Yuval Harari und Ludwig Klages

PDF der Druckfassung aus Sezession 111/ Dezember 2022

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

»Wir Men­schen soll­ten uns an den Gedan­ken gewöh­nen, daß wir kei­ne geheim­nis­vol­len See­len mehr sind. Wir sind jetzt Tie­re, die man hacken kann«, ver­kün­de­te Yuval Noah Hara­ri im Janu­ar 2020 auf dem all­jähr­li­chen Tref­fen des Welt­wirt­schafts­fo­rums in Davos, kurz vor Beginn der soge­nann­ten Pandemie.

Um die­sen »Gedan­ken« zu illus­trie­ren, prä­sen­tier­te er im sel­ben Vor­trag sei­ne Welt­for­mel für das 21. Jahr­hun­dert: B × C × D = AHH. »Bio­lo­gi­sches Wis­sen (B) mul­ti­pli­ziert mit Com­pu­ting Power / Rechen­leis­tung © mul­ti­pli­ziert mit Daten (D) ergibt die Fähig­keit, Men­schen zu hacken (AHH).« »Hacken« bedeu­tet hier, mensch­li­che Indi­vi­du­en durch tech­no­lo­gi­sche Ein­grif­fe in Kör­per und Gehirn zu über­wa­chen, zu mani­pu­lie­ren, zu steu­ern oder gar »umzu­pro­gram­mie­ren«.

Der nächs­te Schritt wäre die »trans­hu­ma­nis­ti­sche« Opti­mie­rung des mensch­li­chen Lei­bes, die das Ende des Homo sapi­ens als Spe­zi­es ein­läu­ten könn­te. Der Mensch, so spe­ku­liert Hara­ri, sei im Begriff, zu sei­nem eige­nen Schöpfer­gott zu mutie­ren, zum »Homo Deus«, der nach Mil­li­ar­den Jah­ren die Evo­lu­ti­on eigen­mäch­tig in die Hand nimmt.

Hara­ri ist nicht irgend­wer. Der 1976 gebo­re­ne israe­li­sche His­to­ri­ker ist nicht zuletzt durch die Schüt­zen­hil­fe von Klaus Schwab und ande­rer übli­cher Ver­däch­ti­ger wie Bill Gates, Barack Oba­ma oder Mark Zucker­berg zum Best­sel­ler­au­tor und füh­ren­den Mode­phi­lo­so­phen unse­rer Zeit auf­ge­stie­gen. Sei­ne von der Ver­lags­wer­bung als »Kult­buch« ver­mark­te­te Kur­ze Geschich­te der Mensch­heit (ori­gi­nal Sapi­ens, dt. 2013), die es inzwi­schen auch als »Gra­phic Novel« und in einer Kin­der­buch­fas­sung gibt, wur­de in fünf­zig Spra­chen über­setzt und hat bis­lang eine Auf­la­ge von zehn Mil­lio­nen Exemplaren.

Gro­ßen Erfolg hat­ten auch sei­ne anschlie­ßen­den Bücher: Homo Deus (dt. 2017) und 21 Lek­tio­nen für das 21. Jahr­hun­dert (2018). Der Durch­bruch gelang Hara­ri 2015 mit einem Vor­trag auf der »Inno­va­ti­ons­kon­fe­renz« TED (Tech­no­lo­gy, Enter­tain­ment, Design), einem zen­tra­len Event des Sili­con-Val­ley-Milieus. »Seit­dem fin­den sich Har­a­ris Wer­ke welt­weit in den Bücher­re­ga­len von Stu­die­ren­den aus den Inge­nieurs- und Natur­wis­sen­schaf­ten, wo sie einen fast bibel­ar­ti­gen Sta­tus ein­neh­men«, kom­men­tier­te Nils Gütt­ler im Mer­kur.

