Er sandte es, weil er natürlich das Literaturgespräch von Erik Lehnert und Götz Kubitschek über Dwinger wahrgenommen hatte. Dieses Gespräch ist unter Sternaus Beitrag verfügbar.
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Vor 125 Jahren, am 23. April 1898, wurde Edwin Erich Dwinger in Kiel geboren. Sein Vater war Offizier der kaiserlichen Marine und seine Mutter ein Kind russischer Einwanderer. Obwohl die junge Familie Dwinger entschied, mit ihrem Sohn nur deutsch zu sprechen, lernte der junge Edwin von seiner Mutter auch die russische Sprache.
Neben diesem russischen Erbe mütterlicherseits prägte den Jungen besonders die Zeit auf der Reitschule seines Onkels väterlicherseits. Er war zeitlebens ein Pferdenarr, was sich auch in seinen späteren Büchern widerspiegelt, und hoffte den Besitz seines kinderlosen Onkels eines Tages zu erben. Doch das Jahr 1914 wurde nicht nur für das Deutsche Reich, sondern auch für den jungen Edwin zum Schicksalsjahr. Zuerst starb überraschend sein Onkel, worauf die Reitschule zwangsversteigert wurde, und kurz vor Kriegsausbruch auch noch seine geliebte Mutter.
Da ihn nun in seiner Geburtsstadt nichts mehr hielt, meldete er sich als 16-Jähriger freiwillig bei verschiedenen Regimentern der Kavallerie. Nach einigen Absagen schaffte er es schließlich in ein Dragoner-Regiment, indem er sein Alter fälschlicherweise auf 17 anhob. Nach eigenen Angaben war er eine Zeitlang „der jüngste Kriegsfreiwillige der ganzen deutschen Armee“.
Im Sommer 1915 wurde Dwinger bei seinem ersten Gefecht in Kurland schwer verwundet und geriet in russische Kriegsgefangenschaft, die er erst 1920 verlassen sollte. Während dieser schweren Zeit verfaßte er zahlreiche Tagebuchnotizen, die später die Grundlage für seine bekanntesten Romane Armee hinter Stacheldraht (1929) und Zwischen Weiß und Rot (1930) bildeten.
Im ersten Band schildert Dwinger, wie er durch die Intervention eines österreichischen Offiziers (es handelte sich um den Schriftsteller Bruno Brehm) vor der Amputation seines zerschossenen Beines bewahrt wurde, das furchtbare Lager Trozkoje überlebte, in dem tausende Soldaten an Hunger, Kälte und Krankheiten, wie Typhus oder Ruhr, zugrunde gingen, und schließlich wie er 1917 im Lager Daurija an der russisch-mongolischen Grenze landete.
In seinem Werk, das „von den ‚Hinterhöfen‘ des Krieges“ berichten will, behandelt er alle Seiten der langen Gefangenschaft. Neben den Grundproblemen, wie Hunger, schlechte Unterkünfte und mangelnde Hygiene, betonte er auch die Langeweile und sexuelle Not der Männer im Lager, die verstärkt zu homosexuellen Beziehungen und Geschlechtsverkehr mit oft an Syphilis erkrankten Prostituierten führte. Manche Soldaten hielten die Umstände des Lagers überhaupt nicht mehr aus und verfielen dem Wahnsinn.
Seinen Kameraden im Lager, die ihm teilweise das Leben gerettet haben sollen, setzte Dwinger mit diesem Buch genauso ein Denkmal wie der schwedischen Krankenschwester Elsa Brändström („der blonde Engel“), die sich im Namen des Roten Kreuzes für die deutschen Kriegsgefangenen in Sibirien einsetzte. Auf die häufige Frage, warum ein Mensch so viel erleiden müsse, ließ Dwinger Dr. Bockhorn, einem Arzt, der in Trozkoje gegen die Typhus-Epidemie kämpfte, antworten: „Ein Mensch, der nicht fähig ist, sich für eine Idee aufzuopfern, gleich welcher Art, ist im höheren Sinn noch kein Mensch, kam über die Tiefstufe nicht hinaus… Wir tun hier das, was erst den Menschen ausmacht: Leiden für eine Idee…“
Die russische Revolution wurde in den Büchern nur am Rande behandelt, erst 1967 beschrieb Dwinger in einem kurzen Zeitschriftenbeitrag, wie er davon erfuhr und diese einschätzte. Während er in den 1920er Jahren noch die besseren Bedingungen im Lager nach der bolschewistischen Übernahme hervorhob, ist das Fazit des späteren Aufsatzes eindeutig: „In mir aber war nur mehr ein Gedanke – ich war schließlich erst achtzehn Jahre alt: Jetzt bin ich weiß.“
Der zweite Band Zwischen Weiß und Rot beginnt mit der geglückten Flucht aus dem Gefangenenlager. Nach kurzer Zeit in Freiheit wurde er jedoch wieder verhaftet und wegen eines irrtümlich angenommenen Spionageverdachts zum Tode verurteilt. Die Intervention von Vereniki, seinem ehemaligen Lagerkommandanten und mittlerweile Kapitän der weißen Armee, rettete ihm das Leben. Er hatte nun nach eigenen Angaben keine Wahl mehr als die Fluchtpläne nach Deutschland vorerst aufzugeben und Fähnrich im Kosakenregiment Verenikis zu werden.
