»Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.« An einem Zeitpunkt, da alles verloren scheint, die westliche Zivilisation zwischen einem auf die Spitze getriebenen Materialismus und einer vage verträumten Mystik hin- und hergerissen wird und sich in Salons wie auch Laboratorien auf die großen Weltkriege vorbereitet, betritt René Guénon die Bühne.
Es ist eine brodelnde Zeit. Die Enzyklopädismen und Rationalismen erreichen ihren Höhepunkt, der Fortschritt galoppiert einer glorreichen Zukunft entgegen. Die des Ritts müd gewordenen Dichter und Denker versinken in Wolken von Weihrauch und Äther und sehnen – in Kontakt mit den Geistern der Verstorbenen – ein kommendes Reich des Geistes herbei.
Der schüchterne Franzose beendet beides, indem er jener »dürftigen Zeit« etwas bringt, was ihr bislang fehlt – das Fundament der Tradition und der Metaphysik. Mit diesen Begriffen meint er freilich etwas anderes als das, was sie gemeinhin bedeuten, und legt damit einen festen Boden für die radikalste Opposition zur modernden Moderne. Das Resultat ist der sogenannte Traditionalismus, eine Strömung, die seitdem die gesamte intellektuelle Welt erfaßt, zu der Persönlichkeiten wie Frithjof Schuon, Titus Burckhardt, Julius Evola, Martin Lings, William Stoddart und Seyyed Hossein Nasr zählen. Im weitesten Sinne auch Mircea Eliade.
Guénon, 1886 in Blois geboren, strandet auf seiner geistigen Odyssee an den Gestaden aller möglichen esoterischen und okkulten Vereine. So durcheilt er als Freimaurer, um mit Schiller zu reden, »so manchen Grad mit schnellem Geist«, sowohl in »regulären« wie auch in »irregulären« Logen. Einer seiner »Hierophanten« ist der Martinist Gérard Anaclet Vincent Encausse, besser bekannt als Papus. 1909 wird er unter dem Namen Tau Palingénius d’Alexandrie sogar kurz Bischof der Gnostischen Kirche Frankreichs. Doch sind dies alles nur erste Schritte, um die eigene Position zu erkunden und im kommenden Reich des Geistes Fuß zu fassen.
Immer mehr entpuppen sich die magischen Strömungen als haltlos und selbstgeschaffen, ohne Überlieferung, ohne Verwurzelung. Immer wichtiger werden statt dessen die intellektuellen Dimensionen des Orients, die es nicht allein zu erschließen, sondern mit dem Vokabular des Okzidents überhaupt erst zu benennen gilt. Denn was wäre zum Beispiel der Vedanta? Eine Religion, eine Philosophie, wie es die westlichen Forscher behaupten? Doch was heißt Religion, was Philosophie? Läßt sich eine uralte Lehre, zu der, neben der eigentlichen Doktrin, auch Ritual und Initiation gehören, etwa wirklich mit dem Subjektivismus eines René Descartes vergleichen, der alles aus dem dubito heraus gebiert? Oder mit einem psychologisierenden Henri Bergson? Oder mit dem verweltlichten Christentum, das sich zwischen moralisierender Frömmigkeit und experimentell theologischem Wildwuchs à la Teilhard de Chardin zerreibt?
Mit jedem Versuch, ein traditionelles Phänomen auch nur zu umreißen, stößt Guénon auf schier unüberwindliche Schwierigkeiten, die nicht sprachlicher Natur sind, vielmehr kategorischer, wesenhafter. »Traditionell«, oder besser gesagt »traditional«, bedeutet nicht »althergebracht«, sondern angebunden an etwas, das die Zeit überdauert. Mit dem Verlust der Tradition verliert der Westen die Transzendenz.
Wie aber lernt Guénon die Tradition kennen? Es gibt Behauptungen, nach denen geheimnisvolle Abgesandte des Hinduismus mit ihm in Kontakt traten, die nach wahrhaft Intellektuellen im Westen Ausschau hielten. Auch bringt ein gewisser Albert de Pouvourville, der viele Jahre in China und Vietnam verbringt und unter dem Namen Matgioi publiziert, ihm den Taoismus näher, in den er eingeweiht zu sein vorgibt. Schließlich – irgendwann zwischen 1910 und 1912 – initiiert ihn der im Dauerprekariat lebende schwedische Impressionist Ivan Aguéli in den seit dem Mittelalter bestehenden Shadhiliyya-Sufiorden, dem er selbst bereits 1902, vermutlich als erster Europäer, beigetreten ist. Guénon muß zuvorderst den Islam annehmen, er heißt von da an Abd al-Wahid Yahia.