All­zu ori­gi­nell ist Har­a­ris publi­kums­freund­lich auf­be­rei­te­te Geschichts­phi­lo­so­phie aus dem Gen­re der »Big History«-Wälzer frei­lich nicht. Sie ist eine dem Tech-Zeit­al­ter ange­paß­te Vari­an­te der alt­be­kann­ten evo­lu­tio­nä­ren Erfolgs­ge­schich­te, in der sich »der Mensch« immer mehr von sei­nen natur­ge­ge­be­nen Beschrän­kun­gen und geis­ti­gen Ker­kern befreit, um sich zu pro­me­t­hei­schen und neu­er­dings demi­ur­gi­schen Höhen auf­zu­schwin­gen. Der Autor unter­schei­det dabei drei »Revo­lu­tio­nen« der »mensch­li­chen Kul­tu­ren«: die »kogni­ti­ve«, die vor etwa 70 000 Jah­ren begann, die »land­wirt­schaft­li­che« vor rund 12 000 Jah­ren und die »wis­sen­schaft­li­che«, die »vor knapp 500 Jah­ren ihren Anfang nahm.« Die­se »könn­te das Ende der Geschich­te und der Beginn von etwas völ­lig Neu­em sein.«

Har­a­ris Welt­sicht ist strikt posi­ti­vis­tisch, athe­is­tisch und im Kern nihi­lis­tisch: Der Homo sapi­ens ist ein Tier unter Tie­ren mit zufäl­lig ent­stan­de­nen kogni­ti­ven Eigen­schaf­ten, sei­ne Geschich­te ist eine »Sinn­ge­bung des Sinn­lo­sen« durch Phan­ta­sien und Erzäh­lun­gen, die den Stoff für Kul­tur, Gesell­schaft, Wirt­schaft und Reli­gi­on lie­fern. Sie sind der Schlüs­sel zum pla­ne­ta­ren Erfolg des Men­schen, da sie ihm als ein­zi­gem Tier den Zusam­men­schluß unter grö­ße­ren, koope­rie­ren­den Ein­hei­ten ermög­li­chen, sei es unter dem Dach einer Nati­on, eines Staa­tes, eines Impe­ri­ums, einer Reli­gi­on, einer Kon­su­men­ten­ge­mein­schaft oder einer Firma.

Auch »Geld« sei eine sol­che Fik­ti­on, »an die jeder glaubt«. Inter­es­san­ter­wei­se spart Hara­ri dabei auch die – noch! – vor­herr­schen­de Ideo­lo­gie nicht aus, die er »libe­ra­len Huma­nis­mus« nennt und die dem »Kapi­ta­lis­mus« ent­spricht. Auch sie ist in sei­nen Augen eine »Reli­gi­on«, die auf kryp­to­theo­lo­gi­schen Fik­tio­nen beruht, dar­un­ter die »Hei­lig­keit« der »mensch­li­chen Natur« und die »Gleich­heit aller Menschen«.

Hara­ri stellt ihr zwei gro­ße Kon­kur­renz-Huma­nis­men an die Sei­te, die his­to­risch weni­ger Erfolg hat­ten: den »sozia­lis­ti­schen Huma­nis­mus«, der den Men­schen als Kol­lek­tiv denkt und dem etwa der Kom­mu­nis­mus ent­spricht, und den »evo­lu­tio­nä­ren Huma­nis­mus«, der die »Züch­tung von Über­men­schen« anstrebt und die »Dege­ne­ra­ti­on zum Unter­men­schen« ver­hin­dern will, ver­kör­pert bei­spiel­haft im Natio­nal­so­zia­lis­mus. In der Tat steht Hara­ri der letz­te­ren Strö­mung näher als den bei­den ers­te­ren, stellt er doch sei­ne Mensch­heits­ge­schich­te auf eine bio­lo­gisch-evo­lu­tio­nä­re Basis.