Im Folgenden beschrieb Dwinger, wie er einem der Anführer der weißen Armee, Alexander Wassiljewitsch Koltschak, persönlich begegnete und den Vormarsch bis westlich des Ural mitmachte. Auf einige seiner ehemaligen deutschen Mitgefangenen traf er im Laufe der Ereignisse ebenfalls und erlebte gemeinsam mit ihnen den fluchtartigen Rückzug der Koltschak Armee. Wieder wurden Hunger, Kälte und Typhus zu den tödlichen Feinden des Trosses, der mit großen Verlusten schließlich auf dem gefrorenen Baikalsee sein Ende fand. Nach Verenikis Tod beschlossen die letzten Deutschen, sich den Roten zu ergeben. Dwinger, der seine Tätigkeit für die weiße Armee verschleiern konnte, kam so wieder in ein Lager. Mit einem Kameraden gelang ihm erneut die Flucht, wobei er endlich von Irkutsk ausgehend seine Heimat erreichen konnte.
Aus Rußland kam Dwinger schwer krank zurück, vermutlich Tuberkulose, und hatte nach medizinischer Meinung nur noch zwei Jahre zu leben. Er ließ sich im Allgäu aufgrund des besseren Klimas im Vergleich zu Norddeutschland in der Nähe eines Lungenheilsanatoriums nieder. Mit Hilfe dessen Ärzte wurde er überraschend kuriert und betrieb Pferdezucht und Landwirtschaft auf einem kleinem Gut. Noch im Jahr seiner Heimkehr veröffentlichte Dwinger sein erstes Buch, Das große Grab, worin er bereits versuchte, die Gefangenschaft zu verarbeiten. Der Roman blieb aber wie die beiden nächsten Werke, über einen russischen Aussteiger (Korsakoff, 1926) und deutsche Kriegsheimkehrer (Das letzte Opfer, 1928) ohne große Resonanz.
Der Verleger Eugen Diederichs schlug Dwinger nach dem großen Erfolg von Remarques Im Westen nichts Neues, das bekanntlich an der Westfront spielt, vor, seine Tagebücher in einem großen Werk über die Ostfront und die Gefangenschaft zu verarbeiten. Nach nur ein paar Monaten war der erste Band Armee hinter Stacheldraht der „Sibirischen Trilogie“ fertig, die auch unter dem Titel „Deutsche Passion“ verlegt wurde. Schlagartig wurde Dwinger als Schriftsteller bekannt und ließ schon 1930 den zweiten Band Zwischen Weiß und Rot folgen. Die Bücher wurden über alle politischen Schichten hinweg positiv besprochen.
Für eine hohe historische Authentizität spricht die Grundlage der Tagebuchaufzeichnungen, wobei nicht übersehen werden darf, daß die Werke als Romane verkauft wurden und Dwinger mit Sicherheit einige Episoden aus Elsa Brändströms Buch über Sibirien übernommen hatte. Der dritte Band Wir rufen Deutschland (1932) spielt – anders als Dwingers tatsächliche Nachkriegszeit – in Ostpreußen und berichtet vom Schicksal der Heimkehrer, die sich nach und nach alle auf einem Gut sammeln. Im Mittelpunkt stehen hier besonders die politischen Diskussionen der unterschiedlichen Charaktere und deren Beurteilung der Geschehnisse bis 1924. Vermutlich wegen dieser Zeitgebundenheit und der dünnen Handlung wurde dieses Buch als einziges der „Sibirischen Trilogie“ nach 1945 nicht mehr nachgedruckt.
Noch vor diesem Abschlußband publizierte Dwinger 1931 den Roman Die zwölf Räuber, den er bereits früher abgefasst hatte, und der sich um einen ehemaligen roten Kommissar dreht. In diesem Jahr heiratete er auch seine erste Frau Waltraud, mit der er in den nächsten Jahren Reisen in die Türkei, Griechenland, Nordafrika und die USA unternahm.