Um Guénons Hinwendung zum Islam ranken sich heute viele Legenden. So ist es Brauch, in Guénon einen zum Islam bekehrten Katholiken zu sehen, der nach langer Suche endlich den Weg des Propheten für sich entdeckt hat und dann ein einflußreicher Sufi-Scheich wird. Sein späterer Mitstreiter Frithjof Schuon stellt fest, daß es Guénon überhaupt nicht um eine religiöse Zugehörigkeit geht, vielmehr allein um die Initiation in ihrer »regulären«, das heißt überlieferten Form. Im Christentum hat er sie nirgends gefunden, im Hinduismus ist sie durch die Kasten geschützt, im Islam jedoch für jeden von Herzen Strebenden zugänglich.
Der Islam ist also lediglich die Vorbedingung, gewissermaßen die Zugangsberechtigung – ein, wie ihm scheint, akzeptabler Preis. Guénon wird Sufi, kein Sufi-Scheich. Und in seinen Werken tritt er nie als Muslim in Erscheinung, behandelt die metaphysischen Dinge meist in den ihm so wohlvertrauten Termini des Vedanta und der thomistischen Scholastik. Er empfiehlt auch keinem seiner Nachfolger die Konversion und hält seine eigene für eine rein private und schicksalhafte Angelegenheit.
(Ein Wort zum Christentum: Während es innerhalb der westlichen Kirche in der Tat keine initiatische Tradition gibt, existiert sie seit jeher in der Ostkirche als die Praxis des Hesychasmus, des »Herzensgebets« – eine geistige Disziplin, die durchaus dem sufischen Dhikr entspricht, ja, möglicherweise dessen Ursprung bildet. Für das Christentum in seiner orthodoxen Ausprägung bleibt Guénon aber merkwürdigerweise taub. Ebenso für den Protestantismus. Die Aufgabe, diese für den Traditionalismus aufzubereiten, ist denn auch Frithjof Schuon vorbehalten.)
1930 reist Guénon zusammen mit einer Freundin in den Orient und beschließt, sich in Kairo niederzulassen. Er heiratet eine Ägypterin und gründet mit ihr eine Familie. In Ägypten lebt er bis zu seinem Tod in bescheidener Zurückgezogenheit, schreibt Bücher, die in Frankreich mit Ungeduld erwartet werden. Außerdem steht er in ausgedehntem Briefkontakt mit zahlreichen Gleichgesinnten weltweit und empfängt seltene und sorgsam ausgewählte Gäste. Er stirbt 1951.
Doch bereits zu seinen Lebzeiten wie auch danach wächst das von ihm Gesäte in den Köpfen der europäischen Geisteselite. Was sind das für Gedanken und wie lassen sie sich am besten begreifen und anwenden?
Den Kern bildet die Idee der Tradition. Um sie zu verstehen, ist es notwendig, eine Perspektive einzunehmen, die unserem Weltbild diametral entgegengesetzt ist, das vom Fortschrittsglauben und seinem wissenschaftlichen Anhang, der Evolutionstheorie, geprägt ist. Im Widerspruch dazu redet die antike Kosmogonie von zyklischen Zeitaltern, die mit dem Goldenen anfangen und dann schrittweise degradieren. Was Guénon »Tradition« nennt, ist gewissermaßen der Beginn des Goldenen Zeitalters, die Stiftung des geistigen Weltgefüges, der gesamten menschlichen Manifestation. In ihr ist wie in einer Wurzel alle Fülle enthalten, die sich in zahllosen Zweigen kundtut: in der Philosophie, der Religion, der Wissenschaft, der Kunst, der Gesetzgebung, der Gesellschaftsordnung etc. Dank der Anbindung all dieser Zweige (oder »Anwendungen«) an das Prinzip bleiben sie stets in der Transzendenz verankert. Das heißt, die traditionale Welt kennt keine Trennung in »sakral« und »profan«.
