Wider die Moderne – René Guénon

von Jekaterina Iwanowa -- PDF der Druckfassung aus Sezession 111/ Dezember 2022

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»Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Ret­ten­de auch.« An einem Zeit­punkt, da alles ver­lo­ren scheint, die west­li­che Zivi­li­sa­ti­on zwi­schen einem auf die Spit­ze getrie­be­nen Mate­ria­lis­mus und einer vage ver­träum­ten Mys­tik hin- und her­ge­ris­sen wird und sich in Salons wie auch Labo­ra­to­ri­en auf die gro­ßen Welt­krie­ge vor­be­rei­tet, betritt René Gué­non die Bühne.

Es ist eine bro­deln­de Zeit. Die Enzy­klo­pä­dis­men und Ratio­na­lis­men errei­chen ihren Höhe­punkt, der Fort­schritt galop­piert einer glor­rei­chen Zukunft ent­ge­gen. Die des Ritts müd gewor­de­nen Dich­ter und Den­ker ver­sin­ken in Wol­ken von Weih­rauch und Äther und seh­nen – in Kon­takt mit den Geis­tern der Ver­stor­be­nen – ein kom­men­des Reich des Geis­tes herbei.

Der schüch­ter­ne Fran­zo­se been­det bei­des, indem er jener »dürf­ti­gen Zeit« etwas bringt, was ihr bis­lang fehlt – das Fun­da­ment der Tra­di­ti­on und der Meta­phy­sik. Mit die­sen Begrif­fen meint er frei­lich etwas ande­res als das, was sie gemein­hin bedeu­ten, und legt damit einen fes­ten Boden für die radi­kals­te Oppo­si­ti­on zur modern­den Moder­ne. Das Resul­tat ist der soge­nann­te Tra­di­tio­na­lis­mus, eine Strö­mung, die seit­dem die gesam­te intel­lek­tu­el­le Welt erfaßt, zu der Per­sön­lich­kei­ten wie Fri­th­jof Schuon, Titus Bur­ck­hardt, Juli­us Evo­la, Mar­tin Lings, Wil­liam Stodd­art und Sey­y­ed Hos­sein Nasr zäh­len. Im wei­tes­ten Sin­ne auch Mir­cea Eliade.

Gué­non, 1886 in Blois gebo­ren, stran­det auf sei­ner geis­ti­gen Odys­see an den Gesta­den aller mög­li­chen eso­te­ri­schen und okkul­ten Ver­ei­ne. So durch­eilt er als Frei­mau­rer, um mit Schil­ler zu reden, »so man­chen Grad mit schnel­lem Geist«, sowohl in »regu­lä­ren« wie auch in »irre­gu­lä­ren« Logen. Einer sei­ner »Hiero­phan­ten« ist der Mar­ti­nist Gérard ­Ana­clet ­Vin­cent Encausse, bes­ser bekannt als Papus. 1909 wird er unter dem Namen Tau Palin­gé­ni­us d’Alexandrie sogar kurz Bischof der Gnos­ti­schen ­Kir­che Frank­reichs. Doch sind dies alles nur ers­te Schrit­te, um die eige­ne Posi­ti­on zu erkun­den und im kom­men­den Reich des Geis­tes Fuß zu fassen.

Immer mehr ent­pup­pen sich die magi­schen Strö­mun­gen als halt­los und selbst­ge­schaf­fen, ohne Über­lie­fe­rung, ohne Ver­wur­ze­lung. Immer wich­ti­ger wer­den statt des­sen die intel­lek­tu­el­len Dimen­sio­nen des Ori­ents, die es nicht allein zu erschlie­ßen, son­dern mit dem Voka­bu­lar des Okzi­dents über­haupt erst zu benen­nen gilt. Denn was wäre zum Bei­spiel der Vedan­ta? Eine Reli­gi­on, eine Phi­lo­so­phie, wie es die west­li­chen For­scher behaup­ten? Doch was heißt Reli­gi­on, was Phi­lo­so­phie? Läßt sich eine uralte Leh­re, zu der, neben der eigent­li­chen Dok­trin, auch Ritu­al und Initia­ti­on gehö­ren, etwa wirk­lich mit dem Sub­jek­ti­vis­mus eines René Des­car­tes ver­glei­chen, der alles aus dem dubi­to her­aus gebiert? Oder mit einem psy­cho­lo­gi­sie­ren­den Hen­ri ­Berg­son? Oder mit dem ver­welt­lich­ten Chris­ten­tum, das sich zwi­schen mora­li­sie­ren­der Fröm­mig­keit und expe­ri­men­tell theo­lo­gi­schem Wild­wuchs à la Teil­hard de Char­din zerreibt?

