Die Integrale Tradition

pdf der Druckfassung aus Sezession 11 / Oktober 2005

sez_nr_11von Hans Thomas Hakl

Taucht das Wort „Tradition“ auf, denkt der moderne Mensch zuerst einmal an die Bewahrung alter Gebräuche, Lebensregeln oder Sitten. Genau das meint die sogenannte Integrale (das heißt vollständige) Tradition jedoch überhaupt nicht.

Sie sieht sich viel­mehr als eine uni­ver­sa­le, durch und durch spi­ri­tu­el­le Geis­tes­hal­tung, deren Ursprung im Tran­szen­den­ten, im abso­lu­ten „gött­li­chen“ Seins­grund, also jen­seits von Men­schen, Völ­kern und Geschich­te liegt. Damit ist sie in ihrem Selbst­ver­ständ­nis uranfäng­lich (pri­mor­di­al), ein­zig und all­um­fas­send. Alle meta­phy­si­schen Welt­an­schau­un­gen und Reli­gio­nen sei­en ihr ent­sprun­gen und bezö­gen sich auf sie zurück. Sie wür­den aller­dings wie zer­bro­che­ne Tei­le eines matt und blind gewor­de­nen Spie­gels nur noch Ein­zel­aspek­te der ursprüng­li­chen Ganz­heit und ihrer über­ir­di­schen Ein­heit reflek­tie­ren. Trotz­dem sei es mög­lich, die­se Urtra­di­ti­on auch heu­te noch zu rekon­stru­ie­ren, indem man sich auf die ange­führ­te tran­szen­den­te Ein­heit der Reli­gio­nen, das heißt ihre höhe­re, sich den geo­gra­phi­schen, his­to­ri­schen und mensch­li­chen Zufäl­lig­kei­ten ent­zie­hen­de gemein­sa­me Geis­tig­keit kon­zen­trie­re. Natür­lich bedür­fe es dazu ent­spre­chen­der spi­ri­tu­el­ler Füh­rung und Feinfühligkeit.
Die Inte­gra­le Tra­di­ti­on ist in die­sem Sin­ne also kei­ne Erfin­dung von Men­schen, son­dern ist uns sozu­sa­gen von „gött­li­cher“ Sei­te über­ge­ben wor­den und wir kön­nen nur ver­su­chen, sie mög­lichst „rein“ zu erken­nen und dann wei­ter­zu­tra­gen. Da sie „gött­li­che“ Her­kunft bean­sprucht, ist sie letz­te Instanz, kann nicht in Fra­ge gestellt wer­den, ändert sich nicht und bil­det die abso­lu­te Norm, nach der sich alles zu rich­ten hat. Sie steht jen­seits alles Mensch­li­chen und jen­seits alles Zeit­li­chen. In die­sem Sin­ne ist sie ewig. Die moder­ne Welt in Form der west­li­chen Zivi­li­sa­ti­on und Tech­nik, die auf rein mate­ri­el­len, che­misch-phy­si­ka­li­schen Grund­la­gen beruht, wird als das genaue Gegen­teil die­ser Tra­di­ti­on ange­se­hen. Einer der bekann­tes­ten Ver­tre­ter der Inte­gra­len Tra­di­ti­on, Juli­us Evo­la, spricht sogar von zwei „gegen­sätz­li­chen aprio­ri­schen Kate­go­rien“, die nichts, rein gar nichts, mit­ein­an­der gemein hät­ten. Die eine Kate­go­rie sei näm­lich die­je­ni­ge des über­welt­li­chen Seins und die ande­re die­je­ni­ge des irdi­schen Wer­dens. Meta­phy­sik und Phy­sik stün­den sich gegenüber.
Die Inte­gra­le Tra­di­ti­on, die dem­nach hier auf Erden nie voll­kom­men rea­li­sier­bar ist und nur ein anzu­stre­ben­des Ide­al bil­den kann, beruht auf einem streng hier­ar­chi­schen (hie­ros und arché: grie­chisch „hei­lig“ und „Herr­schaft“) Den­ken, wobei der obers­te Rang dem Tran­szen­den­ten zukommt und mit zuneh­men­der Ver­ma­te­ria­li­sie­rung die Stu­fen nach unten gehen. Die moder­ne Welt hin­ge­gen ist vom Gleich­heits­ge­dan­ken beherrscht. Aus die­ser Prä­mis­se des abso­lu­ten Vor­ran­ges von allem Spi­ri­tu­el­len und Tran­szen­den­ten erge­ben sich not­wen­di­ger­wei­se eine Rei­he von unauf­heb­ba­ren Gegen­sät­zen zur Moderne.
So kann die Füh­rer­schaft in einer tra­di­tio­na­len Gesell­schaft (ich ver­wen­de das Adjek­tiv tra­di­tio­nal, um zum Unter­schied von tra­di­tio­nell etwas die Inte­gra­le Tra­di­ti­on Betref­fen­des aus­zu­drü­cken) nur jeman­dem zukom­men, der als Bin­de­glied, als pon­ti­fex, das heißt Brü­cken­bau­er, zur Tran­szen­denz zu wir­ken ver­mag, denn nur „dort“ sind Sinn und Ziel einer sol­chen Gesell­schaft zu fin­den. Ein Pries­ter­kö­nig wird die­sem Füh­rer­ide­al am ehes­ten ent­spre­chen. Die Demo­kra­tie hin­ge­gen ist für die Inte­gra­le Tra­di­ti­on unan­nehm­bar, da die­se die Füh­rer­schaft vom Vol­ke her, als von unten nach oben pos­tu­liert und damit eine völ­li­ge Umkeh­rung der tra­di­tio­na­len Wert­ord­nung darstellt.