Diese Erkenntnis ist essentiell. Wer sie nicht erfaßt, wird für weiteres blind sein. So zeigt der englische Forscher Mark Sedgwick, der mit seinem Buch Gegen die moderne Welt. Die geheime Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts (Berlin: Matthes & Seitz 2019) ein wissenschaftliches »Standardwerk« über den Traditionalismus vorgelegt hat, keinerlei Verständnis für diese Dinge, indem er gleich zu Beginn behauptet: »Die traditionalistische Bewegung, von der in diesem Buch die Rede sein wird, versteht Tradition hauptsächlich als seit undenklichen Zeiten überlieferten Glauben und Brauch bzw. Glauben und Brauchtum, die dem Westen im Laufe des 16. nachchristlichen Jahrhunderts abhanden gekommen sind.« »Glaube« und »Brauchtum« sind gewiß die denkbar unpassendsten Begriffe, um die Tradition im Guénonschen Sinne zu beschreiben. Und so bleibt das Buch nur der relativierende Außenblick eines verwunderten Akademikers, den es in diese »bizarre« antimoderne Welt verschlagen hat.
Die Tradition ruht keineswegs auf dem Glauben, vielmehr auf der metaphysischen, sprich: reingeistigen Erkenntnis. Sie ist ein Zeugnis der Welt des Seins mitten in einer Welt des Werdens. In ihr triumphiert das Prinzip des Einen über die illusorische Vielheit und das Polare über die Zerstreuung. Ihre Ausrichtung auf das Zentrum hin erklärt uns einen weiteren Kernbegriff Guénons – die Initiation. Sie ist die Fixierung des menschlichen Bewußtseins im Übermenschlichen, Unbeweglichen, Raum- und Zeitlosen.
Die zum Mittelpunkt strebende Kraft der Tradition unterstützt diesen Vorgang auf allen Ebenen. So wird in ihr jede künstlerische Gestalt, jede architektonische Form, jedes Handwerk, jede soziale Ordnung zum Symbol und zur »Stütze« der Einweihung. (Daher die außerordentliche Wichtigkeit von Symbolik, die als einzige das Unsagbare auszudrücken vermag, indem sie zu seinem Anblick wird.) So findet zum Beispiel die geistige Struktur eines ganzen Reiches ihr Pendant in einem einzelnen Haus mit einer zentralen Feuerstelle. Auf dieselbe Weise und gemäß der Analogie erschafft das ursprüngliche geistige Zentrum Ableger, die ihm nachgebildet sind. So spiegelt sich etwa das mythische Hyperborea in griechischen heiligen Stätten wider.
Guénon unterscheidet zwischen einer »realen« und einer »virtuellen« Initiation. Erstere folgt dem Geist, letztere dem Buchstaben. Doch ist die »virtuelle« Initiation deswegen nicht unwirksam, bedarf aber einer nachträglichen »Verwirklichung«. Doch auch wenn er dem Thema viele Schriften widmet, so nähert er sich ihm niemals von der praktischen Seite her. Nie verrät er den wahrheitssuchenden Lesern, wo und wie sie die Einweihung erlangen können. Auch gründet er keine initiatische Gesellschaft.
Ein großes Mißverständnis beim Beurteilen des Initiatischen besteht in der Verwirrung der Begriffe. Zwei davon sind besonders hervorzuheben – das Esoterische und das Exoterische. Jede traditionale Kultur bietet dem Menschen eine rechtmäßige Religion an, die zum Rahmen der Metaphysik wird. Das heißt, die religiöse Praxis bildet die notwendige Basis für das Reingeistige, welches sie – und das ist entscheidend! – übersteigt. Denn die Religion, das Exoterische, ist an Formen gebunden, während die Metaphysik, das Esoterische, die Form verläßt.
So benutzt die Initiation zwar die geläufigen Götternamen, die der Sphäre des Religiösen entnommen sind, besetzt sie jedoch mit ganz anderen Inhalten. Und so hält es Guénon für unangebracht, von einem »esoterischen Christentum« zu sprechen. Richtig wäre der Ausdruck »christliche Esoterik«. Denn wie jede überlieferungstreue Religion verfügt auch das Christentum über eine exoterische und eine esoterische Ebene. Es handelt sich dabei aber nicht um zwei verschiedene »Christentümer«.
Die sich allmählich verfinsternden Zeitalter führen unweigerlich zum Ende des Zyklus, zur dunklen Periode, der Götterdämmerung, dem hinduistischen Kali-Yuga. Nach alten Lehren ist diese letzte Phase die kürzeste und mit großen Turbulenzen verbunden. Ihre charakteristischen Merkmale sind eine allgemeine Beschleunigung der Ereignisse, starke gesellschaftliche Krisen und vor allem die Umkehrung aller traditionalen Werte. In den meisten seiner Bücher läßt Guénon keinen Zweifel daran aufkommen, daß wir in der Epoche des Kali-Yuga leben. Anhand zahlloser Beispiele zeigt er, wie unsere Zivilisation alle überlieferten Wahrheiten regelrecht auf den Kopf stellt und ins schiere Gegenteil verkehrt.
