Zwischengliederungen

von Moritz Scholtysik -- PDF der Druckfassung aus Sezession 111/ Dezember 2022

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Die gro­ße Wen­de blieb erneut aus. Vor allem seit der Coro­na-Kri­se kann man bei vie­len wider­stän­di­gen Men­schen eine gewis­se Frus­tra­ti­on erkennen.

Sie hat­ten sich durch Wah­len, Demons­tra­tio­nen und Peti­tio­nen ein Umden­ken der Eli­ten und grund­sätz­li­che poli­ti­sche Ver­än­de­run­gen erhofft. Die­ser Trug­schluß kommt zustan­de, da die meis­ten Bür­ger Poli­tik auf Par­tei­po­li­tik redu­zie­ren und Meta­po­li­tik igno­rie­ren. Eben­so ver­kürzt ist es, die Lösung poli­ti­scher und gesell­schaft­li­cher Pro­ble­me allein oder zuerst vom Staat zu erwarten.

Der heu­ti­ge Staat beach­tet die­se For­de­run­gen meist gar nicht oder gibt nur vor, sich damit aus­ein­an­der­zu­set­zen. Denn er ist wei­test­ge­hend von den Inter­es­sen und Vor­ga­ben supra­na­tio­na­ler Insti­tu­tio­nen, mul­ti­na­tio­na­ler Kon­zer­ne und infor­mel­ler glo­ba­ler Netz­wer­ke gelenkt, wodurch der poli­ti­sche Ent­schei­dungs­pro­zeß durch den Bür­ger immer weni­ger beein­flußt wer­den kann. Davos, Washing­ton, Brüs­sel und Ber­lin lie­gen in jeder Hin­sicht außer­halb des eige­nen Ein­fluß­be­reichs. In die­sem kaf­ka­es­ken Sze­na­rio steht heu­te der ein­zel­ne big govern­ment und big busi­ness gegen­über und ist deren Ein­flüs­sen bis ins Pri­vat­le­ben hin­ein schutz­los ausgeliefert.

Die­se Ohn­macht des ein­zel­nen ist Ergeb­nis des Nie­der­gangs eines gesell­schaft­li­chen Bereichs zwi­schen Indi­vi­du­um und Staat. Bis in die frü­he Moder­ne hin­ein war der Mensch ein­ge­bun­den in ein Geflecht viel­fäl­ti­ger Gemein­schaf­ten wie Pfar­rei­en, Zünf­te, Gil­den, Genos­sen­schaf­ten, Gesel­len- und Arbei­ter­ver­ei­ne, geist­li­che Bewe­gun­gen, Bru­der­schaf­ten und ande­res. In die­sen wur­de das gesell­schaft­li­che Leben orga­ni­siert. Dane­ben besa­ßen »Gemein­den mit gewähl­ten Selbst­ver­wal­tungs­or­ga­nen und weit­ge­hen­der Selb­stän­dig­keit in der Wah­rung von Frie­den und Recht und der Rege­lung ihrer inne­ren Ange­le­gen­hei­ten, etwa sol­chen wirt­schaft­li­cher Natur«, eine hohe Bedeu­tung (so der His­to­ri­ker Wolf­gang Reinhard).

Die­se sub­si­diä­re Auf­tei­lung von Ver­ant­wor­tung und Ent­schei­dungs­ge­walt erzeug­te, so der His­to­ri­ker Micha­el Mit­ter­au­er, »eine viel­fach in sich gestaf­fel­te Herr­schafts­ord­nung, in der es viel­fäl­ti­ge Mediat­ge­wal­ten gab«, die bei Aris­to­te­les und Tho­mas von Aquin in dem ver­ein­fach­ten Sche­ma homo, domus, vicus, civi­tas, provincia/regnum geord­net wur­den. Die obers­te Ebe­ne der welt­li­chen Auto­ri­tät, etwa in Per­son von Kai­ser, König oder Fürst, war im All­tag wenig prä­sent oder rele­vant – im Gegen­satz zu den zahl­rei­chen Zwi­schen­glie­dern, in die der Mensch auf natür­li­che Wei­se ein­ge­wo­ben war. Die vor­mo­der­ne Ord­nung war somit einer­seits ein eng­ma­schi­ges Sicher­heits­netz, das den direk­ten Zugriff der poli­ti­schen Gewalt auf den ein­zel­nen und sein Umfeld verhinderte.

Ande­rer­seits ermög­lich­te ihm dies auch die kon­kre­te Mit­ge­stal­tung sei­ner Lebens­welt. In Gemein­de­ver­samm­lun­gen des Spät­mit­tel­al­ters und der Frü­hen Neu­zeit wur­de zum Bei­spiel über »die Nut­zung der All­men­de, die Zutei­lung von Holz, die Regu­lie­rung der Wei­de­rech­te, die Aus­beu­tung von Sali­nen, die Ver­bes­se­rung infra­struk­tu­rel­ler Maß­nah­men durch den Bau von Brü­cken, den Unter­halt von Wegen, die Ein­rich­tung von Bad­stu­ben und Back­häu­sern, die Regu­lie­rung der Märk­te, die Ver­min­de­rung der Brand­ge­fahr und die Umla­ge der Steu­ern« (­Peter Blick­le) entschieden.