Eine wei­te­re Kon­se­quenz die­ser spi­ri­tu­ell gepräg­ten Hier­ar­chie ist die Ein­tei­lung der Men­schen nach ihrem inne­ren Ver­mö­gen, sich der tra­di­tio­na­len Geis­tig­keit anzu­nä­hern und sie wei­ter­zu­tra­gen, wie sie sich beson­ders deut­lich im indi­schen (hin­du­is­ti­schen) Kas­ten­we­sen her­aus­ge­bil­det hat. Dort wer­den vier Kas­ten oder eigent­lich Men­schen­ty­pen unter­schie­den, deren ange­bo­re­nes Wesen sich deut­lich unter­schei­det und nach jeweils ande­ren Zie­len strebt. An obers­ter Stel­le steht die Pries­ter­oder Brah­ma­nen­kas­te, die sich rein spi­ri­tu­el­len Auf­ga­ben wid­met und die Kon­tem­pla­ti­on pflegt. Das „Ewi­ge“ ist ihr Ziel. An zwei­ter Stel­le kommt die Krie­ger- oder Ksha­tri­ya­kas­te, deren Kraft in der dyna­mi­schen Akti­on und in der Cha­rak­ter­fes­tig­keit liegt, wo sich gebän­dig­te Aggres­si­vi­tät und Groß­zü­gig­keit aus­glei­chen sol­len. Sie strebt nach Selbst­über­win­dung, Ehre, Ruhm und inne­rem Adel, wo Pflicht­er­fül­lung vor der Bewah­rung des eige­nen Lebens steht. Als drit­tes kommt die Kauf­manns­klas­se, die sich mate­ri­el­len Wer­ten ver­bun­den fühlt, damit geschickt umzu­ge­hen weiß, sie auch ande­ren Men­schen zur Ver­fü­gung stellt und durch Reich­tum, Sicher­heit und Wohl­le­ben befrie­digt wird. An vier­ter Stel­le sind die manu­el­len Arbei­ter zu nen­nen, für die alles Kör­per­li­che im Mit­tel­punkt steht. Ihre Qua­li­fi­ka­ti­on liegt im Ver­rich­ten not­wen­di­ger, die Basis unse­res irdi­schen Lebens bil­den­der, gleich­för­mi­ger kör­per­li­cher Tätig­kei­ten. Ihr Stre­ben ist auf kör­per­lich-sinn­li­che Genüs­se gerichtet.
Da nach ins­be­son­de­re hin­du­is­ti­scher Auf­fas­sung die­se unter­schied­li­chen Anla­gen des Men­schen ange­bo­ren sind, sein Schick­sal aus­ma­chen und den tie­fe­ren Sinn, ja die zu lösen­de Auf­ga­be sei­nes Lebens (Sans­krit: dhar­ma), dar­stel­len, han­delt der­je­ni­ge, der aus sei­ner Kas­te aus­bricht, schlu­ßend­lich gegen sich selbst und sein eige­nes Glück. Er ver­stößt näm­lich damit gegen die kos­mi­sche Har­mo­nie, die ihm – sei­nem Talen­te und inne­ren Ver­mö­gen nach – einen bestimm­ten Rang und Platz zuge­wie­sen hat. Er ver­liert Sicher­heit und Schutz und wird zum Kas­ten­lo­sen. Ein manu­el­ler Arbei­ter, der sei­ner Kas­te getreu lebt, wird des­halb höher geach­tet als ein Brah­ma­ne, der, statt nach Geis­tig­keit zu stre­ben, mate­ri­el­len Gütern und Macht­fül­le den Vor­zug gibt. Der Gegen­satz zu unse­rer moder­nen Gesell­schaft, für die sozia­le Auf­stiegs­mög­lich­kei­ten und ich­fi­xier­ter Indi­vi­dua­lis­mus gera­de­zu Kenn­zei­chen sind, könn­te grö­ßer nicht sein. Eben­so unter­schie­den sind die Geschlech­ter. Der Mann steht in der tra­di­tio­na­len Auf­fas­sung dem Him­mel und der Spi­ri­tua­li­tät näher und ist daher zum geis­ti­gen Füh­rer der Fami­lie beru­fen. Die Frau ist mit der Erde und dem Wei­ter­ge­ben des irdi­schen Lebens ver­bun­den. Bei­de Geschlech­ter haben daher auch unter­schied­li­che Auf­ga­ben. Sie sol­len also nicht mit­ein­an­der im Wider­streit lie­gen, son­dern sich ergänzen.
