Helmut Lethen: Der Sommer des Großinquisitors

von Jörg Seidel --

Legende oder Parabel? Helmut Lethen beharrt entgegen der literaturwissenschaftlichen Grundmeinung auf dem Begriff der Legende, wenn es um den Großinquisitor aus Dostojewskis Die Brüder Karamasow geht.

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Er gibt dem uner­hör­ten Vor­fall im Sevil­la des 16. Jahr­hun­derts damit einen onto­lo­gi­schen Sta­tus – die­se Legen­de ist mehr als Phan­ta­sie, mehr als ein Lehr­stück, sie ver­führt zum Auf­he­ben der Dif­fe­renz, als wäre Jesus tat­säch­lich erschie­nen. Daher ihre Bri­sanz. Die Legen­de inspi­rier­te bedeu­ten­de Inter­pre­ta­tio­nen und ist im Macht­ge­fü­ge bis heu­te virulent.

Lethen durch­leuch­tet mit Hil­fe klas­si­scher Aus­le­gun­gen die Apo­rien der Groß­in­qui­si­tor-Sze­ne, das Umschla­gen von Gut in Böse und von Böse in Gut. Wir befin­den uns auf dem Gelän­de der Ambi­va­lenz. Die Stär­ke des Bil­des und die Inter­pre­ta­ti­ons­of­fen­heit las­sen viel­fäl­ti­ge Deu­tun­gen und auch Miß­bräu­che zu. Der Autor läßt sie alle auf­mar­schie­ren; zum einen die Lethen-Lesern bekann­ten Ver­däch­ti­gen Max Weber, Carl Schmitt, Hel­muth Pless­ner, dann aber auch Über­ra­schun­gen wie etwa Hele­na ­Blava­ts­ky oder Jor­is-Karl Huys­mans. Sie wer­den auf die typisch asso­zia­ti­ve Art anein­an­der­ge­reiht, gegen­über­ge­stellt, mit­ein­an­der kon­fron­tiert, mit Lethens eige­ner und stets eigen­ar­ti­ger Logik gedeu­tet: Da sehen sich hoch­gra­dig hete­ro­ge­ne Den­ker über­ra­schend ins Auge.

Ande­re wären auch mög­lich gewe­sen, eini­ge offen­sicht­li­che feh­len, etwa ­Slo­ter­di­jks Auf­nah­me des Groß­in­qui­si­tors in das Kabi­nett der Groß­zy­ni­ker oder ­Safran­skis Kurz­schal­tung der Figur mit Hiob. Hiob ist auch bei ­Lethen »die Sicher­heits­na­del, die die­ses Buch zusammenhält«.

Tat­sa­che ist, daß das Buch vie­le Fun­ken schlägt und es dem Leser über­läßt, ob dar­aus ein Schmie­de­feu­er wird, ob er dar­aus Aktua­li­sie­run­gen ablei­ten will. ­Lethens Lebens­the­ma, das gro­ße Fas­zi­no­sum, das ihm unlös­ba­re Geheim­nis, scheint über­all durch: die Käl­te und die Här­te. Habi­tu­ell ein sanf­ter Kopf, über­rascht ihn auch im hohen Alter noch der Kon­flikt zwi­schen Schär­fe des Den­kens und Käl­te der Kon­klu­si­on, Amo­ra­li­tät des refle­xi­ven Ver­stan­des. Lethen ist zwar lebens­lang von Käl­te und Här­te fas­zi­niert – aber er fin­det in sich selbst wenig davon. Ob Kojè­ve, Mer­leau-Pon­ty, Benn oder Jün­ger – er starrt sie ent­geis­tert an, »das Eiser­ne ist dia­log­un­fä­hig« und den­noch so wirk­mäch­tig. So ent­steht ein anre­gen­der Trak­tat über die Gewalt in der Poli­tik. Kann sie gerecht­fer­tigt sein, wenn sie dem Pro­gres­si­ven dient?

Einst – »1968« – woll­te Lethen Teil der Revol­te wer­den, nun dreht die­se an der Spi­ra­le der Gewalt. Ist die Gewalt das Böse an sich? Oder das Böse, das dem guten Ziel dient? Die Fra­gen blei­ben offen, nicht etwa, weil Lethen kei­ne Mei­nung dazu hät­te, son­dern weil er sich zu wenig wich­tig nimmt, um sie vor Publi­kum apo­dik­tisch zu beant­wor­ten. Statt des­sen voll­führt er ein per­ma­nen­tes Kurz­schlie­ßen von lite­ra­ri­schen oder phi­lo­so­phi­schen Tex­ten mit ande­ren, ein Umkrei­sen in vie­len Spi­ra­len, inter­pre­tiert und kom­men­tiert die­se mit eige­nen Eingebungen.

Zum Schluß läßt er sich vom Fürs­ten Mysch­kin, dem »Idio­ten«, ret­ten, der »schuld­los aus dem Hori­zont des Glau­bens an einen Geset­zes-Gott her­aus­fällt […]. Die­sen Hel­den« – das sind die Schluß­wor­te – »muß man lie­ben.« So ent­puppt sich die­ser ori­gi­nel­le Ritt durch die Zei­ten und Kul­tu­ren als eine Apo­lo­gie der Schwä­che. Es ist ein Meis­ter­werk des »pen­sie­ro debo­le«, des schwa­chen Den­kens. Ein sol­ches Werk im hohen Alter zu schrei­ben bringt das Risi­ko mit sich, daß es als Tes­ta­ment gele­sen wer­den könn­te. Viel­leicht darf man sich Hel­mut Lethen bei die­sem Gedan­ken glück­lich lächelnd vorstellen.

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Hel­mut Lethen: Der Som­mer des Groß­in­qui­si­tors. Über die Fas­zi­na­ti­on des Bösen, Ber­lin: Rowohlt Ber­lin 2022. 238 S., 24 €

 

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