Mit jedem Ver­such, ein tra­di­tio­nel­les Phä­no­men auch nur zu umrei­ßen, stößt Gué­non auf schier unüber­wind­li­che Schwie­rig­kei­ten, die nicht sprach­li­cher Natur sind, viel­mehr kate­go­ri­scher, wesen­haf­ter. »Tra­di­tio­nell«, oder bes­ser gesagt »tra­di­tio­nal«, bedeu­tet nicht »alt­her­ge­bracht«, son­dern ange­bun­den an etwas, das die Zeit über­dau­ert. Mit dem Ver­lust der Tra­di­ti­on ver­liert der Wes­ten die Transzendenz.

Wie aber lernt Gué­non die Tra­di­ti­on ken­nen? Es gibt Behaup­tun­gen, nach denen geheim­nis­vol­le Abge­sand­te des Hin­du­is­mus mit ihm in Kon­takt tra­ten, die nach wahr­haft Intel­lek­tu­el­len im Wes­ten Aus­schau hiel­ten. Auch bringt ein gewis­ser Albert de Pou­vour­ville, der vie­le Jah­re in Chi­na und Viet­nam ver­bringt und unter dem Namen Mat­gioi publi­ziert, ihm den Tao­is­mus näher, in den er ein­ge­weiht zu sein vor­gibt. Schließ­lich – irgend­wann zwi­schen 1910 und 1912 – initi­iert ihn der im Dau­er­pre­ka­ri­at leben­de schwe­di­sche Impres­sio­nist Ivan Agué­li in den seit dem Mit­tel­al­ter bestehen­den Shad­hi­li­y­ya-Sufior­den, dem er selbst bereits 1902, ver­mut­lich als ers­ter Euro­pä­er, bei­getre­ten ist. Gué­non muß zuvor­derst den Islam anneh­men, er heißt von da an Abd al-Wahid Yahia.

Um Gué­nons Hin­wen­dung zum Islam ran­ken sich heu­te vie­le Legen­den. So ist es Brauch, in Gué­non einen zum Islam bekehr­ten Katho­li­ken zu sehen, der nach lan­ger Suche end­lich den Weg des Pro­phe­ten für sich ent­deckt hat und dann ein ein­fluß­rei­cher Sufi-Scheich wird. Sein spä­te­rer Mit­strei­ter Fri­th­jof Schuon stellt fest, daß es Gué­non über­haupt nicht um eine reli­giö­se Zuge­hö­rig­keit geht, viel­mehr allein um die Initia­ti­on in ihrer »regu­lä­ren«, das heißt über­lie­fer­ten Form. Im Chris­ten­tum hat er sie nir­gends gefun­den, im Hin­du­is­mus ist sie durch die Kas­ten geschützt, im Islam jedoch für jeden von Her­zen Stre­ben­den zugänglich.

Der Islam ist also ledig­lich die Vor­be­din­gung, gewis­ser­ma­ßen die Zugangs­be­rech­ti­gung – ein, wie ihm scheint, akzep­ta­bler Preis. Gué­non wird Sufi, kein Sufi-Scheich. Und in sei­nen Wer­ken tritt er nie als Mus­lim in Erschei­nung, behan­delt die meta­phy­si­schen Din­ge meist in den ihm so wohl­ver­trau­ten Ter­mi­ni des Vedan­ta und der tho­mis­ti­schen Scho­las­tik. Er emp­fiehlt auch kei­nem sei­ner Nach­fol­ger die Kon­ver­si­on und hält sei­ne eige­ne für eine rein pri­va­te und schick­sal­haf­te Angelegenheit.