Über­grei­fend ist der Gegen­satz zwi­schen Tra­di­ti­on und Moder­ne in den Begrif­fen Qua­li­tät und Quan­ti­tät faß­bar. Quan­ti­tät ist Ver­meh­rung oder Ver­min­de­rung im rein irdi­schen Bereich, also in der Hori­zon­ta­len, wäh­rend­des­sen die Qua­li­tät, das heißt der in einer Sache „ent­hal­te­ne“ spi­ri­tu­el­le Anteil nach oben oder unten, also in die Ver­ti­ka­le weist. Zusam­men bil­den Ver­ti­ka­le und Hori­zon­ta­le das Kreuz als über­grei­fen­des all­um­fas­sen­des kos­mi­sches Sym­bol. Am deut­lichs­ten zeigt sich der Unter­schied zwi­schen tra­di­tio­na­ler qua­li­ta­ti­ver und moder­ner quan­ti­ta­ti­ver Auf­fas­sung im Bereich der Zah­len. Für die Moder­ne sind Zah­len und Zif­fern voll­stän­dig gleich­för­mi­ge Ein­hei­ten. Zwi­schen der Eins, der Zwei und der Drei gibt es kei­nen qua­li­ta­ti­ven Unter­schied. Der ein­zi­ge Unter­schied liegt dar­in, daß sie eine jeweils ande­re phy­si­sche Men­ge zum Aus­druck bringen.

Ganz anders die Tra­di­ti­on. Neben den ver­schie­de­nen Men­gen­ver­hält­nis­sen ver­wei­sen die Zah­len eben­so auf völ­lig unter­schied­li­che Qua­li­tä­ten. Die Eins ist die Zahl der Ein­heit, die alles und damit auch anschei­nend Gegen­sätz­li­ches in sich ver­eint und damit die höchs­te Ein­heit, das Gött­li­che, anzeigt. Die Zwei bringt den Riß in die­se Ein­heit und wird zum Sym­bol für den Zwie-Spalt, für das „Dia-boli­sche“, das Aus­ein­an­der­ge­wor­fe­ne im ursprüng­li­chen grie­chi­schen Wort­sin­ne, wohin­ge­gen die Drei wie­der­um eine höhe­re Ein­heit, also eine Syn­the­se zwei­er Gegen­sät­ze zum Aus­druck bringt. Jede Zif­fer und Zahl bedeu­tet also nicht nur eine ganz bestimm­te Men­ge, son­dern trägt gleich­zei­tig eine beson­de­re Qua­li­tät in sich. Wenn man nun weiß, daß in anti­ken Kul­tu­ren die Zah­len gleich­zei­tig auch Buch­sta­ben waren – Res­te haben sich bis heu­te in den römi­schen Zif­fern, wie M = 1000, C = 100, und so wei­ter erhal­ten – sieht man, daß auch die Buch­sta­ben weit mehr dar­stell­ten als eine bloß zufäl­li­ge schrift­li­che Fixie­rung von Lau­ten. Am tief­grün­digs­ten aus­ge­prägt fin­det sich die­se Gleich­stel­lung von Buch­sta­ben und Zif­fern in der hebräi­schen Kabbala.
Das Ach­ten auf unter­schied­li­che Qua­li­tä­ten und die Aus­rich­tung nach der Tran­szen­denz ist auch das vor­ran­gi­ge Ziel einer tra­di­tio­na­len poli­ti­schen Gemein­schaft und ihrer Füh­rung. Quan­ti­ta­ti­ves Wachs­tum darf nur im Rah­men des für das irdi­sche Über­le­ben abso­lut Not­wen­di­gen geför­dert wer­den. Das Ziel einer sol­chen tra­di­tio­na­len Gemein­schaft ist also ein anago­gi­sches, das heißt ein nach oben füh­ren­des und wei­sen­des. Der Mensch soll durch die Erzie­hung das Trü­ge­ri­sche rein mate­ri­el­ler und ego­is­ti­scher Bestre­bun­gen und Wün­sche erken­nen und sich spi­ri­tu­el­len Auf­ga­ben wid­men. Die Kunst, von der Musik über die Male­rei bis zur Archi­tek­tur, soll den Men­schen erhe­ben, dem Gött­li­chen zuwen­den. Aber auch alle ande­ren mensch­li­chen Tätig­kei­ten, vom Hand­werk bis zum Akker­bau, sol­len von Spi­ri­tua­li­tät und tie­fer Sym­bo­lik durch­drun­gen sein. Ziel ist die Spi­ri­tua­li­sie­rung des gesam­ten Lebens. Riten die­nen hier als Bin­de­glied zwi­schen Oben und Unten, Him­mel und Erde.
Dem­entspre­chend ist auch die über­ra­gen­de Bedeu­tung der Mythen zu ver­ste­hen, die reli­giö­se Tie­fen­schich­ten und das im Men­schen ange­leg­te Stre­ben nach einer Wie­der­ver­ei­ni­gung mit dem gött­li­chen Urgrund anspre­chen. Nicht um die Wie­der­ga­be rein mate­ri­el­ler Fak­ten kann es daher in der tra­di­tio­na­len „Geschichts­schrei­bung“ gehen, son­dern um die Vor­bild­wir­kung des Berich­te­ten, wes­halb auch hier das Stu­di­um anti­ker Mythen vor dem­je­ni­gen archäo­lo­gi­scher Fund­stü­cke steht. Ideen im pla­to­ni­schen Sin­ne, also Arche­ty­pen in einem dem Irdi­schen ent­rück­ten, aber ihm hier­ar­chisch vor­ge­la­ger­ten Bereich, sind die mäch­ti­gen Leitbilder.