In den Anfangsjahren des Dritten Reiches versuchte sich Dwinger zunächst weniger erfolgreich als Dramatiker. 1935 erschien sein sehr erfolgreicher Roman Die letzten Reiter, welcher sich mit dem fiktiven Freikorps Mannsfeld im Baltikum beschäftigt. In diesem Jahr erhielt er auch den nationalsozialistischen „Dietrich-Eckart-Preis“ und wurde zum Reichskultursenator in der Reichskulturkammer ernannt. Seine Schriften wurden auf die „Grundliste der von der Reichsstelle zur Forderung des deutschen Schrifttums empfohlenen Werke“ gesetzt und er gehörte zu den bestverdienenden Autoren der Zeit.
Mit der NSDAP, deren Mitglied er 1937 wurde, verband ihn vor allem sein Antikommunismus. Dieser drückt sich besonders stark im 1936 publizierten Buch Und Gott schweigt? aus, das die angeblich wahre Geschichte eines Kommunisten erzählt, der durch eine Reise in die Sowjetunion seinen Glauben an die Ideologie verliert und geläutert zurückkehrt. Dwinger schilderte in diesem Werk bereits die Folgen des Holodomors in der Ukraine und betonte, daß über dieses Leid gesprochen werden muß: „Und Gott schweigt? […] Wie soll Gott sprechen, wenn die Menschen schweigen?“
Als Kriegsberichterstatter besuchte er im Herbst 1936 Spanien und verarbeitete die Erlebnisse in Spanische Silhouetten, die auch seinen Besuch bei Franco enthalten. Vor dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichte er außerdem noch einen Bildband über seinen Hof im Allgäu und einen weiteren Freikorps-Roman (Auf halbem Wege, 1939).
Den Polen- und Frankreichfeldzug begleitete Dwinger ebenfalls als Kriegsberichterstatter. Es entstanden zwei neue Bücher: Während sich Der Tod in Polen (1940) auf den Bromberger Blutsonntag kurz nach Kriegsbeginn fokussiert, steht im Panzerführer (1941) der Blitzkrieg in Frankreich im Mittelpunkt. Auf Vorschlag Himmlers wurde Dwinger 1936 zum SS-Untersturmführer der 15. SS-Reiterstandarte ernannt, später auch zum Obersturmführer befördert. 1941 wurde er zudem zu Himmlers persönlicher Ostreferent und konnte so die Ostfront ohne Widerstände besuchen.
Sein letztes Buch während des Dritten Reiches Wiedersehen mit Sowjetrußland (1942) konzentriert sich vor allem auf die schlimmen Folgen des Kommunismus. Im Gegensatz zu Himmler und dem radikalen Reichskommissar Koch kämpfte Dwinger jedoch gegen die Ideologie des „Untermenschen“ und warb für eine antibolschewistische Ostpolitik mit dem russischen Volk. In zahlreichen Denkschriften versuchte er den „russischen Menschen“ zu erklären und machte sich für eine ordentliche Behandlung sowie eine militärische Zusammenarbeit stark. Er traf sich auch mit General Wlassow und unterstützte die Aufstellung einer Armee aus russischen Freiwilligen.
Wegen dieses Engagements zog er schließlich die Kritik von fanatischen Nationalsozialisten auf sich. So sprach Himmler in der berüchtigten Posener Rede vom 4. Oktober 1943 indirekt von Dwinger und dessen empfohlene Haltung zu den Russen: „Dann hören Sie das nächste Gebet. Das lautet: ‚Wir haben uns in dem Russen getäuscht.‘ Das Gebet geht aus von Männern, die meistens irgendwie östlicher Provenienz sind, die in ihrer Jugend dort drüben waren, zum Teil sehr gute Bücher geschrieben haben, dabei eine russische Mutter hatten und die nun erzählen.“ Dwinger erhielt in diesem Jahr auch Publikationsverbot und wurde unter Hausarrest gestellt sowie vom Sicherheitsdienst des Reichsführers SS überwacht.
Im Mai 1945 wurde er von den Amerikanern interniert, aber nach sechs Monaten Haft in Ludwigsburg als „Mitläufer“ entnazifiziert. Die Spruchkammer erkannte ihm seinen mutigen Einsatz gegen die nationalsozialistische Ostpolitik an. 1950 erschien sein nächstes Buch Wenn die Dämme brechen, das den Untergang Ostpreußens beschreibt. In gewisser Weise kann es, obwohl es nicht auf eigenem Erleben beruht und nicht mehr aus der Ich-Perspektive geschrieben ist, als Fortsetzung der „Deutschen Passion“ gesehen werden, da man das weitere Schicksal der alten Kameraden erfährt.