(Ein Wort zum Chris­ten­tum: Wäh­rend es inner­halb der west­li­chen Kir­che in der Tat kei­ne initia­ti­sche Tra­di­ti­on gibt, exis­tiert sie seit jeher in der Ost­kir­che als die Pra­xis des Hesy­chas­mus, des »Her­zens­ge­bets« – eine geis­ti­ge Dis­zi­plin, die durch­aus dem sufi­schen Dhikr ent­spricht, ja, mög­li­cher­wei­se des­sen Ursprung bil­det. Für das Chris­ten­tum in sei­ner ortho­do­xen Aus­prä­gung bleibt Gué­non aber merk­wür­di­ger­wei­se taub. Eben­so für den Pro­tes­tan­tis­mus. Die Auf­ga­be, die­se für den Tra­di­tio­na­lis­mus auf­zu­be­rei­ten, ist denn auch Fri­th­jof Schuon vorbehalten.)

1930 reist Gué­non zusam­men mit einer Freun­din in den Ori­ent und beschließt, sich in Kai­ro nie­der­zu­las­sen. Er hei­ra­tet eine Ägyp­te­rin und grün­det mit ihr eine Fami­lie. In Ägyp­ten lebt er bis zu sei­nem Tod in beschei­de­ner Zurück­ge­zo­gen­heit, schreibt Bücher, die in Frank­reich mit Unge­duld erwar­tet wer­den. Außer­dem steht er in aus­ge­dehn­tem Brief­kon­takt mit zahl­rei­chen Gleich­ge­sinn­ten welt­weit und emp­fängt sel­te­ne und sorg­sam aus­ge­wähl­te Gäs­te. Er stirbt 1951.

Doch bereits zu sei­nen Leb­zei­ten wie auch danach wächst das von ihm Gesä­te in den Köp­fen der euro­päi­schen Geis­tes­eli­te. Was sind das für Gedan­ken und wie las­sen sie sich am bes­ten begrei­fen und anwenden?

Den Kern bil­det die Idee der Tra­di­ti­on. Um sie zu ver­ste­hen, ist es not­wen­dig, eine Per­spek­ti­ve ein­zu­neh­men, die unse­rem Welt­bild dia­me­tral ent­ge­gen­ge­setzt ist, das vom Fort­schritts­glau­ben und sei­nem wis­sen­schaft­li­chen Anhang, der Evo­lu­ti­ons­theo­rie, geprägt ist. Im Wider­spruch dazu redet die anti­ke Kosmo­go­nie von zykli­schen Zeit­al­tern, die mit dem Gol­de­nen anfan­gen und dann schritt­wei­se degra­die­ren. Was Gué­non »Tra­di­ti­on« nennt, ist gewis­ser­ma­ßen der Beginn des Gol­de­nen Zeit­al­ters, die Stif­tung des geis­ti­gen Welt­ge­fü­ges, der gesam­ten mensch­li­chen Mani­fes­ta­ti­on. In ihr ist wie in einer Wur­zel alle Fül­le ent­hal­ten, die sich in zahl­lo­sen Zwei­gen kund­tut: in der Phi­lo­so­phie, der Reli­gi­on, der Wis­sen­schaft, der Kunst, der Gesetz­ge­bung, der Gesell­schafts­ord­nung etc. Dank der Anbin­dung all die­ser Zwei­ge (oder »Anwen­dun­gen«) an das Prin­zip blei­ben sie stets in der Tran­szen­denz ver­an­kert. Das heißt, die tra­di­tio­na­le Welt kennt kei­ne Tren­nung in »sakral« und »pro­fan«.