Der Mensch ist nach tra­di­tio­na­ler Auf­fas­sung von zwei­fa­cher Natur und hat Anteil sowohl am Erd­haf­ten wie auch an der meta­phy­si­schen Über­welt und ist des­halb auch des Über­gan­ges vom einen zur ande­ren fähig. Die Initia­ti­on, durch die der Zugang zur Tran­szen­denz eröff­net wird, erfor­dert eine Abkehr von der Iden­ti­fi­ka­ti­on mit dem Äußer­li­chen und eine Kon­zen­tra­ti­on auf den inne­ren uni­ver­sa­len „Got­tes­fun­ken“. Nur in die­sem Sin­ne ist sie Aske­se. Das kann, je nach Deu­tung, durch kon­tem­pla­ti­ve Prak­ti­ken, durch eine wesens­ver­wan­deln­de Magie oder Alchi­mie, aber auch durch „heroi­sche“ Taten gesche­hen, wo nicht das eige­ne Ich, son­dern das „Zeit­lo­se“ im Mit­tel­punkt steht. Wie es eine initia­ti­sche Ket­te gibt, die nach oben weist, so gibt es nach tra­di­tio­na­ler Auf­fas­sung auch eine „gegen­in­itia­ti­sche“ Ket­te, die nach unten zieht und den all­ge­mei­nen Pro­zeß des Nie­der­gan­ges beschleu­nigt. Auf­ga­be des tra­di­ti­ons­be­wuß­ten Men­schen ist es, die­se gegen­in­itia­ti­schen und anti­t­rad­tio­na­len Kräf­te, die pri­mär geis­ti­ger Natur sind, in sich selbst und außer­halb zu bekämpfen.

Die Durch­set­zung all die­ser Bestre­bun­gen sei gesell­schaft­lich am ehes­ten in der Ord­nung des „Rei­ches“ gege­ben, das als Hei­li­ges Impe­ri­um und Spie­gel­bild des Himm­li­schen Rei­ches um ein auf tran­szen­den­ten Prin­zi­pi­en beru­hen­des Zen­trum auf­ge­baut ist. Sei­ne spi­ri­tu­el­le Kraft allein muß genü­gen, um alle Glie­de­run­gen und Sek­to­ren des Rei­ches von oben nach unten zu durch­wir­ken. Kos­mi­sche Ord­nung und mensch­li­che Ord­nung, himm­li­sches Jeru­sa­lem und irdi­sches Jeru­sa­lem, Makro­skos­mos und Mikro­kos­mos sol­len eins sein. Dar­aus ergibt sich der Gegen­satz zum tota­li­tä­ren Staat, der auf phy­si­schen und psy­chi­schen Zwang sowie auf Lüge und Mani­pu­la­ti­on ange­wie­sen ist, um sich zu behaup­ten. Juli­us Evo­la spricht auch vom tran­szen­denz­be­stimm­ten „Orga­ni­schen Staat“ als tra­di­tio­na­ler Ord­nungs­form der mensch­li­chen Gesell­schaft, der in Ana­lo­gie zum mensch­li­chen Kör­per eine unter­schied­li­che hier­ar­chi­sche Funk­ti­on und Stel­lung der ein­zel­nen Staats­glie­der vor­sieht. Die Nati­on allein ist als poli­ti­sche Gesell­schafts­form hin­ge­gen nicht geeig­net, da sie sich vor­ran­gig nach volks­mä­ßi­gen und damit bloß her­kunfts­be­stimm­ten Gesichts­punk­ten aus­rich­tet und nicht nach tran­szen­den­ten Prin­zi­pi­en. Das Reich wird dem­ge­gen­über als völ­ker­über­grei­fend gedacht, da es das gemein­sa­me spi­ri­tu­el­le Ziel aller Men­schen in den Mit­tel­punkt stellt.
Zur Inte­gra­len Tra­di­ti­on gehört eben­so ein zykli­sches Geschichts­ver­ständ­nis, nach dem die Ent­wick­lung sowohl auf der Erde wie im gesam­ten Kos­mos nicht line­ar nach vorn wie beim Fort­schritts­ge­dan­ken ver­läuft, son­dern in Zyklen. Dabei geht die Ent­wick­lung von einem spi­ri­tu­el­len Urzen­trum aus, ver­ma­te­ria­li­siert sich immer mehr, um dann am Extrem­punkt umzu­schla­gen und auf einer ande­ren Ebe­ne und in einem ande­ren Sin­ne neu­er­lich spi­ri­tu­ell zu begin­nen. Wir ken­nen sol­che zykli­schen Geschichts­sys­te­me aus Indi­en eben­so wie aus der grie­chi­schen Anti­ke, wo auf das Gol­de­ne zunächst das Sil­ber­ne dann das Eher­ne und schließ­lich das Eiser­ne Zeit­al­ter fol­gen. Im letz­ten und tiefst­ste­hen­den Zeit­al­ter, im Sans­krit Kali Yuga genannt, wür­den wir gemäß die­ser Sicht heu­te leben. Im „schwar­zen“ Kali Yuga also, wo nach dem schon vor Jahr­hun­der­ten in Indi­en ent­stan­de­nen Vish­nu-Purâ­na nur noch der mate­ri­el­le Reich­tum den Rang der Men­schen bestimmt und nicht mehr die inne­re Hal­tung sowie das inne­re Gesetz. Wo nach der sel­ben Pro­phe­zei­ung die Füh­rer, statt ihre Unter­ta­nen zu beschüt­zen, sie aus­rau­ben, wo die Lust das ein­zi­ge Bin­de­glied zwi­schen den Geschlech­tern bil­det, die Falsch­heit der ein­zi­ge Erfolgs­weg im Wett­streit ist und pries­ter­li­che Gewän­der an die Stel­le der pries­ter­li­chen Wer­te treten.