Sein eige­ner Gott ist »die Wis­sen­schaft«, die er als unter­neh­me­ri­sche, welt­re­vo­lu­tio­nie­ren­de Macht preist. Deren Auf­ga­be sei es, Krieg, Gewalt, Hun­ger und Krank­hei­ten zu bekämp­fen. Ihr »wich­tigs­tes Pro­jekt« sei gar »das ewi­ge Leben für den Men­schen«. Über­ra­schend ist auch sei­ne rela­ti­ve Auf­wer­tung des euro­päi­schen Impe­ra­lis­mus-Kolo­nia­lis­mus, der ent­schei­dend dazu bei­getra­gen habe, die neu­zeit­li­che wis­sen­schaft­li­che Revo­lu­ti­on auf den gan­zen Erd­ball zu expor­tie­ren. Fol­ge­rich­tig beinhal­tet sei­ne Groß­dar­stel­lung ein bei­läu­fi­ges Plä­doy­er für ein glo­ba­les Impe­ri­um, das von kos­mo­po­li­ti­schen Eli­ten aus aller Her­ren Län­der geführt wer­den und welt­wei­ten Frie­den garan­tie­ren soll.

Auch die­ses Impe­ri­um sieht Hara­ri als Trä­ger einer per­ma­nen­ten wis­sen­schaft­lich-anthro­po­lo­gi­schen Revo­lu­ti­on, in der Bio­tech­no­lo­gie, Robo­tik und künst­li­che Intel­li­genz eine über­ra­gen­de Rol­le spie­len sol­len. Die Tech­nik soll auch wie­der repa­rie­ren, was sie im Lau­fe der Zeit an pla­ne­ta­ren Ver­hee­run­gen ange­rich­tet hat: Umwelt­zer­stö­rung, Über­völ­ke­rung, Res­sour­cen­ab­bau, Kli­ma­wan­del. Es leuch­tet ein, war­um die Davos-Men­schen Hara­ri als ihren reprä­sen­ta­ti­ven Vor­den­ker erko­ren haben. In die­sen Zusam­men­hang gehört wohl auch sei­ne Ent­zau­be­rung des Libe­ra­lis­mus, der heu­te von den west­li­chen Eli­ten schritt­wei­se aus­ge­höhlt, umge­deu­tet und »ent­sorgt« wird.

An die­ser Stel­le lohnt es sich, Hara­ri mit einem Den­ker zu kon­tras­tie­ren, des­sen Geburts­tag am 10. Dezem­ber zum 150. Male wie­der­kehrt: mit Lud­wig ­Kla­ges (1872 – 1956), dem bedeu­tends­ten deut­schen Ver­tre­ter der »Lebens­phi­lo­so­phie«. Gebo­ren und auf­ge­wach­sen in Han­no­ver im klein­bür­ger­li­chen Milieu, nach eige­ner Mit­tei­lung zutiefst geprägt durch das Erleb­nis der nord­deut­schen Land­schaft, war der jun­ge Kla­ges ein lei­den­schaft­li­cher Schwär­mer, der sich einem roman­ti­schen Kult der »Lebens­glut« hingab.

Ursprüng­lich Stu­dent der Che­mie und Phy­sik, wand­te er sich zuneh­mend von den Natur­wis­sen­schaf­ten ab. In Mün­chen, wo er seit 1893 leb­te, bil­de­te sich um ihn und den exzen­tri­schen »Pri­vat­ge­lehr­ten« und »Seher« ­Alfred Schul­er (1865 – 1923), der sich als buch­stäb­li­che Inkar­na­ti­on eines Römers der Spät­zeit sah, die Run­de der »Kos­mi­ker«, die mit dem Geor­ge-Kreis in Berüh­rung stand und sich teil­wei­se mit ihm über­schnitt, ehe es zum Bruch kam.

Ange­ekelt vom Mili­ta­ris­mus des Welt­kriegs, über­sie­del­te Kla­ges 1915 nach Kilch­berg in der Schweiz, wo er bis zu sei­nem Tod im Jahr 1956 leb­te. Neben sei­nem phi­lo­so­phi­schen Werk mach­te er sich einen Namen als Begrün­der der Cha­rak­ter­kun­de und Pio­nier der Gra­pho­lo­gie. Obwohl er ein aka­de­mi­scher Außen­sei­ter war, zähl­te er zwi­schen den Krie­gen zu den ein­fluß­reichs­ten und bekann­tes­ten Phi­lo­so­phen sei­ner Zeit, trotz des enorm hohen Anspruchs, den sei­ne Wer­ke an den Leser stell­ten und auch heu­te noch stellen.