Die­se Erkennt­nis ist essen­ti­ell. Wer sie nicht erfaßt, wird für wei­te­res blind sein. So zeigt der eng­li­sche For­scher Mark Sedgwick, der mit sei­nem Buch Gegen die moder­ne Welt. Die gehei­me Geis­tes­ge­schich­te des 20. Jahr­hun­derts (Ber­lin: Matthes & Seitz 2019) ein wis­sen­schaft­li­ches »Stan­dard­werk« über den Tra­di­tio­na­lis­mus vor­ge­legt hat, kei­ner­lei Ver­ständ­nis für die­se Din­ge, indem er gleich zu Beginn behaup­tet: »Die tra­di­tio­na­lis­ti­sche Bewe­gung, von der in die­sem Buch die Rede sein wird, ver­steht Tra­di­ti­on haupt­säch­lich als seit undenk­li­chen Zei­ten über­lie­fer­ten Glau­ben und Brauch bzw. Glau­ben und Brauch­tum, die dem Wes­ten im Lau­fe des 16. nach­christ­li­chen Jahr­hun­derts abhan­den gekom­men sind.« »Glau­be« und »Brauch­tum« sind gewiß die denk­bar unpas­sends­ten Begrif­fe, um die Tra­di­ti­on im Gué­non­schen Sin­ne zu beschrei­ben. Und so bleibt das Buch nur der rela­ti­vie­ren­de Außen­blick eines ver­wun­der­ten Aka­de­mi­kers, den es in die­se »bizar­re« anti­mo­der­ne Welt ver­schla­gen hat.

Die Tra­di­ti­on ruht kei­nes­wegs auf dem Glau­ben, viel­mehr auf der meta­phy­si­schen, sprich: rein­geis­ti­gen Erkennt­nis. Sie ist ein Zeug­nis der Welt des Seins mit­ten in einer Welt des Wer­dens. In ihr tri­um­phiert das Prin­zip des Einen über die illu­so­ri­sche Viel­heit und das Pola­re über die Zer­streu­ung. Ihre Aus­rich­tung auf das Zen­trum hin erklärt uns einen wei­te­ren Kern­be­griff Gué­nons – die Initia­ti­on. Sie ist die Fixie­rung des mensch­li­chen Bewußt­seins im Über­mensch­li­chen, Unbe­weg­li­chen, Raum- und Zeitlosen.

Die zum Mit­tel­punkt stre­ben­de Kraft der Tra­di­ti­on unter­stützt die­sen Vor­gang auf allen Ebe­nen. So wird in ihr jede künst­le­ri­sche Gestalt, jede archi­tek­to­ni­sche Form, jedes Hand­werk, jede sozia­le Ord­nung zum Sym­bol und zur »Stüt­ze« der Ein­wei­hung. (Daher die außer­or­dent­li­che Wich­tig­keit von Sym­bo­lik, die als ein­zi­ge das Unsag­ba­re aus­zu­drü­cken ver­mag, indem sie zu sei­nem Anblick wird.) So fin­det zum Bei­spiel die geis­ti­ge Struk­tur eines gan­zen Rei­ches ihr Pen­dant in einem ein­zel­nen Haus mit einer zen­tra­len Feu­er­stel­le. Auf die­sel­be Wei­se und gemäß der Ana­lo­gie erschafft das ursprüng­li­che geis­ti­ge Zen­trum Able­ger, die ihm nach­ge­bil­det sind. So spie­gelt sich etwa das mythi­sche Hyper­bo­rea in grie­chi­schen hei­li­gen Stät­ten wider.

Gué­non unter­schei­det zwi­schen einer »rea­len« und einer »vir­tu­el­len« Initia­ti­on. Ers­te­re folgt dem Geist, letz­te­re dem Buch­sta­ben. Doch ist die »vir­tu­el­le« Initia­ti­on des­we­gen nicht unwirk­sam, bedarf aber einer nach­träg­li­chen »Ver­wirk­li­chung«. Doch auch wenn er dem The­ma vie­le Schrif­ten wid­met, so nähert er sich ihm nie­mals von der prak­ti­schen Sei­te her. Nie ver­rät er den wahr­heits­su­chen­den Lesern, wo und wie sie die Ein­wei­hung erlan­gen kön­nen. Auch grün­det er kei­ne initia­ti­sche Gesellschaft.