Wie man sieht, betrach­tet die Inte­gra­le Tra­di­ti­on den welt­ge­schicht­li­chen Ablauf nicht als Auf­stieg, son­dern als Abstieg und zuneh­men­de Abkehr vom gött­li­chen Ursprung. Im heu­ti­gen Kali Yuga nun sei die Linie der Tra­di­ti­on end­gül­tig abge­bro­chen, es gäbe kei­ne Ver­bin­dung mehr zur uranfäng­li­chen Über­lie­fe­rung und daher stel­le die­se Zeit auch die abso­lu­te Nega­ti­on des tra­di­tio­na­len Geis­tes dar. Nur ein völ­li­ger kos­mi­scher Zusam­men­bruch sei noch mög­lich, wor­auf aller­dings ein neu­er Zyklus mit einem neu­en Gol­de­nen Zeit­al­ter begin­nen wür­de. Wo, wann und wie ist unbekannt.

Die Inte­gra­le Tra­di­ti­on sieht sich, wie bereits erwähnt, selbst als über­ge­schicht­lich an und stellt dem­nach einen Ide­al­ty­pus dar, der nur im mythi­schen Gol­de­nen Zeit­al­ter im vol­len Umfang gege­ben war. Trotz­dem habe es in der Anti­ke, im klas­si­schen Chi­na, im katho­li­schen Mit­tel­al­ter und am längs­ten im klas­si­schen Japan noch letz­te Aus­läu­fer die­ser Geis­tig­keit gege­ben. His­to­risch kri­tisch gese­hen ist die tra­di­tio­na­le Welt­an­schau­ung jedoch eine moder­ne Erschei­nung, denn nur im Gegen­satz zur Moder­ne konn­te sie sich ihrer selbst bewußt wer­den und zu ihrer Aus­for­mu­lie­rung gelan­gen. Ers­te Ansät­ze dazu fin­den sich bereits in der Renais­sance, als der vati­ka­ni­sche Biblio­the­kar Ago­s­ti­no Steu­co 1540 den Begriff der phi­lo­so­phia peren­nis, der „Ewi­gen Phi­lo­so­phie“ schuf, um die zen­tra­len Ein­sich­ten von Mar­si­lio Fici­no zu erläu­tern, der ein Jahr­hun­dert vor­her die Pla­to­ni­sche Aka­de­mie in Flo­renz gelei­tet hat­te. Fici­no hat­te bereits einen gemein­sa­men Ursprung aller Reli­gio­nen postuliert.
Als tat­säch­li­cher Begrün­der der Inte­gra­len Tra­di­ti­on im Sin­ne der vor­hin skiz­zier­ten geschlos­se­nen Welt­an­schau­ung muß jedoch René Gué­non bezeich­net wer­den. Gebo­ren 1886 in Blois, Frank­reich, stu­dier­te er Mathe­ma­tik und Phi­lo­so­phie. Eine inten­si­ve Beschäf­ti­gung mit der Theo­so­phi­schen Gesell­schaft, der Frei­mau­re­rei und ver­schie­de­nen okkul­tis­ti­sche­so­te­ri­schen Grup­pie­run­gen zeich­ne­ten ihn aus. 1930 reis­te er nach Kai­ro, wo er bis zu sei­nem Tode 1951 ver­blieb, zum Islam über­trat, sich dem Sufis­mus zuwand­te, eine Fami­lie grün­de­te und wie ein Ara­ber unter Ara­bern leb­te. Die von sei­nen Anhän­gern pos­tu­lier­te Ein­wei­hung Gué­nons durch fern­öst­li­che initia­ti­sche Krei­se, die ihm die Grund­fes­ten der tra­di­tio­na­len Anschau­ung geof­fen­bart hät­ten, ist his­to­risch nicht nach­weis­bar. Faß­bar hin­ge­gen sind Ein­flüs­se der Theo­so­phi­schen Gesell­schaft, die nicht nur die ver­glei­chen­de Ana­ly­se ver­schie­de­ner Reli­gio­nen för­der­te, son­dern auch ihren gemein­sa­men tran­szen­den­ten Ursprung lehr­te. Eben­so ver­wies sie auf die „anti­ke Weis­heit“ des Ostens und ins­be­son­de­re der Veden, die für Gué­non die viel­leicht zen­trals­te Inspi­ra­ti­ons­quel­le dar­stell­ten. Den für die Inte­gra­le Tra­di­ti­on gleich­falls kon­sti­tu­ti­ven Gedan­ken der Initia­ti­on lern­te Gué­non im Frei­mau­rer­tum und im Mar­ti­nis­mus ken­nen. Es ist also durch­aus mög­lich, die Inte­gra­le Tra­di­ti­on als eine eigen­stän­di­ge Krea­ti­on Gué­nons zu ver­ste­hen, die – natür­lich – auf sei­nen inten­si­ven vor­gän­gi­gen Stu­di­en beruht. Auf über­welt­li­che Quel­len muß man dabei nicht zurückgreifen.
