Seine Überlegungen und Thesen basieren auf gründlicher Bibellektüre, die er – das legt der Text nahe – als Gläubiger absolvierte. Jochum geht vom »anfänglichen Garten« aus, dem paradiesischen, der keine Wildnis und keine Stadt ist, sondern eine Art spendender Park, in dem in der Nähe Gottes gelustwandelt werden darf und aus dem beschenkt man keinen Tropfen Schweißes zu vergießen hat.
Von hier aus läßt Jochum den Menschen einen Kreis vom Acker in die Stadt, vom Verwurzelten über die Grenze hinaus aufs Meer und in die Luft, von der Mauer ins Vorland, ins Kulturland und zuletzt durch den Garten Gethsemane ins »Land in mir« abschreiten.
Wann ist man behaust? Wie bleibt man es, wenn sich die Dinge ändern und wenn das Land, auf dem man steht, auch von anderen beansprucht wird? Jochum verhandelt die Frage nach dem Eigenen und dem Fremden auf grundsätzliche und vermittelnde, vor allem aber auf sanfte Art. Sein Stil erinnert an den Friedrich Georg Jüngers und Carl Schmitts, aber unterscheidet sich dadurch, daß er keine kalten Sätze enthält oder Merksätze stanzt; vielmehr ist alles didaktisch, durchaus bestimmt, dabei aber behutsam und nie hermetisch oder elitär.
Der Essay schickt sich ins Unvermeidliche des Wandels. Ein Beispiel: Wo es um die Mauer geht, um die sichernde Abgrenzung eines Kulturlandes von einem weniger gedeihlich entwickelten Vorland, schimmert in einem milden Licht historischer Distanz ganz unaufgeregt die ewige Marmorklippe: Sie wird eines Tages aus der hungrigen Alta Plana heraus von den Scharen des Oberförsters überrannt werden, und kein Wall, kein Bauwerk wird sie schützen können. Denn eine Mauer muß ja immer erst dann errichtet werden, wenn die eigene Macht nicht mehr ausgreifen kann, sondern sich abschotten muß. Die Mauer (jeder Grenzwall) ist also ein Zeichen der Schwäche: Alles Land innerhalb bedarf des Schutzes, und in diesem Bild sind bereits die Szenen der überstiegenen und überrannten Grenzanlagen angelegt.
Weh denen, die nicht einmal mehr eine Grenze schützen oder eine Mauer errichten können, um sich der Landnahme der Fremden zu erwehren? Die sich keinen Respekt mehr verschaffen können? Ja, durchaus. Aber die Lektüre der Landnahme ist auch an diesem Punkt nicht schroff oder ausweglos oder zornig. Jochum wendet die Landnahme auf das »Land in mir« aus und beschreibt die Grenze des Ichs, an der das Fremde gefiltert, einverleibt und anverwandelt werden müsse, damit es fruchtbar und nicht verwässernd oder zersetzend wirke.
So auch im Kollektiv: Gespräch, Austausch, Aufnahme und Ablehnung – je nachdem. Denn es könne dies doch ein Vorgang sein, in dem »über das Ob und Wo der Verwurzelung mit jenen verhandelt werden muß, die über den Wurzelgrund als angestammten Besitz verfügen.«
Jochums Essay ist ein lehrreiches, klärendes Buch der Zurücknahme, der Rückbesinnung auf einen ursprünglichen Garten, den im Ich anzulegen auch dann möglich sei, wenn außen die Wüste wächst. Das sind defensive Gedankengänge, und so ist unsere Lage.
Sollte nun aber diese knappe Rezension nach jenem »kleinen Senfkorn Hoffnung« klingen, das jedem Kirchgänger bis zum Erbrechen angeboten wird, müßten die Worte noch einmal anders gesetzt werden: Wir können das große Welttheater nur schauen, wenn wir uns über die nie endende Dynamik und die Dramatik von Landnahme, Kulturland, Grenzbau, Verwurzelung, Verdrängung, Raub und Wanderung nichts vormachen und unsere Rolle darin verstehen. Jochums Buch rät und hilft uns, die eigene Lage zu bestimmen und die Rolle anzunehmen.
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Uwe Jochum: Landnahme. Ein Essai, Wien: Karolinger 2022. 125 S., 19,90 €
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