Ein gro­ßes Miß­ver­ständ­nis beim Beur­tei­len des Initia­ti­schen besteht in der Ver­wir­rung der Begrif­fe. Zwei davon sind beson­ders her­vor­zu­he­ben – das Eso­te­ri­sche und das Exo­te­ri­sche. Jede tra­di­tio­na­le Kul­tur bie­tet dem Men­schen eine recht­mä­ßi­ge Reli­gi­on an, die zum Rah­men der Meta­phy­sik wird. Das heißt, die reli­giö­se Pra­xis bil­det die not­wen­di­ge Basis für das Rein­geis­ti­ge, wel­ches sie – und das ist ent­schei­dend! – über­steigt. Denn die Reli­gi­on, das Exo­te­ri­sche, ist an For­men gebun­den, wäh­rend die Meta­phy­sik, das Eso­te­ri­sche, die Form verläßt.

So benutzt die Initia­ti­on zwar die geläu­fi­gen Göt­ter­na­men, die der Sphä­re des Reli­giö­sen ent­nom­men sind, besetzt sie jedoch mit ganz ande­ren Inhal­ten. Und so hält es Gué­non für unan­ge­bracht, von einem »eso­te­ri­schen Chris­ten­tum« zu spre­chen. Rich­tig wäre der Aus­druck »christ­li­che Eso­te­rik«. Denn wie jede über­lie­fe­rungs­treue Reli­gi­on ver­fügt auch das Chris­ten­tum über eine exo­te­ri­sche und eine eso­te­ri­sche Ebe­ne. Es han­delt sich dabei aber nicht um zwei ver­schie­de­ne »Chris­ten­tü­mer«.

Die sich all­mäh­lich ver­fins­tern­den Zeit­al­ter füh­ren unwei­ger­lich zum Ende des Zyklus, zur dunk­len Peri­ode, der Göt­ter­däm­me­rung, dem hin­du­is­ti­schen Kali-Yuga. Nach alten Leh­ren ist die­se letz­te Pha­se die kür­zes­te und mit gro­ßen Tur­bu­len­zen ver­bun­den. Ihre cha­rak­te­ris­ti­schen Merk­ma­le sind eine all­ge­mei­ne Beschleu­ni­gung der Ereig­nis­se, star­ke gesell­schaft­li­che Kri­sen und vor allem die Umkeh­rung aller tra­di­tio­na­len Wer­te. In den meis­ten sei­ner Bücher läßt Gué­non kei­nen Zwei­fel dar­an auf­kom­men, daß wir in der Epo­che des Kali-Yuga leben. Anhand zahl­lo­ser Bei­spie­le zeigt er, wie unse­re Zivi­li­sa­ti­on alle über­lie­fer­ten Wahr­hei­ten regel­recht auf den Kopf stellt und ins schie­re Gegen­teil verkehrt.

Und wäh­rend die tra­di­tio­na­le Welt zen­tri­pe­tal aus­ge­rich­tet ist, ent­fal­tet die anti­tra­di­tio­na­le Welt zen­tri­fu­ga­le, mit­tel­punkt­flie­hen­de Kräf­te. Dem­entspre­chend nutzt sie Tech­ni­ken, die sich nicht anders bezeich­nen las­sen als Gegen­in­itia­ti­on. Wo anstel­le der in sich ruhen­den Qua­li­tät die Dyna­mik der Quan­ti­tät tritt, ver­dich­tet sie sich zu chao­ti­schen Wir­beln, die den Men­schen auf gera­de­zu dia­bo­li­sche Wei­se in die Irre füh­ren. Oder, um es mit Pau­lus zu sagen: »Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämp­fen, son­dern mit Fürs­ten und Gewal­ti­gen, näm­lich mit den Her­ren der Welt, die in der Fins­ter­nis die­ser Welt herr­schen, mit den bösen Geis­tern unter dem Him­mel.« (Ephe­ser 6,12)

Zu den gefähr­lichs­ten Prot­ago­nis­ten der Gegen­in­itia­ti­on zählt Gué­non nicht allein die aus sei­ner Sicht pseu­do­e­so­te­ri­schen Bewe­gun­gen wie die Theo­so­phi­sche Gesell­schaft (er wür­digt sie nicht ein­mal des Namens »Theo­so­phie«, son­dern bezeich­net sie stets als »Theo­so­phis­mus«), Rudolf ­Stei­ner oder Aleis­ter Crow­ley, nicht allein den um sich grei­fen­den Spi­ri­tis­mus und das Vor­füh­ren okkul­ter »Phä­no­me­ne«, son­dern etwa auch die Psy­cho­ana­ly­se des Sig­mund Freud. Und gewiß hät­te er heu­te mit dem Ein­zug der all­ge­mei­nen Digi­ta­li­sie­rung, des Trans­hu­ma­nis­mus, des Gen­derns und der gen­tech­ni­schen Impf­ex­pe­ri­men­te ein wesent­lich erwei­ter­tes Feld für sei­ne Betrachtungen.