Nach (und teil­wei­se bereits vor) dem Zwei­ten Welt­krieg wur­de er immer wie­der zu Unrecht als »Weg­be­rei­ter des Natio­nal­so­zia­lis­mus« ein­sor­tiert, haupt­säch­lich auf­grund sei­nes ver­meint­li­chen »Irra­tio­na­lis­mus« und sei­nes schar­fen Anti­ju­da­is­mus, der sich jedoch vor­wie­gend gegen das geis­ti­ge Prin­zip eines als »welt­feind­lich« gekenn­zeich­ne­ten Mono­the­is­mus rich­te­te und wenig mit der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ras­sen­dok­trin gemein hat­te. Eine Tat­sa­che, die von die­ser Sei­te durch­aus erkannt und betont wur­de: Aus­drück­li­che Zurück­wei­sun­gen fin­den sich etwa bei Alfred Rosen­berg und Alfred Bäumler.

Kla­ges’ Den­ken steht dem Har­a­ris anti­the­tisch gegen­über, und doch fin­den sich zwi­schen bei­den etli­che ver­blüf­fen­de Über­ein­stim­mun­gen. Der ein­gangs zitier­te Satz des israe­li­schen His­to­ri­kers steht in schärfs­tem Gegen­satz zu allem, was Kla­ges zeit­le­bens ver­tre­ten und begrün­det hat. Sein in vier Bän­den erschie­ne­nes, 1500 Sei­ten dickes Haupt­werk, Der Geist als Wider­sa­cher der See­le (1929 – 1931), for­mu­liert schon in sei­nem Titel den Ein­spruch gegen das von Hara­ri beschwo­re­ne »Hacken« von Men­schen. Bei­de Begrif­fe, »Geist« und »See­le«, haben bei Kla­ges aller­dings eine schil­lern­de, zuwei­len eher beschwö­ren­de als prä­zi­se Bedeutung.

Wäh­rend ­Hara­ri sei­ne The­sen in grif­fi­ge, kurz­wei­li­ge For­meln ver­packt, erfor­dert die Lek­tü­re von Kla­ges ein »Ein­tau­chen« in oft lang­at­mi­ge Aus­füh­run­gen. ­Hara­ri meint mit »See­le« vor allem die sei­ner Mei­nung nach von Dar­win zer­trüm­mer­te Vor­stel­lung, der Mensch habe »eine ewi­ge, indi­vi­du­el­le Essenz, die das gan­ze Leben lang unver­än­dert bleibt und sogar den Tod unbe­scha­det über­ste­hen kann«.

Der Anti-Dar­wi­nist Kla­ges lehnt die­se aus dem Chris­ten­tum stam­men­de Idee eben­falls ab. Sein Begriff der »See­le« wen­det sich gegen dua­lis­ti­sche Vor­stel­lun­gen, denen er ein ganz­heit­li­ches Kon­zept der pola­ren Span­nungs­ver­hält­nis­se ent­ge­gen­hält. In sei­ner Schrift Vom kosmo­go­ni­schen Eros (1921) führt er aus: »Der Kos­mos lebt, und alles Leben ist pola­ri­siert nach See­le (Psy­chae) und Leib (Soma). Wo immer leben­di­ger Leib, da ist auch See­le; wo immer See­le, da ist auch leben­di­ger Leib. Die See­le ist der Sinn des Lei­bes, das Bild des Lei­bes die Erschei­nung der See­le. Was immer erscheint, das hat einen Sinn; und jeder Sinn offen­bart sich, indem er erscheint.«

