Thomas Wagner: Fahnenflucht in die Freiheit

Mit diesem ideengeschichtlichen Werk kehrt der Soziologe Thomas Wagner (*1967) zu seinen publizistischen Wurzeln zurück.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Denn nach essay­is­ti­schen Umwe­gen über Digi­ta­li­sie­rung (Das Netz in unse­re Hand; Robo­kra­tie), »Neue Rech­te« (Die Angst­ma­cher) und Micha­el ­Küh­nen (Der Dich­ter und der Neo­na­zi) wid­met sich ­Wag­ner wie­der sei­nen Lei­den­schafts­the­men: Anar­chie, Staats­über­win­dung, Herr­schafts­kri­tik, Ver­ge­mein­schaf­tung von unten.

Als »Fah­nen­flucht in die Frei­heit« bezeich­net der luzi­de schrei­ben­de Autor dabei einen Vor­gang, der dar­in bestehe, daß »Deser­teu­re des Staa­tes« ihre Heim­statt ver­las­sen, »um an ihren Zufluchts­or­ten neue Gemein­we­sen zu grün­den«. Wag­ner bewun­dert die Exi­lan­ten aller Zei­ten, begin­nend mit dem Aus­zug der Israe­li­ten aus der Knecht­schaft des ägyp­ti­schen Pharaos.

Als zen­tra­les Phä­no­men, gera­de­zu als »Wider­stands­form«, benennt er die »Flucht vor repres­si­ver Herr­schaft«. Doch obschon die auch je ein­zeln les­ba­ren Skiz­zen zur Glo­bal­ge­schich­te der Demo­kra­tie his­to­ri­sches und ideen­po­li­ti­sches Detail­wis­sen ver­mit­teln und auf kei­ner Sei­te lang­wei­len, wach­sen mit fort­wäh­ren­der Lek­tü­re die Zwei­fel, ob aus­ge­rech­net Wag­ners Kern­the­se A, wonach his­to­ri­sche Flucht­be­we­gun­gen die Ent­fal­tung demo­kra­ti­scher Ideen im glo­ba­len Maß­stab begüns­tigt haben, mit Wag­ners Kern­the­se B, wonach die Flucht­be­we­gun­gen durch inner­li­che Abkehr von jed­we­der Staats­form moti­viert wur­den, harmoniert.

Bei sei­nen his­to­ri­schen Streif­zü­gen durch die Welt von Staats­flüch­ti­gen aller Zei­ten und Erden­tei­le – von Aus­stei­gern der Früh­ge­schich­te über India­ner­stäm­me bis hin zur iden­ti­tär-revo­lu­tio­nä­ren Bewe­gung der Zapa­tis­ten im 20. Jahr­hun­dert – ver­nach­läs­sigt der Autor bis­wei­len den Umstand, daß die neue Lebens­rea­li­tät vor allem des­halb auch im jewei­li­gen Exil von oft­mals star­kem Zusam­men­halt und fla­chen Hier­ar­chien geprägt war, weil man eben als tem­po­rä­re Not- und Gegen­ge­mein­schaft zusam­men­le­ben muß­te. Gewiß war man die Aus­nah­me von der Norm. Doch für die fah­nen­flüch­ti­ge Aus­nah­me bedarf es über­haupt die­ser all­ge­mein gesetz­ten Norm – in die­sem Fall der staat­li­chen Ver­faßt­heit von Gemein­we­sen bzw. der hier­ar­chi­schen Ein­bet­tung in ein gro­ßes Ganzes.

Auch Wag­ners Insi­nu­ie­ren, daß der Weg zur staat­li­chen Orga­ni­sa­ti­on mensch­li­chen Lebens sozia­le Ungleich­hei­ten ver­ur­sach­te, scheint angreif­bar: Denn es ist schwer vor­stell­bar, daß die vor­staat­li­chen Gefü­ge in den Jahr­tau­sen­den vor 3500 v. Chr. (als die ers­ten Stadt­staa­ten ent­stan­den) ohne Macht­ver­hält­nis­se und sozia­le Ungleich­hei­ten exis­tier­ten. Igno­riert wird bei der fun­da­men­ta­len Staats­ne­ga­ti­on über­dies die Erkennt­nis, daß die Insti­tu­ti­on Staat – trotz his­to­ri­scher Gegen­bei­spie­le und bekann­ter Exzes­se – in sum­ma die Chan­ce für den ein­zel­nen Bür­ger hob, durch ver­bind­li­che Rechts­sys­te­me vor feu­da­ler Will­kür­herr­schaft und pri­vat-lau­ni­scher Tyran­nei geschützt zu sein.

Wag­ner idea­li­siert über­dies die »kol­lek­ti­ve Flucht vor dem Staat« inso­fern, als daß er den Flüch­ten­den eine »Neu­grün­dung eines von Herr­schaft befrei­ten Gemein­we­sens« als pri­mä­res Motiv zuschreibt. Wie­viel idea­lis­ti­sche Pro­jek­ti­on schwingt hier bei dem an Mar­tin Buber und Gus­tav ­Land­au­er geschul­ten Kul­tur­anar­chis­ten mit? Es ist anzu­neh­men, daß der ent­spre­chen­de Anteil gewal­tig ist. Denn die Geschich­te der Mensch­heit legt viel­mehr nahe, daß dort, wo staat­li­che Struk­tu­ren abwe­send sind und ein Macht­va­ku­um ent­ste­hen kann, ande­re Akteu­re (War­lords und ­Rackets, Clans und Ban­den usf.) die kon­kre­te Hege­mo­nie­aus­übung und situa­ti­ve Befehls­ge­walt übernehmen.

Jeden­falls ist dies rea­lis­ti­scher, als daß Herr­schafts­frei­heit und kon­sens­ori­en­tier­te Har­mo­nie das Leben von staats­be­frei­ten Men­schen prä­gen. Der Dra­ma­ti­ker Peter Hacks brach­te es in sei­nem Essay Ascher gegen Jahn (1991) auf den Punkt, als er den »Irr­tum der Staats­ängst­li­chen« – und damit auch von ihren klu­gen Ver­tre­tern wie Tho­mas Wag­ner – »in der Annah­me« erblick­te, daß dort, »wo der Staat nicht ist, Frei­heit sein müs­se. In Wirk­lich­keit sind dort die Böcke, die dort die Gärt­ner sind«.

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Tho­mas Wag­ner: Fah­nen­flucht in die Frei­heit. Wie der Staat sich sei­ne Fein­de schuf: Skiz­zen zur Glo­bal­ge­schich­te der Demo­kra­tie, Ber­lin: Matthes&Seitz 2022. 272 S., 25 €

 

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Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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