Wei­te­re Namen von bedeu­ten­den, zum Teil noch heu­te leben­den Tra­di­tio­na­lis­ten möch­te ich nur kurz erwäh­nen: Juli­us Evo­la, Anan­da Coo­ma­ras­wa­my, Fri­th­jof Schuon, Titus Bur­ck­hardt, Leo­pold Zieg­ler, Michel Valsan, Mar­tin Lings, Mar­co Pal­lis, Whitall Per­ry, Phil­ipp Sher­rard, Joseph Epes Brown, Prof. Dr. Wal­ter Hein­rich, Prof. Dr. Hus­ton Smith und Prof. Dr. Sey­y­ed Hos­sein Nasr. Obwohl der Ein­fluß der Inte­gra­len Tra­di­ti­on heu­te sicher­lich grö­ßer ist als zu Zei­ten Gué­nons und Evo­las, kann von einer ech­ten Brei­ten­wir­kung nicht die Rede sein. Rezi­piert, wenn auch nicht in rei­ner Form, wur­de das Gedan­ken­gut sicher­lich in begrenz­ten reli­gi­ons­wis­sen­schaft­li­chen Krei­sen. Unbe­dingt erwäh­nens­wert ist aber der von der eng­li­schen Bla­ke-Exper­tin und Poe­tin Kath­le­en Rai­ne inspi­rier­te tra­di­tio­na­le (wenn auch nicht im ganz engen Sin­ne) Teme­nos-Kreis, des­sen Patron Prinz Charles, der Prinz von Wales, ist.

Zahl­rei­che Zeit­schrif­ten för­dern heu­te noch, wenn auch in man­cher­lei Vari­an­te, das tra­di­tio­na­le Den­ken: In den USA zum Bei­spiel Sophia und Para­bo­la, in Kana­da Sacred Web, in Eng­land die Teme­nos Aca­de­my Review, in Frank­reich Con­nais­sance des Reli­gi­ons oder Vers la Tra­di­ti­on, in Ita­li­en Arthos oder Via­tor, um nur eini­ge weni­ge anzu­füh­ren. Der deut­sche Sprach­raum ist nicht so gut bestückt. Es gab zwar meh­re­re Ver­su­che, aber geblie­ben ist eigent­lich nur die unre­gel­mä­ßi­ge Her­aus­ga­be des Rund­brie­fes Ksha­tri­ya aus Wien mit der gleich­na­mi­gen Netz­sei­te. Die Lite­ra­tur zur Inte­gra­len Tra­di­ti­on füllt schon gan­ze Biblio­theks­wän­de. So gibt es allein über Gué­non an die fünf­zig Bücher bezie­hungs­wei­se buch­di­cke Son­der­num­mern von Zeit­schrif­ten und über Evo­la an die vier­zig. Die Grund­wer­ke der wich­tigs­ten hier ange­führ­ten tra­di­tio­na­len Autoren sind in vie­len Spra­chen und im Ori­gi­nal­text seit Jah­ren so gut wie voll­stän­dig lie­fer­bar und die ein­schlä­gi­gen Sei­ten im Inter­net sind kaum noch überschaubar.
Kann man also von einer Art Sie­ges­zug spre­chen? Sicher­lich nicht. Das Denk­ge­bäu­de der Inte­gra­len Tra­di­ti­on ist viel zu eli­tär, was in einer demo­kra­tisch gepräg­ten Zeit kaum erfolg­ver­spre­chend ist. Zudem steht heu­te bei den meis­ten Men­schen mate­ri­el­les Wohl­le­ben und Genie­ßen der Frei­zeit im Vor­der­grund. Die Inte­gra­le Tra­di­ti­on hin­ge­gen ver­langt Opfer und „Aske­se“. Und trotz­dem übt sie eine Fas­zi­na­ti­on auf bestimm­te, sogar viel­fach jün­ge­re Leu­te aus. Wor­auf ist das zurück­zu­füh­ren? Hier kann ich nur eini­ge kur­ze Skiz­zen vor­le­gen, wobei ich natür­lich über ver­bor­ge­ne tran­szen­den­te Ursa­chen, wie sie die Tra­di­tio­na­lis­ten selbst ange­ben, nichts aus­zu­sa­gen ver­mag. Ohne all­zu­sehr psy­cho­lo­gi­sie­ren zu wol­len, dürf­te man doch eini­ge Gemein­sam­kei­ten bei den sich beken­nen­den Tra­di­tio­na­lis­ten fest­stel­len können.