Und während die traditionale Welt zentripetal ausgerichtet ist, entfaltet die antitraditionale Welt zentrifugale, mittelpunktfliehende Kräfte. Dementsprechend nutzt sie Techniken, die sich nicht anders bezeichnen lassen als Gegeninitiation. Wo anstelle der in sich ruhenden Qualität die Dynamik der Quantität tritt, verdichtet sie sich zu chaotischen Wirbeln, die den Menschen auf geradezu diabolische Weise in die Irre führen. Oder, um es mit Paulus zu sagen: »Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Fürsten und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in der Finsternis dieser Welt herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.« (Epheser 6,12)
Zu den gefährlichsten Protagonisten der Gegeninitiation zählt Guénon nicht allein die aus seiner Sicht pseudoesoterischen Bewegungen wie die Theosophische Gesellschaft (er würdigt sie nicht einmal des Namens »Theosophie«, sondern bezeichnet sie stets als »Theosophismus«), Rudolf Steiner oder Aleister Crowley, nicht allein den um sich greifenden Spiritismus und das Vorführen okkulter »Phänomene«, sondern etwa auch die Psychoanalyse des Sigmund Freud. Und gewiß hätte er heute mit dem Einzug der allgemeinen Digitalisierung, des Transhumanismus, des Genderns und der gentechnischen Impfexperimente ein wesentlich erweitertes Feld für seine Betrachtungen.
In mehreren Werken spricht Guénon vom Verhältnis zwischen Ost und West. Nach seiner Vorstellung beruht der Konflikt zwischen der islamischen und der christlichen Hemisphäre nicht auf den religiösen oder kulturellen Unterschieden, sondern darauf, daß der Orient noch Elemente der Tradition in sich bewahrt, während der Westen diese, wo er nur kann, instinktiv bis aufs Blut bekämpft. Es ist also der Krieg zwischen einer traditionalen und einer antitraditionalen Gesellschaft. Mit derselben Wut würde – laut Guénon – die moderne Welt gegen das christliche Mittelalter zu Felde ziehen. Und da die entfesselten Kräfte des Kali-Yuga in ihrer Aggressivität und Destruktivität kaum nachlassen werden, ahnt er den drohenden Zusammenbruch, das nahe Ende des kosmischen Zyklus.
»Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.« Was aber wäre nun dieses Rettende? – Laut Guénon ist jede Form von Aktivismus verfehlt, denn dieser sei ein Merkmal des aufgeregten und seinem Kern nach antitraditionalen Menschen. Dagegen spricht er von der Bildung einer wahrhaft geistigen Elite, deren Kraft nicht in ihrem Handeln, sondern in ihrem Sein liegt. Ähnlich sagte es bereits Friedrich Schiller:
Adel ist auch in der sittlichen Welt. Gemeine Naturen
zahlen mit dem, was sie tun, edle mit dem, was sie sind.
Erst die Existenz einer solchen Elite gewährleistet die Anbindung der Welt an das Prinzip, so daß sie nicht ganz verloren ist. Und im Gegensatz zu Evola, welcher der Versuchung eines horizontalen Eingriffs in die Politik nicht widerstehen kann und damit letzten Endes scheitern muß, bemüht sich Guénon einzig und allein um das Aufrechterhalten der vertikalen Achse. Er gründet keine Gesellschaft. Seine Gleichgesinnten bleiben selbständige Wesen und gehen durchaus verschiedene Wege. Doch in seinen die Moderne mit unerbittlicher Logik sezierenden Schriften entwickelt er etwas, das möglicherweise die denkbar schärfste Kritik der gegenwärtigen Verhältnisse ist.
Buchstäblich alles, worauf unsere Zeit so stolz ist, erweist sich beim näheren Hinsehen als Pervertierung und Abnormität. Aber hinter all diesen flackernden Irrlichtern ersteht nach und nach das Bild einer geistigen Wirklichkeit, wie sie größer und schöner nicht sein kann. Einer Wirklichkeit, die keinem wahrhaft denkenden Menschen fremd sein dürfte: der Sieg des Zeitlosen über die Zeit.