiellen Erfahrung eine geradezu mythische Dimension und trifft auch den Kern dessen, was hinsichtlich deutlicher Überbenotungen zu verhandeln ist.
Wenn ein Heranwachsender infolge inflationierter Benotung als guter Schüler galt, wird er es in der Ausbildungspraxis umso frustrierender erleben, wenn er registriert, daß er zu wenig kann und sogar einfachstes Schulwissen nachzuarbeiten hat, um beruflichen Anforderungen genügen zu können.
Ähnlich nach dem Abitur, das mal als Reifeprüfung aufgefaßt wurde. An der Universität Greifswald brachen 2020 83 Prozent der Lehramtsstudenten ihr Universitätsstudium ab.
Eine Selektion nach Leistungsvermögen wird immer mehr vermieden. Das dreigliedrige Schulsystem versuchte dem noch Rechnung zu tragen. Es wurde fast überall von einem asymmetrischen zweigliedrigen System abgelöst. Dem überlaufenen gymnasialen Bildungsgang steht eine nichtgymnasiale „Reste-Schule“ gegenüber.
Von Binnendifferenzierung ist zwar beständig die Rede, nur kann sie in den meisten Klassen- und Gruppensituationen nicht wie erfordert realisiert werden; schwache Schüler werden also durchgezogen und dabei latent überbenotet. Mit der Inklusion kamen an den sowieso nicht unproblematischen nichtgymnasialen Schulen noch Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischen Förderbedarfen hinzu.
Weil nach gängigen Gerechtigkeits- oder eher Gleichheitsvorstellungen jeder durchzubringen ist, fragen sich Lehrer einfach, warum sie der Stein sein sollen, über den jemand stolpert, was dazu führt, daß der Lehrer darüber Rechenschaft abzulegen hat.
Auf mindestens gute Zensuren meint auf Verheißungen der Bildungspolitik hin mittlerweile jeder per se ein Anrecht zu haben; die Kränkung beginnt bereits mit der Note Zwei, noch kritischere Bewertungen werden als Diskriminierungen verstanden; ab der Note 4 geraten die Lehrer unter Revisions- und Rechtfertigungsdruck.
Bei ihnen, weniger bei den Schülern, wird die Verantwortung für die „Schnitte“ gesehen. Meist beginnt die Benotung überhaupt erst ab Klasse 3, weil sie nach gängiger Lehrmeinung den sensiblen Grundschülern in den beiden ersten Klassenstufen seelisch nicht zuzumuten ist. Selbst die Abschaffung der Zensierung ist immer wieder im Gespräch. Während die Erfahrung lehrt: Kinder wollen natürlicherweise bewertet und zensiert werden; sie empfinden das als Herausforderung.
Aber: Leistungsvermögen und Selbstüberwindung, Fleiß und Anstrengungsbereitschaft, Ausdauer und Frustrationstoleranz schwanden, weil die Schulpolitik von vornherein allen alles versprach, davon aber im Substantiellen immer weniger halten konnte, so wie sie sich generell eher aufs Fördern denn aufs Fordern verlegte. Lernen wurde als rein freud- und lustvolle Angelegenheit dargestellt. Das war es indessen nie. Ohne Fleiß kein Preis, gilt als reaktionärer Spruch, vermittelt jedoch eine Binsenweisheit, die nun mal stimmt.
Einerseits so viele Einserschnitte wie nie, insbesondere im Abitur, andererseits – ausgewiesen im letzten IQB-Bildungstrend und in allen anderen maßgeblichen Tests und Studien– immer dramatischere Defizite selbst in basalen Kompetenzen wie dem qualifizierten Lesen und Schreiben sowie in der Mathematik und den Naturwissenschaften, Mängel also, die im direkten Zusammenhang mit dem Fachkräfteproblem insbesondere im MINT-Bereich stehen.
Die Berufsausbilder und die Hochschulen sowie Universitäten reagierten auf die Bewertungsinflationierung an den Schulen mit eigenen Test- und Auswahlverfahren, um so für sich objektivere Einschätzungen vornehmen zu können. Sie kommen aber selbst nicht umhin, ihre Ansprüche und ihre Bewertungsmaßstäbe zu reduzieren und aufzuweichen.
Der Schwund an Kenntnissen und Befähigungen wurde durch Reduzierungen bzw. Veränderungen in den schulischen Prüfungsverfahren noch verstärkt. So wird beispielsweise auch in Sachsen-Anhalt in der Deutsch-Prüfung zu Mittleren Reife auf das Erstellen eines geschlossenen komplexen Textes im Sinne früher üblicher Aufsatzformen verzichtet und – offenbar in Anlehnung an die VERA-Vergleichsarbeiten – zu einem höchst fragwürdigen Multiple-Choice-Verfahren Zuflucht genommen, abgesehen davon, daß der Nachweis elementarsprachlicher Befähigungen, insbesondere solcher der Orthographie, Grammatik und Stilistik, innerhalb der Bewertung verhältnismäßig von allzu geringem Gewicht ist.