Grund­sätz­lich kann es sich nicht um Mit­läu­fer­ty­pen han­deln, denn so deut­lich und noch dazu in klei­ner Grup­pe gegen den Strom zu schwim­men, erfor­dert ein gehö­ri­ges Stand­ver­mö­gen. Es sind also eher Men­schen, die ihre Iden­ti­tät in der Oppo­si­ti­on aus­bil­den, wie das bei jun­gen Leu­ten eigent­lich selbst­ver­ständ­lich ist. Dazu muß ein tie­fer reli­giö­ser Drang kom­men, der in den her­kömm­li­chen Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten kei­nen Wider­hall fin­det. Die dort gebo­te­nen Leh­ren und Auf­ga­ben erschei­nen dem hier bespro­che­nen Typus als viel zu „gewöhn­lich“ und zu abge­stan­den. Es feh­len ein­fach – und ich mei­ne das sicher­lich nicht spöt­tisch – das „Mys­te­ri­um“ und die Her­aus­for­de­rung. Tra­di­tio­na­lis­ten wol­len in einem weit grö­ße­ren, mög­lichst umfas­sen­den, zeit- und orts­über­grei­fen­den, ja „ewi­gen“ Ziel ein­ge­bet­tet sein. Han­delt es sich doch häu­fig um sehr intel­li­gen­te, kri­ti­sche Geis­ter, die alles hin­ter­fra­gen (auch sich selbst), dabei immer unsi­che­rer wer­den und nach ent­täusch­ter, oft lan­ger spi­ri­tu­el­ler Suche schließ­lich die „end­gül­ti­ge“ Fra­ge nach der „Wahr­heit“ stel­len wol­len. Nur all­um­fas­sen­de Kon­zep­tio­nen ver­mö­gen da zu befrie­di­gen, denn nur sie kön­nen die „Angst“ vor Irr­tü­mern neh­men und die Sicher­heit und Ruhe geben, die ihr gro­ßer und gewoll­ter Ein­satz erfordert.

Daher rührt auch die kei­ne Zwei­fel erlau­ben­de „abso­lu­te Gewiß­heit“, die für Aus­sa­gen von Tra­di­tio­na­lis­ten so cha­rak­te­ris­tisch ist. Genau­so wie die klar defi­nier­ten Feind­bil­der der Tra­di­tio­na­lis­ten und ihre oft grel­le Schwarz­weiß­ma­le­rei. Dies alles sind mei­ner Mei­nung nach Indi­zi­en für eine trotz aller „Gewiß­heit“ noch wei­ter bestehen­de grund­le­gen­de „Unsi­cher­heit“, die auch Ursa­che eines immensen inne­ren Kamp­fes ist. Ein Kampf, wie ihn Gott­su­cher bekannt­lich seit jeher zu bestehen haben. Nur Hin­ga­be an etwas weit Grö­ße­res und somit Hin­schwin­den des Ich-Wol­lens, das sich oft auch in einem Mis­sio­nie­rungs­drang äußert, ver­mag ihn zu been­den und tie­fen Frie­den zu schenken.
Das ist schon bei den gro­ßen alten Geis­tern wie Gué­non und Evo­la fest­zu­stel­len, die nach Jah­ren der Suche und Frus­tra­tio­nen end­lich in der Tra­di­ti­on einen nicht mehr logisch aus­zu­he­beln­den Fix­punkt und wenn schon nicht Frie­den, so doch hof­fent­lich Ruhe fan­den. Der eine in Kai­ro, weit weg von allem, was er fürch­te­te, der ande­re – man ver­zei­he mir das Ket­ze­ri­sche die­ser Aus­sa­ge – im Roll­stuhl, den er her­aus­ge­for­dert hat­te und den er viel­leicht des­we­gen so gedul­dig ertrug. Bei­de woll­ten alles und muß­ten sich schlu­ßend­lich allein mit der (hof­fent­lich!) gefun­de­nen Ruhe zufrie­den­ge­ben. Nie­der­la­gen sind unver­meid­lich, wenn man das eige­ne ver­zeh­ren­de Stre­ben auch auf ande­re pro­ji­ziert und nicht im Selbst auf sie „hört“.
Aus der man­geln­den inne­ren Sicher­heit, wie sie übri­gens bei fast allen fein­füh­li­gen, intel­li­gen­ten und daher an sich selbst zwei­feln­den Men­schen selbst­ver­ständ­lich ist, ergibt sich auch die von Außen­ste­hen­den viel­fach gerüg­te „Sehn­sucht nach Auto­ri­tät“ Die­se Sehn­sucht läßt sich jedoch nicht durch das übli­che, bloß auto­ri­tä­re, aber eben nicht auto­ri­ta­ti­ve Geha­be soge­nann­ter Füh­rer befrie­di­gen. Sie ver­langt nach „kos­mi­schen“ Maß­stä­ben. Auto­ri­täts­sehn­sucht als bewuß­te Unter­wer­fung unter eine höhe­re spi­ri­tu­el­le Macht.
Noch einen Punkt möch­te ich hier auf­grei­fen, der für vie­le sehr anzie­hend ist: Die Ästhe­tik der Inte­gra­len Tra­di­ti­on. Nicht ohne Grund füh­len sich häu­fig künst­le­risch Beru­fe­ne von ihr ange­spro­chen. Man den­ke an Juli­us Evo­la und Fri­th­jof Schuon, die bei­de mal­ten und dich­te­ten, an Anan­da Coo­ma­ras­wa­my, den Samm­ler und Kura­tor indi­scher Kunst, an Titus Bur­ck­hardt, den Her­aus­ge­ber her­vor­ra­gen­der Kunst­bän­de und heut­zu­ta­ge an den Teme­nos-Kreis, des­sen Lei­tung bil­den­de Künst­ler und Dich­ter inne­ha­ben. Gué­non selbst war zwar kein Maler oder Dich­ter, aber er fühl­te sich einer mathe­ma­ti­schen Ästhe­tik ver­pflich­tet, wie man zum Bei­spiel sei­nen Stu­di­en zur Sym­bo­lik des Kreu­zes deut­lich ent­neh­men kann. Die Inte­gra­le Tra­di­ti­on als kla­res kos­mi­sches Gesetz kann bei län­ge­rer Betrach­tung tat­säch­lich mit der Schön­heit eines geis­ti­gen Man­da­las ver­gli­chen wer­den, des­sen har­mo­ni­sche, sym­me­tri­sche Wir­kung von innen nach außen geht, um dann den Blick wie­der­um von außen nach innen zu lenken.