In Kla­ges’ »bio­zen­tri­scher« Welt­sicht ist nicht nur der ein­zel­ne Mensch eine leib­see­li­sche Ein­heit, in deren Bild ein bestimm­ter Cha­rak­ter erscheint, son­dern nicht min­der Tie­re und Pflan­zen, ja sogar Gestei­ne und Land­schaf­ten. »See­le« und »Leben« sind bei Kla­ges annä­hernd syn­ony­me Begrif­fe; alles, was lebt, ist auch beseelt, es »hat« aber kei­ne See­le, son­dern »ist« gleich­sam eine gestalt­ge­wor­de­ne See­le – nach dem Nova­lis-Wort, das Äuße­re sei »ein in Geheim­nis­zu­stand erho­be­nes Inne­re«. Beim Son­der­fall des Men­schen habe sich nun in fer­ner, vor­ge­schicht­li­cher Zeit der »Ein­bruch des Geis­tes« ereig­net. Die­ser ste­he außer­halb der Pola­ri­tät des Lebens, sei also kein Gegen­pol zur See­le, son­dern eben ihr »Wider­sa­cher«, eine lebens­frem­de und lebens­feind­li­che Macht.

Zu Beginn sei der Geist noch vom Leben abhän­gig und befä­hi­ge den Men­schen mit­un­ter zu gro­ßen Kul­tur­leis­tun­gen; nach und nach ver­selb­stän­di­ge er sich jedoch und keh­re das Abhän­gig­keits­ver­hält­nis um: »Der Geist, aus der Knecht­schaft des Lebens befreit, tritt selbst­herr­lich in die Erschei­nung als zer­stö­re­ri­sche Tat, und die Tätig­keit des Den­kens ist fort­an das Werk­zeug des Wil­lens zur Macht.« (GWS, S. 753) Mythisch gespro­chen stirbt mit dem Ein­zug des Geis­tes der Gro­ße Pan, die Göt­ter ver­las­sen Wäl­der, Ber­ge, Hai­ne, Flüs­se und Flu­ren, die nun dem ehr­furchts­lo­sen Raub­bau des Men­schen preis­ge­ge­ben sind. Die Fol­ge ist ein unauf­halt­ba­res und schick­sals­haf­tes Desas­ter, »eine blu­ti­ge Orgie namens Welt­ge­schich­te«: »Das Wesen des ›geschicht­li­chen‹ Pro­zes­ses der Mensch­heit (auch ›Fort­schritt‹ genannt) ist der sieg­reich fort­schrei­ten­de Kampf des Geis­tes gegen das Leben mit dem (aller­dings nur) logisch abseh­ba­ren Ende der Ver­nich­tung des letz­te­ren.« (GWS, S. 69)

Kla­ges zeich­net die­sen »Ein­bruch« gera­de­zu wie eine außer­ir­di­sche Inva­si­on, ähn­lich dem schwar­zen Mono­li­then, der in Stan­ley Kubricks Film 2001: Odys­see im Welt­raum einem Rudel von Affen­men­schen erscheint und schock­ar­tig einen evo­lu­tio­nä­ren Bewußt­seins­sprung aus­löst. Kla­ges’ pro­to­ty­pi­scher Mensch vor dem Sün­den­fall der »logis­ti­schen Begeis­tung« ist ein haupt­säch­lich pas­siv erle­ben­des, die »Aura« und den Cha­rak­ter alles Leben­di­gen »schau­en­des« und emp­fin­den­des Wesen, das sei­ner Schau und Emp­fin­dung durch Dich­tung, Gesang, Fest, Kul­tus und Mythen­bil­dung Aus­druck ver­leiht. Die­ser von ihm nach den Ur-Bewoh­nern von ­Hel­las »Pelas­ger« genann­te, dio­ny­si­sche Mensch lebt im Schoß einer mut­ter­recht­li­chen Ur-Gesell­schaft, wie sie von dem Juris­ten und Anthro­po­lo­gen Johann Jakob Bacho­fen pos­tu­liert wurde.