Das bis auf die loka­le Ebe­ne aus­dif­fe­ren­zier­te Kul­tur­le­ben die­ser Gemein­schaf­ten, das sich in eige­nen Trach­ten, Fes­ten, Schutz­pa­tro­nen, Bräu­chen, Archi­tek­tur­sti­len usw. aus­drück­te, stif­te­te dar­über hin­aus Iden­ti­tät und Soli­da­ri­tät. Die sich dar­aus ent­wi­ckeln­den Bin­dun­gen waren »inten­siv und dau­er­haft, weil sie nach dem Vor­bild häus­li­cher, fami­liä­rer, ver­wandt­schaft­li­cher Bezie­hun­gen ent­wi­ckelt wur­den« (Mit­ter­au­er).

Durch die Zen­tra­li­sie­rung von Poli­tik und Wirt­schaft im Zuge von Mer­kan­ti­lis­mus, Abso­lu­tis­mus und Indus­tria­li­sie­rung ver­lo­ren die Zwi­schen­glie­der zuneh­mend an Bedeu­tung, bis die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on ihnen den Todes­stoß ver­setz­te: Im August 1789 wur­den die Stän­de abge­schafft, im März 1791 folg­ten die Zünf­te. Zehn­tau­sen­de fran­zö­si­sche Gemein­den ver­lo­ren bis in Napo­le­ons Herr­schaft hin­ein ihre Eigen­stän­dig­keit und wur­den zu unters­ten Ver­wal­tungs­be­hör­den des neu­en mäch­ti­gen Zen­tral­staa­tes: »Poli­ti­sche Krea­ti­vi­tät und nor­ma­ti­ve Wert­schöp­fung erfol­gen seit­dem nicht mehr aus den Kom­mu­nen, son­dern nur in For­men sehr viel abs­trak­te­rer Reprä­sen­ta­ti­on über die Par­la­men­te.« (Blick­le)

Der Rest Euro­pas zog im Lau­fe der dar­auf­fol­gen­den Jahr­zehn­te nach. Es muß betont wer­den, daß im Gegen­satz dazu etwa die Ein­füh­rung der Gewer­be­frei­heit im Zuge der Stein-Har­den­berg­schen Refor­men, die poli­ti­sche Reprä­sen­ta­ti­on durch Par­tei­en und die Ver­la­ge­rung des Soli­dar­sys­tems auf den Natio­nal­staat durch die Bis­marck­sche Sozi­al­ge­setz­ge­bung nicht in zer­stö­re­ri­scher Absicht, son­dern aus epo­chen­be­ding­ter Not­wen­dig­keit gescha­hen. Im Rück­blick jedoch tru­gen die­se und ande­re zen­tra­li­sie­ren­de und mono­po­li­sie­ren­de Maß­nah­men zu einer – frei­lich nicht line­ar ver­lau­fen­den – Ent­wick­lung bei, in der das Klei­ne, Loka­le und Kon­kre­te zuguns­ten des Gro­ßen, Glo­ba­len und Abs­trak­ten geschwächt wurde.

Den vor­läu­fi­gen Höhe­punkt kann man heu­te in der Auf­lö­sung der Fami­lie, im Aus­ster­ben von Kir­chen, Gemein­den, Ver­ei­nen und im Ruin oder der feind­li­chen Über­nah­me klei­ner und mitt­le­rer Unter­neh­men durch glo­bal agie­ren­de Kon­zer­ne beob­ach­ten. Das Zwi­schen­fa­zit zog bereits Papst Pius XI. in Quad­ra­ge­si­mo anno (1931): »In Aus­wir­kung des indi­vi­dua­lis­ti­schen Geis­tes ist es so weit gekom­men, daß das einst blü­hend und reich­ge­glie­dert in einer Fül­le ver­schie­den­ar­ti­ger Ver­ge­mein­schaf­tun­gen ent­fal­te­te mensch­li­che Gesell­schafs­le­ben der­art zer­schla­gen und nahe­zu ertö­tet wur­de, bis schließ­lich fast nur noch die Ein­zel­men­schen und der Staat übrig­blie­ben« – wobei letz­te­rer, wie gesagt, seit dem aus­ge­hen­den 20. Jahr­hun­dert einen Groß­teil sei­ner Macht an grö­ße­re Akteu­re abge­ge­ben hat, was die Distanz zwi­schen bei­den Polen noch erwei­tert hat. Natür­li­cher und gewach­se­ner Gemein­schaf­ten beraubt und ent­ge­gen sei­nem sozia­len Wesen bleibt der Mensch ato­mi­siert zurück. Er geht in einer Mas­se ver­lo­ren, die durch staat­li­che Repres­sio­nen, media­le Mani­pu­la­tio­nen und schein­bar all­zeit ver­füg­ba­re Konsum­angebote leicht kon­trol­lier­bar ist.