Der Gedan­ke des Man­da­las führt auto­ma­tisch zur Inter­pre­ta­ti­on von C. G. Jung, der im Man­da­la ein Sym­bol des tief­stin­ne­ren Selbst­es sieht, das er mit dem alchi­mis­ti­schen Gold und der Erlö­ser­ge­stalt Chris­ti kor­re­liert und als Ziel­punkt des mensch­li­chen Indi­vi­dua­ti­ons­we­ges bezeich­net. Spricht also die Inte­gra­le Tra­di­ti­on mit all ihrer Sym­bo­lik des „Wie oben, so unten“ in uns gele­ge­ne Arche­ty­pen an, die angeb­li­chen Mark­stei­ne unse­rer spi­ri­tu­el­len Ent­wick­lung? Die Tra­di­ti­on als „Sehn­sucht nach der ver­lo­re­nen Mitte“?
Und weil das alles so drän­gend wich­tig ist, ja den Kern des eige­nen Lebens betrifft, fehlt auch der Humor in der tra­di­tio­na­len Welt­an­schau­ung, obwohl Humor und Weis­heit sich kei­nes­wegs aus­schlie­ßen müs­sen. Auch die Angst vor allem „Nie­de­ren“ ist hier zu erwäh­nen, das einen „hin­un­ter­zie­hen“ könn­te aus spi­ri­tu­el­len Höhen. Und dazu gehört nun ein­mal die Natur, die sich oft genug in Schleim, Exkre­men­te und kör­per­li­che Wol­lust hüllt. Kommt daher die zwar vor­der­grün­dig nicht so kla­re, aber dem nähe­ren Beob­ach­ter doch offen­ba­re Natur­feind­se­lig­keit der nam­haf­ten Traditionalisten?
Noch eini­ge weni­ge Wor­te zu den poli­ti­schen Visio­nen der Inte­gra­len Tra­di­ti­on: Die Kon­zep­tio­nen eines tra­di­tio­na­len Orga­ni­schen Staa­tes mögen ästhe­tisch berü­cken, arche­ty­pi­schen Sehn­süch­ten genü­gen und für man­che die ewi­ge Sinn­fra­ge lösen, aber daß sie unser Leben hier auf Erden ver­bes­sern, bezweif­le ich. Sie beach­ten näm­lich nicht die unwei­ger­li­che Fehl­bar­keit des Men­schen. Und die­se wür­de, so fürch­te ich, statt zur erwar­te­ten kos­mi­schen Har­mo­nie in kur­zer Zeit zu einem üblen Tota­li­ta­ris­mus füh­ren. Zwangs­maß­nah­men wür­den näm­lich unwei­ger­lich ergrif­fen wer­den müs­sen, sobald erns­te Gefahr für die hoch­ge­steck­ten spi­ri­tu­el­len Zie­le droht. Kein Staat kann heu­te mehr allein für sich exis­tie­ren und sich abschot­ten. Wirt­schaft und Kom­mu­ni­ka­ti­on sind nun ein­mal welt­weit ver­netzt. Wider­läu­fi­ge Mei­nun­gen sind damit unver­meid­bar. Und eine letz­te Fra­ge: Wo sind denn heu­te die Men­schen, die frei­wil­lig die für die­se Zie­le not­wen­di­gen Opfer bringen?
Bei mei­ner Ein­schät­zung weiß ich mich sogar im Ein­klang mit der alten indi­schen Tra­di­ti­on, die klar und deut­lich sagt, daß im Kali-Yuga eine tra­di­tio­na­le Gesell­schafts­ord­nung unmög­lich ist. Die TRADITION mag sehr wohl eine gro­ße „inne­re Wahr­heit“ sein oder in sich ber­gen. Aber sie mit einer „äuße­ren Wahr­heit“ zu ver­wech­seln, dünkt mich gefähr­lich. Alles in allem sehe ich also viel Posi­ti­ves in der tra­di­tio­na­len Welt­an­schau­ung. Allein schon des­we­gen, weil sie das Gegen­bild zu jetzt übli­chen Denk­ge­wohn­hei­ten bil­det, somit zum Wider­spruch her­aus­for­dert und auf die­se Wei­se pro­vo­ka­tiv das Nach­den­ken fördert.
Ich ach­te auch den Idea­lis­mus und die Reli­gio­si­tät der Tra­di­tio­na­lis­ten und kann die Ästhe­tik und Sinn­ge­bung ihrer Leh­re nach­emp­fin­den. Doch Gutes zu wol­len und Gutes zu tun, sind zwei ver­schie­de­ne Din­ge. Nicht ohne Grund heißt es, daß der Weg zur Höl­le mit guten Vor­sät­zen gepflas­tert ist. Die Geschich­te lehrt es seit langem.

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