Er erlebt die Erde als »gro­ße Mut­ter« und ehrt sie ent­spre­chend. Der Mensch des »Geis­tes« hin­ge­gen ist nicht nur der rech­nen­de, reduk­tio­nis­ti­sche, ana­ly­sie­ren­de, ver­ding­li­chen­de, ver­wer­ten­de, instru­men­ta­li­sie­ren­de, »zer­set­zen­de« Ratio­na­list, der fre­vel­haft den Schlei­er des Isis-Bil­des hebt, er ist auch ganz wesent­lich ein Täter, der aktiv dem biblisch-patri­ar­cha­li­schen Impe­ra­tiv gehorcht: »Fül­let die Erde und machet sie euch unter­tan und herr­schet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Him­mel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.«

Die fau­len Früch­te des »Fort­schritts« unter der Herr­schaft des Geis­tes mani­fes­tier­ten sich für Kla­ges vor allem in der Umwelt­zer­stö­rung, die er 1913 in sei­ner berühm­ten Rede »Mensch und Erde«, ver­faßt als Gruß­wort für den Ers­ten Frei­deut­schen Jugend­tag am Hohen Meiß­ner, mit wort­ge­wal­ti­gem Pathos anpran­ger­te. Im Ver­gleich zu sei­ner zorn­ent­brann­ten Ankla­ge vol­ler Ekel und Abscheu lesen sich die apo­ka­lyp­ti­schen Mah­nun­gen von Gre­ta Thun­berg wie halb­her­zi­ge Piepser.

Abhol­zung bis Kahl­schlag der Wäl­der, Zer­sied­lung der Land­schaf­ten, Aus­rot­tung der »Tier­ge­schlech­ter«, Pflan­zen­ar­ten und Natur­völ­ker, Zer­stö­rung ursprüng­li­cher Lebens­zu­sam­men­hän­ge – all dies sind Mani­fes­ta­tio­nen des »moder­nen Ver­nich­tungs­kriegs« des Geis­tes, der in der Erde und ihren Lebe­we­sen nur mehr ein see­len­lo­ses Reser­voir sieht, das es zu »nut­zen« gilt: »Zer­ris­sen ist der Zusam­men­hang zwi­schen Men­schen­schöp­fung und Erde, ver­nich­tet für Jahr­hun­der­te, wenn nicht für immer, das Urlied der Landschaft.«

Für die »zivi­li­sie­ren­den« euro­päi­schen Welt­erobe­rer hat Kla­ges nur Spott und Ver­ach­tung übrig, wäh­rend sei­ne gan­ze Sym­pa­thie den von ihnen kolo­ni­sier­ten und aus­ge­rot­te­ten Völ­kern gilt. Es ist für ihn kein Zufall, daß die indus­tri­el­le Inbe­sitz­nah­me des Pla­ne­ten von Euro­pa aus­ging: »Wenn schon ›Fort­schritt‹, ›Zivi­li­sa­ti­on‹, ›Kapi­ta­lis­mus‹ nur ver­schie­de­ne Sei­ten einer ein­zi­gen Wil­lens­rich­tung bedeu­ten, so mögen wir uns erin­nern, daß deren Trä­ger aus­schließ­lich die Völ­ker der Chris­ten­heit sind. Nur inner­halb ihrer wur­de Erfin­dung auf Erfin­dung gehäuft, blüh­te die ›exak­te‹, will sagen die zah­len­mä­ßi­ge Wis­sen­schaft und reg­te sich rück­sichts­los der Erwei­te­rungs­drang, der die außer­christ­li­chen Ras­sen knech­ten und die gesam­te Natur ver­wirt­schaf­ten will. Im Chris­ten­tum also müs­sen die nächs­ten Ursa­chen des welt­ge­schicht­li­chen ›Fort­schritts‹ liegen.«

