Er gibt dem unerhörten Vorfall im Sevilla des 16. Jahrhunderts damit einen ontologischen Status – diese Legende ist mehr als Phantasie, mehr als ein Lehrstück, sie verführt zum Aufheben der Differenz, als wäre Jesus tatsächlich erschienen. Daher ihre Brisanz. Die Legende inspirierte bedeutende Interpretationen und ist im Machtgefüge bis heute virulent.
Lethen durchleuchtet mit Hilfe klassischer Auslegungen die Aporien der Großinquisitor-Szene, das Umschlagen von Gut in Böse und von Böse in Gut. Wir befinden uns auf dem Gelände der Ambivalenz. Die Stärke des Bildes und die Interpretationsoffenheit lassen vielfältige Deutungen und auch Mißbräuche zu. Der Autor läßt sie alle aufmarschieren; zum einen die Lethen-Lesern bekannten Verdächtigen Max Weber, Carl Schmitt, Helmuth Plessner, dann aber auch Überraschungen wie etwa Helena Blavatsky oder Joris-Karl Huysmans. Sie werden auf die typisch assoziative Art aneinandergereiht, gegenübergestellt, miteinander konfrontiert, mit Lethens eigener und stets eigenartiger Logik gedeutet: Da sehen sich hochgradig heterogene Denker überraschend ins Auge.
Andere wären auch möglich gewesen, einige offensichtliche fehlen, etwa Sloterdijks Aufnahme des Großinquisitors in das Kabinett der Großzyniker oder Safranskis Kurzschaltung der Figur mit Hiob. Hiob ist auch bei Lethen »die Sicherheitsnadel, die dieses Buch zusammenhält«.
Tatsache ist, daß das Buch viele Funken schlägt und es dem Leser überläßt, ob daraus ein Schmiedefeuer wird, ob er daraus Aktualisierungen ableiten will. Lethens Lebensthema, das große Faszinosum, das ihm unlösbare Geheimnis, scheint überall durch: die Kälte und die Härte. Habituell ein sanfter Kopf, überrascht ihn auch im hohen Alter noch der Konflikt zwischen Schärfe des Denkens und Kälte der Konklusion, Amoralität des reflexiven Verstandes. Lethen ist zwar lebenslang von Kälte und Härte fasziniert – aber er findet in sich selbst wenig davon. Ob Kojève, Merleau-Ponty, Benn oder Jünger – er starrt sie entgeistert an, »das Eiserne ist dialogunfähig« und dennoch so wirkmächtig. So entsteht ein anregender Traktat über die Gewalt in der Politik. Kann sie gerechtfertigt sein, wenn sie dem Progressiven dient?
Einst – »1968« – wollte Lethen Teil der Revolte werden, nun dreht diese an der Spirale der Gewalt. Ist die Gewalt das Böse an sich? Oder das Böse, das dem guten Ziel dient? Die Fragen bleiben offen, nicht etwa, weil Lethen keine Meinung dazu hätte, sondern weil er sich zu wenig wichtig nimmt, um sie vor Publikum apodiktisch zu beantworten. Statt dessen vollführt er ein permanentes Kurzschließen von literarischen oder philosophischen Texten mit anderen, ein Umkreisen in vielen Spiralen, interpretiert und kommentiert diese mit eigenen Eingebungen.
Zum Schluß läßt er sich vom Fürsten Myschkin, dem »Idioten«, retten, der »schuldlos aus dem Horizont des Glaubens an einen Gesetzes-Gott herausfällt […]. Diesen Helden« – das sind die Schlußworte – »muß man lieben.« So entpuppt sich dieser originelle Ritt durch die Zeiten und Kulturen als eine Apologie der Schwäche. Es ist ein Meisterwerk des »pensiero debole«, des schwachen Denkens. Ein solches Werk im hohen Alter zu schreiben bringt das Risiko mit sich, daß es als Testament gelesen werden könnte. Vielleicht darf man sich Helmut Lethen bei diesem Gedanken glücklich lächelnd vorstellen.
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Helmut Lethen: Der Sommer des Großinquisitors. Über die Faszination des Bösen, Berlin: Rowohlt Berlin 2022. 238 S., 24 €
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