Beim folgenden Werk, General Wlassow. Eine Tragödie unserer Zeit (1951), konnte er auf seine Begegnungen mit dem russischen General zurückgreifen. Hinter der Figur „Herbert Hollstein“ versteckt sich Dwinger selbst in diesem Buch, mit dem er dem 1946 hingerichteten Wlassow ein Denkmal setzte. „Schriftsteller Hollstein“ taucht bereits in der nächsten Publikation Sie suchten die Freiheit … Schicksalsweg eines Reitervolkes (1952) wieder auf. Diesmal steht das Schicksal einer Kosakensippe im Mittelpunkt, deren Geschichte mit dem Buch Die verlorenen Söhne (1956) eine Fortsetzung fand und diese Nachkriegstrilogie Dwingers abschließt.
Neben einem Reiterbrevier für Pferdefreunde veröffentlichte er 1957 den utopischen Roman Es geschah im Jahre 1965. Darin schilderte er einen atomaren Weltkrieg, der am Ende die Sowjetunion auslöscht. Erst neun Jahre später brachte er wieder ein Buch auf den Markt, die autobiographische Rechtfertigungsschrift Die zwölf Gespräche 1933–1945. Wie dem Titel bereits zu entnehmen ist, beschäftigte sich Dwinger darin mit seiner Rolle im Dritten Reich, indem er dem Leser zahlreiche Treffen mit politischen und militärischen Größen des NS-Staates präsentierte. Obwohl er angab, wieder seine Tagebuchnotizen als Vorlage genutzt zu haben, wirken die Gespräche häufig aufgesetzt und unglaubwürdig. So bleibt der Abdruck einiger Denkschriften Dwingers das historisch Wertvollste an diesem heute seltenen Buch, das die letzte eigenständige Publikation des Autors sein sollte. Am 17. Dezember 1981 verstarb Dwinger mit 83 Jahren in Gmund am Tegernsee.
Sein Werk wurde in der BRD und noch mehr in der DDR dem nationalsozialistischen Erbe zugerechnet, was seine zweite Frau Ellen nach seinem Tod kritisierte. Sie verwies dabei auf den Dichter und SED-Kulturpolitiker Johannes R. Becher, der keinesfalls ein Sympathisant Dwingers war, aber trotzdem Zwischen Weiß und Rot als eines der bedeutendsten Bücher einordnete, das die Zeit überdauern werde.
Obwohl Dwingers Bücher in 14 Sprachen übersetzt wurden und sein Gesamtwerk eine Auflage von über zwei Millionen erreichte, ist er heute kaum mehr bekannt. Lediglich Zwischen Weiß und Rot ist aktuell noch lieferbar. Ein klein wenig Aufmerksamkeit gab es für den toten Schriftsteller neben einigen wissenschaftlichen Aufsätzen lediglich, als sein Enkel Raphael Dwinger zusammen mit dem linken Regisseur Tobias Ginsburg ein Theaterstück mit dem vielsagenden Titel „Nestbeschmutzung“ in München inszenierte.
Warum sollte man Dwinger, der nicht „in der Bundesliga spielt“ (Kubitschek), lesen? Vor allem, weil er zahlreiche Themen der deutschen und russischen Geschichte behandelt, die heute in Vergessenheit geraten sind. Genau dieses Motiv gab übrigens Dwinger in einem seiner ersten Bücher selbst als Zweck seiner Tagebuchnotizen an: „Damit die Menschheit einmal erfährt, was im zwanzigsten Jahrhundert möglich war!“ (Armee hinter Stacheldraht).
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Gotlandfahrer
Solche Beiträge sind wie Tiefseetauchen mit Suchscheinwerfern entlang der Wracks vergessener Flotten. Man möchte in jedes einzelne hinein und die dumpfe Ahnung ihrer Schicksale in farbiges Leuchten verwandeln, im Grunde getrieben vom sinnlosen Wunsch, sie doch nur unwirklich, ungeschehen zu machen. Es ist nicht allein die Amputation der östlichen Körperhälfte unseres Volkes, mit seiner Verbundenheit zum Raum dahinter, die schmerzt, sondern die desinteressierte Bewusstlosigkeit im Verbliebenen angesichts des mit ihr versunkenen Wissens. Für Arbeiten wie die obige möchte ich daher herzlich danken.