Die­se »christ­li­chen Völ­ker« sind de fac­to jene, die man heu­te als »weiß« iden­ti­fi­ziert. Der angeb­lich dem Natio­nal­so­zia­lis­mus nahe­ste­hen­de Kla­ges, Lob­sän­ger eines matri­ar­cha­len gol­de­nen Zeit­al­ters und Anklä­ger der wei­ßen Ras­se, die dem ver­derb­li­chen, dua­lis­ti­schen Judäo-Chris­ten­tum erle­gen ist, erweist sich in Wahr­heit als Vor­läu­fer der zeit­ge­nös­si­schen Lin­ken, die im »wei­ßen Mann« den gro­ßen Übel­tä­ter der Geschich­te erblickt, ver­gleich­bar Alfred Schul­ers »Mar­der Juda«, der »an das Herz des Lebens schlich«.

Die Rede »Mensch und Erde« impo­niert heu­te nicht nur durch ihre sprach­li­che Wucht, son­dern auch durch das Datum ihrer Ent­ste­hung. Sie läßt erah­nen, an wel­che Schwund­stu­fen wir Nach­ge­bo­re­nen uns inzwi­schen schon gewöhnt haben. Auf­fäl­lig ist aller­dings auch, daß ein gro­ßer Teil von Kla­ges’ Betrach­tun­gen und Wer­tun­gen heu­te mehr oder weni­ger »Main­stream« gewor­den ist. Sei­nem Bei­spiel sind im Lau­fe des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts unzäh­li­ge wei­te­re War­ner, Unter­gangs­pro­phe­ten und »Tie­fen­öko­lo­gen« gefolgt.

Ein boh­ren­des, schlech­tes Gewis­sen las­tet heu­te auf der west­li­chen Welt, die ihr eige­nes Kon­sum­ver­hal­ten zuneh­mend in Fra­ge stellt. Unter­gangs- und Ver­knap­pungs­angst, ver­bun­den mit Schuld­ge­füh­len, brei­ten sich aus und rufen qua­si­re­li­giö­se Reak­tio­nen her­vor. Umwelt­ver­schmut­zung, Res­sour­cen- und Arten­schwund, Mas­sen­hal­tung von »Nutz­tie­ren« und »men­schen­ge­mach­ter Kli­ma­wan­del« sind heu­te Dau­er­bren­ner im »öffent­li­chen Dis­kurs« der Pres­se, der Poli­tik, der Sinn­ver­mitt­ler, Volks­er­zie­her und Welt­erklä­rer, der NGOs und des Kul­tur­be­trie­bes. Echos von Kla­ges’ Stim­me erklin­gen heu­te aus dem Mund zwei­fel­haf­ter glo­ba­lis­ti­scher Füh­rer. Am 6. Novem­ber 2022 berich­te­te die öster­rei­chi­sche Kro­nen Zei­tung, UNO-Gene­ral Guter­res war­ne »vor der siche­ren Apo­ka­lyp­se, wenn in Ägyp­ten nicht ein his­to­ri­scher Kli­ma­schutz­pakt geschlos­sen wird. Mehr noch: Der UNO-Gene­ral wähnt die Welt am Abgrund, ruft die Alarm­stu­fe Rot aus und spricht vom dro­hen­den kol­lek­ti­ven Selbst­mord der Menschheit!«

An die­sem Punkt berüh­ren sich auch Hara­ri und Kla­ges. Har­a­ris Evo­lu­ti­ons­epos ist kei­ne nai­ve, ein­sei­ti­ge Lob­prei­sung des genia­len Sapi­ens. Auch er wid­met etli­che Stel­len sei­nes Buches den Fol­ge­schä­den der Indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on. Beson­ders bestürzt zeigt er sich vom Lei­den der aus­ge­beu­te­ten Tie­re. Eines der weni­gen Bil­der in sei­nem Buch zeigt »Küken auf dem Fließ­band eines indus­tri­el­len Lege­be­triebs«: »Männ­li­che sowie miß­ge­bil­de­te Küken wer­den aus­sor­tiert, in Gas­kam­mern erstickt oder ein­fach auf den Müll gewor­fen, wo sie zu Tode gequetscht werden.«