Die Kon­se­quen­zen die­ser Ent­wick­lung ver­deut­li­chen »die Not­wen­dig­keit einer Wie­der­her­stel­lung der ver­mit­teln­den Kör­per­schaf­ten« (Alain de Benoist) als gro­ße poli­ti­sche Auf­ga­be unse­rer Zeit. Dafür müs­sen zunächst die Men­schen in der eige­nen Umge­bung aus der Iso­la­ti­on geholt wer­den. Der ers­te Schritt in die­se Rich­tung wur­de bereits getan, als beson­ders im Zuge der Coro­na-Kri­se Akti­vis­mus und Pro­test­be­we­gun­gen dezen­tra­li­siert wur­den und dadurch trotz nega­ti­ver Bericht­erstat­tung neue Mit­strei­ter und Unter­stüt­zer vor Ort gewon­nen wer­den konn­ten. In den Pha­sen zwi­schen den in der Zahl zuneh­men­den Aus­nah­me­zu­stän­den kann schließ­lich ein gewis­ser loka­ler Orga­ni­sa­ti­ons­grad erreicht wer­den, um die wei­te­re Zer­split­te­rung der Kräf­te zu verhindern.

Doch bei der Ver­net­zung darf nicht halt­ge­macht wer­den. Es muß kon­struk­tiv an etwas gear­bei­tet wer­den – im kom­mu­nal­po­li­ti­schen, gegen­kul­tu­rel­len, wirt­schaft­li­chen, kari­ta­ti­ven und reli­giö­sen Bereich. Ob dafür die Rest­be­stän­de berufs­stän­di­scher Kör­per­schaf­ten, Bür­ger­dia­lo­ge, Bür­ger­rä­te oder Regio­nal­be­we­gun­gen genutzt und aus ihrer poli­ti­schen Bedeu­tungs­lo­sig­keit geholt wer­den kön­nen, muß im Ein­zel­fall aus­pro­biert wer­den. Auch unschein­ba­re Ansät­ze wie Hand­wer­ker­rin­ge, Gemein­schafts­gär­ten, Nach­bar­schafts­hil­fen, Schlacht- oder Back­häu­ser besit­zen Poten­ti­al, wenn sie wie­der­be­lebt und in das loka­le Leben ein­ge­bun­den werden.

Grund­sätz­lich ist der Auf­bau von Zwi­schen­glie­dern in ver­schie­de­nen Leit­stra­te­gien mög­lich. Es las­sen sich dadurch sowohl kurz­fris­tig auf­ge­zwun­ge­ne Maß­nah­men abweh­ren als auch lang­fris­tig eige­ne posi­ti­ve Akzen­te set­zen. Die Fern­zie­le kön­nen dabei in meh­re­re Zwi­schen­zie­le unter­teilt wer­den, wodurch die jewei­li­gen Mit­tel kon­kre­ter und die Erfol­ge sicht­ba­rer wer­den. Wenn so die Wir­kung des eige­nen Enga­ge­ments deut­li­cher wird, soll­ten auch Moti­va­ti­on und Mobi­li­sie­rungs­po­ten­ti­al stei­gen. Dabei ist man nicht nur auf den länd­li­chen Raum beschränkt, son­dern kann auch in Stadt­vier­teln begin­nen, wo die Lin­ke des eng­lisch­spra­chi­gen Raums seit lan­gem com­mu­ni­ty buil­ding theo­re­tisch erforscht und prak­tisch erprobt.

Damit soll nicht der nai­ven Vor­stel­lung einer Schwarm­in­tel­li­genz das Wort gere­det oder gar eine prin­zi­pi­el­le Staats­ver­ach­tung beför­dert wer­den. Im Gegen­teil wird der Staat durch den föde­ra­len und hier­ar­chi­schen Auf­bau der Zwi­schen­glie­der im Sin­ne des Natur­rechts wie­der­her­ge­stellt. Denn »je bes­ser durch stren­ge Beob­ach­tung des Prin­zips der Sub­si­dia­ri­tät die Stu­fen­ord­nung der ver­schie­de­nen Ver­ge­sell­schaf­tun­gen inne­ge­hal­ten wird, um so stär­ker ste­hen gesell­schaft­li­che Auto­ri­tät und gesell­schaft­li­che Wirk­kraft da, um so bes­ser und glück­li­cher ist es auch um den Staat bestellt« (Pius XI.). Nicht zuletzt stellt man sich damit in eine bedeut­sa­me his­to­ri­sche Kon­ti­nui­tät, da die­ses »Flecht­werk aus rezi­pro­ken orga­ni­schen Bünd­nis­sen« auch »die tra­di­tio­nel­le orga­ni­sa­to­ri­sche Struk­tur des Rei­ches« (Benoist) bildete.

 

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