In meh­re­ren Wer­ken spricht Gué­non vom Ver­hält­nis zwi­schen Ost und West. Nach sei­ner Vor­stel­lung beruht der Kon­flikt zwi­schen der isla­mi­schen und der christ­li­chen Hemi­sphä­re nicht auf den reli­giö­sen oder kul­tu­rel­len Unter­schie­den, son­dern dar­auf, daß der Ori­ent noch Ele­men­te der Tra­di­ti­on in sich bewahrt, wäh­rend der Wes­ten die­se, wo er nur kann, instink­tiv bis aufs Blut bekämpft. Es ist also der Krieg zwi­schen einer tra­di­tio­na­len und einer anti­tra­di­tio­na­len Gesell­schaft. Mit der­sel­ben Wut wür­de – laut Gué­non – die moder­ne Welt gegen das christ­li­che Mit­tel­al­ter zu Fel­de zie­hen. Und da die ent­fes­sel­ten Kräf­te des Kali-Yuga in ihrer Aggres­si­vi­tät und Destruk­ti­vi­tät kaum nach­las­sen wer­den, ahnt er den dro­hen­den Zusam­men­bruch, das nahe Ende des kos­mi­schen Zyklus.

»Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Ret­ten­de auch.« Was aber wäre nun die­ses Ret­ten­de? – Laut Gué­non ist jede Form von Akti­vis­mus ver­fehlt, denn die­ser sei ein Merk­mal des auf­ge­reg­ten und sei­nem Kern nach anti­traditionalen Men­schen. Dage­gen spricht er von der Bil­dung einer wahr­haft geis­ti­gen Eli­te, deren Kraft nicht in ihrem Han­deln, son­dern in ihrem Sein liegt. Ähn­lich sag­te es bereits Fried­rich Schiller:

 

Adel ist auch in der sitt­li­chen Welt. Gemei­ne Naturen

zah­len mit dem, was sie tun, edle mit dem, was sie sind.

 

Erst die Exis­tenz einer sol­chen Eli­te gewähr­leis­tet die Anbin­dung der Welt an das Prin­zip, so daß sie nicht ganz ver­lo­ren ist. Und im Gegen­satz zu Evo­la, wel­cher der Ver­su­chung eines hori­zon­ta­len Ein­griffs in die Poli­tik nicht wider­ste­hen kann und damit letz­ten Endes schei­tern muß, bemüht sich Gué­non ein­zig und allein um das Auf­recht­erhal­ten der ver­ti­ka­len Ach­se. Er grün­det kei­ne Gesell­schaft. Sei­ne Gleich­ge­sinn­ten blei­ben selb­stän­di­ge Wesen und gehen durch­aus ver­schie­de­ne Wege. Doch in sei­nen die Moder­ne mit uner­bitt­li­cher Logik sezie­ren­den Schrif­ten ent­wi­ckelt er etwas, das mög­li­cher­wei­se die denk­bar schärfs­te Kri­tik der gegen­wär­ti­gen Ver­hält­nis­se ist.

Buch­stäb­lich alles, wor­auf unse­re Zeit so stolz ist, erweist sich beim nähe­ren Hin­se­hen als Per­ver­tie­rung und Abnor­mi­tät. Aber hin­ter all die­sen fla­ckern­den Irr­lich­tern ersteht nach und nach das Bild einer geis­ti­gen Wirk­lich­keit, wie sie grö­ßer und schö­ner nicht sein kann. Einer Wirk­lich­keit, die kei­nem wahr­haft den­ken­den Men­schen fremd sein dürf­te: der Sieg des Zeit­lo­sen über die Zeit.

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