Die­sel­be Stoß­rich­tung ver­folg­te Kla­ges, als er aus einem Zei­tungs­ar­ti­kel über die Her­stel­lung von Feder­schmuck für Damen zitier­te, der jähr­lich Zig­tau­sen­de Vögel zum Opfer fie­len: »Damit die Schwung- oder Flaum­fe­dern ihren Glanz bewah­ren, darf man nur leben­de Vögel rup­fen; man macht daher auf die armen Tie­re nicht mit der Flin­te Jagd, son­dern mit dem Net­ze. Der unmensch­li­che ›Jäger‹ reißt den gefan­ge­nen Vögeln die Federn vom Lei­be, und die unschul­di­gen Opfer der Mode müs­sen die größ­ten Mar­tern erdul­den, ehe sie unter krampf­haf­ten Zuckun­gen den Tod finden.«

Man kann also Hara­ri nicht vor­wer­fen, daß er gegen­über der von ­Kla­ges ange­pran­ger­ten Pro­ble­ma­tik blind oder gefühl­los wäre, im Gegen­teil. Aus Kla­ges­scher Sicht ver­sucht er jedoch, die Krank­heit mit dem­sel­ben Gift zu hei­len, das sie her­vor­ge­bracht hat. Hara­ri mag vom Schick­sal der geschred­der­ten Küken und ande­rer »Nutz­tie­re« ehr­lich betrof­fen sein, aber er betrach­tet sie letz­ten Endes genau­so wie das »Tier Mensch« als Bio­com­pu­ter, deren gene­ti­schen »Code« man ent­schlüs­seln und belie­big umpro­gram­mie­ren kann und vor allem auch »darf«.

Hara­ri nimmt an, daß der Homo sapi­ens in naher Zukunft von cybor­gi­schen Misch­le­be­we­sen aus Mensch, Maschi­ne und Tier abge­löst wer­den könn­te. Er kennt die War­nun­gen vor der pro­me­t­hei­schen Hybris aus Lite­ra­tur und Film, hält es jedoch für mög­lich, daß Dr. Fran­ken­stein, der im Roman von Mary Shel­ley schei­tert, eines Tages doch tri­um­phie­ren und »mit der­sel­ben Arro­ganz« auf »uns« her­ab­bli­cken wird »wie wir auf die Neandertaler«.

Ob er dies eher begrüßt oder befürch­tet, beläßt Hara­ri in der Schwe­be. Im gro­ßen und gan­zen macht er eher den Ein­druck eines zuneh­mend enthu­si­as­ti­schen Advo­ka­ten die­ser Ent­wick­lung. Kla­ges wäre dar­ob zwei­fel­los zutiefst ent­setzt gewe­sen. Wel­cher »Sinn« offen­bart sich im gen­ma­ni­pu­lier­ten Leib von Kanin­chen, die im Dun­keln leuch­ten? Wel­cher »Sinn« wür­de in künf­ti­gen huma­no­iden Chi­mä­ren aus der Retor­te erschei­nen, in Andro­iden, die die mensch­li­che Form, Mimik, Bewe­gung und Intel­li­genz imitieren?

Wie Shel­ley sah auch Kla­ges den kom­men­den Schre­cken im Bil­de des künst­li­chen oder zumin­dest »ent­seel­ten« Men­schen. So pro­phe­zei­te er im Kosmo­go­ni­schen Eros, daß auf die jet­zi­ge »geschicht­li­che« Mensch­heit des »herr­schen­den Geis­tes« die »nach­ge­schicht­li­che Mensch­heit der nur mehr schein­le­ben­di­gen Lar­ve« fol­gen wer­de. Er war sich jedoch gewiß, daß die Hybris bestraft wer­de: »An der Ver­gel­tung des besu­del­ten und geschän­de­ten Lebens wird unaus­denk­lich grau­en­voll die Mensch­heit ver­en­den in eben dem Augen­bli­cke, wo sie den letz­ten schran­ken­lo­sen Tri­umph der Lar­ve, des Golems feiert.«

 

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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