Im Bereich Mathematik fehlen mittlerweile im Abiturstoff mathematische Beweisverfahren und Übungen im axiomatischen Denken sowie früher notwendige geometrische Befähigungen. Allzu schnell wird von einer den Ministerien hörigen „Bildungsforschung“ erklärt, man „entrümpele“ die Rahmenrichtlinien, folge dem „exemplarischen Prinzip“ und reduziere auf Praxisrelevantes. Vor allem aber senkt man Anforderungen – zu Lasten solider und anwendungsbereiter Kenntnisse, ganz zu schweigen vom Verzicht auf zusammenhängendes Wissen und Denken sowie Allgemeinbildung.
Beides, die Reduzierungen von Inhalten und Anforderungen im Fachlichen und die veränderten, also gefälliger gestalteten Maßstäbe im Zensieren und Bewerten, kaschieren kulturelle Bestandverluste in der Bildung und führen zu allzu positiven Einschätzungen des tatsächlichen Kenntnisstandes und Leistungsvermögens der Schüler.
Ursache dieses Etikettenschwindels ist das rein politische Bedürfnis, wachsende Defizite in der Bildungs- und Erziehungsarbeit nicht in deren eigentlichen Ursachen erkennen und verändern zu wollen, sondern im Sinne selbsterfüllender Prophezeiungen Erfolge dort zu suggerieren, wo es sie längst nicht mehr gibt, da der Aufwand einer prinzipiellen Klärung der Bildungsmisere unter den gegenwertigen schulpolitischen Bedingungen nicht leistbar, ja nicht einmal gewollt erscheint.
Wollte man zu einer redlicheren Zensierung zurückkehren, müßten begleitend sehr wesentliche Grundvereinbarungen von Pädagogik, Didaktik, Methodik und Schulstruktur verändert werden. Zudem wären Unterricht und Erziehung dann wieder als engere Einheit aufzufassen. So erscheint dringend notwendig, Haltungen und Tugenden auszubilden, die einen Heranwachsenden gerade bei Herausforderungen und in Schwierigkeiten bestehen und ihn daran sogar wachsen lassen.
Auf evolutionär-reformerischem Wege erscheint das nicht möglich, zumal es bereits allzu viele Reformen und Reförmchen gab; harte und konsequente Veränderungen liegen der Bildungspolitik jedoch fern, wiesen letztlich aber den einzigen Weg, im Wortsinne schülergerecht zu arbeiten und der Schule ihr einstiges Vermögen zurückzugewinnen, solide Grundlagen für die Berufsausbildung und das Studium zu legen. Höchste Zeit eigentlich für eine Korrektur.
Dies jedoch hieße, die einzelnen Schularten in ihrem jeweiligen Selbstverständnis kritisch neu zu bestimmen, um die Berufsreife, die Mittlere Reife und das Abitur wieder als Abschlüsse ansehen zu können, die für jeweils besondere Berufsbilder prädestinieren.
Während etwa das Gymnasium an akademischem Niveau verlor und wegen der lange Zeit sogar erwünschten allzu hohen Zahl andrängender Schüler zu einer Art neuen Gesamtschule wurde, fehlen den nichtgymnasialen Bildungsgängen gute Schüler, die eine bessere Unterrichtsqualität für künftige Lehrlinge in Handwerk, Industrie, Dienstleistung und Verwaltung ermöglichen würden.
Die Inklusionskampagne, gleichfalls politischen Wunschvorstellungen folgend, sorgte für weitere Verzerrungen in den schulischen Laufbahnen und hinsichtlich der Bewertungen. Verschob sich seit den Siebzigern der Schwerpunkt pädagogischer Arbeit zunächst vom Inhaltlichen ins Methodische und avancierte die Schule später zu einer sich primär sozialpädagogisch verstehenden Einrichtung, so ist sie gegenwärtig gerade als Ganztagsschule spürbar wieder massiven ideologischen Einflußnahmen ausgesetzt, die ihren ursprünglichen Aufgaben nicht entsprechen.
Die Maßstäbe allzu gefälligen Bewertens und Zensierens wieder anspruchsvoll zu gestalten stellt einen richtigen und notwendigen ersten Schritt dar, schulpolitische Lebenslügen zu revidieren. Die Schule und das Bildungssystem insgesamt dürfen nicht noch intensiver politisch dominiert und ideologischen Kampagnezielen dienstbar gemacht werden.
Engel 0102
Sie haben natürlich vollkommen recht. Leider ist das alles nichts Neues - jeder, der seine fünf Sinne beisammen hat, konnte das seit Jahrzehnten erkennen. Ich bin lange genug im Schuldienst und sah diese Entwicklung von Jahr zu Jahr deutlicher. Inzwischen haben wir fast "das Ende der Fahnenstange" erreicht, sowohl was Leistung als auch Verhalten betrifft. Und nein, ich rede nicht von Berlin, sondern vom hochgelobten Bayern.