Daraus resultierende Forschungs- und Editionsdefizite werden zuweilen (meist jenseits größerer Aufmerksamkeit) durch engagierte Außenseiter kompensiert. Zu ihnen zählt neuerdings die Edition Finsterberg, der wir die (von Marcus Sommer reizvoll gestaltete) Neuauflage von Hermann Georg Rexroths Der Wermutstrauch verdanken, versehen mit zwei Nachworten zur militärgeschichtlichen (Christian von Ostenheim) und literaturbiographischen Einordnung (Marc Pommerening).
Ihr Verdienst ist groß, weil diese mit dem Copyright 1944 versehenen, im März 1945 gedruckten Aufzeichnungen aus dem Rußlandfeldzug zu Unrecht praktisch völlig vergessen waren. Desgleichen ihr Autor, der 1907 in Frankfurt am Main geboren wurde und 1944 in Italien gefallen ist. Die Hochschätzung eines Kriegsbuchs, verfaßt im Dienst einer Propagandakompanie, mag erstaunen. Doch von Auftragsschreiberei aus Freund-Feind-Warte gegen »Untermenschen« findet sich nichts. Und keine Zeile bestätigt den Verdacht, es werde Propaganda statt Literatur geboten.
Wer sich als heutiger Moralist daran stört, daß Partisanen, die in tarnendem Zivil Deutsche beschossen, unkorrekterweise »Banditen« genannt werden, möge bedenken, daß dies im Kern wohl dem Empfinden von Soldaten aller Zeiten entspricht. Und Regimekompatibles liegt höchstens darin, daß Rexroth einen Zeitraum schildert, in dem letztmals noch Zuversicht begründende, größere deutsche Siege erfochten wurden – während der Sommeroffensive 1942 der Heeresgruppe Süd mit dem Höhepunkt der Eroberung Rostows. Das bot Gelegenheit, auch von Tapferkeit respektive Angstunterdrückung bei todbringenden Kämpfen zu reden, neben Beobachtungen mechanisierter Kälte und einer zunehmenden Neigung zu empathieloser Fremdheit.
Rexroth wahrt die allgemeinmenschliche Perspektive. Das gilt für deutsche Angreifer und Sowjetsoldaten in ihrem erbitterten Widerstand ebenso wie für Gefangenenkolonnen verschiedener Völkerschaften oder im Kriegsgebiet verbliebene Frauen. Bittere Gerüche des Wermutstrauchs als Leitmotiv symbolisieren das epochale Leid in einem heute abermals umkämpften Gebiet, das man bezeichnenderweise »Blutland« genannt hat. Hoffnung entspringt allenfalls aus dem Motto des Buches nach Laotse: »Jenseits des Nennbaren liegt der Anfang der Welt.«
In seiner tendenzlosen Genauigkeit erfaßt der Text Wesentlicheres als das, was sich in literaturpädagogischer Nützlichkeit erschöpft oder man penibel als Kriegs- bzw. (einzig moralisch gebilligte) Antikriegsliteratur schablonisiert. Die im Wechsel von Einzel- und Kollektivbiographischem geschilderte Fülle einer gigantischen gegenläufigen Völkerwanderung aus Angriffsarmee und endlosen Flüchtlingszügen läßt sich hier nur in Stichworten andeuten: Staub, Schweiß, materielle und seelische Stahlpanzerung, Hitze, Ruinen, Verwüstungen und Brände, Stickluft, entzündete Augen und quälender Durst, bleierne Müdigkeit, Kadaver und Verwesungsgestank, barbarische Häuserkämpfe, reibungslose Organisation neben Chaos mit kleineren Insubordinationen.
In Kampfpausen zeigen sich tanzende Frauen, gemustert per unausgesprochener, unausgelebter Erotik. Getötete, verwundete oder verstörte Tiere ergänzen das Panorama: ein verängstigt-anlehnungsbedürftiger Hund, ein verstümmeltes Pferd oder eine nervöse Herde angesichts der Feldschlachterei. Grotesken spielen sich ab wie die (teils lebensgefährliche) Plünderung eines Mehldepots durch hungernde Zivilisten. Und in der absurden Schlußszene sollen ausgerechnet die in eine Massenvernichtung verstrickten Eroberer einen »zivilen« Mordfall unter Einheimischen schlichten.
Pommerenings Würdigung des Autors trägt den Titel: »Ein Träumer an der Ostfront«. Dies verweist auf Rexroths frühe Affinität zu Romantik und Traum, die auch in diesen Aufzeichnungen nicht völlig ausgespart bleibt. Man mag Träumerisches zudem in der wehmütigen Suche nach verborgenem Sinn erkennen oder in der Art, wie ein Magischer Realist Natur und Landschaft als Teil der Handlung deutet. Doch vor allem zeigt dieser Text einen hellwachen, im besten Sinne neugierigen Schriftsteller, der, statt Urteile zu fällen, unablässig beobachtet.
Präzisionsbedürftig ist Pommerenings Eloge auf Prof. Horst Denkler und seinen angeblich singulären Forscherblick, dem auch Der Wermutstrauch nicht entging. Fraglos gehört dieser Germanist zu den Ausnahmen seiner Zunft. Er hat Dutzende nichtkanonisierter Texte tatsächlich gelesen und ihrer gänzlichen Ausgrenzung widerraten. An einer Pionierrolle als Wiederentdecker eines versunkenen Literaturkontinents bzw. dessen effektiver Rehabilitation hinderten ihn aber letztlich doch zeitgemäße Vorbehalte, konkret: Wertungskriterien, die sich an schwer erfüllbaren Subversions- oder keineswegs normgebenden Modernitätsstandards der 1920er orientierten.
Zudem ist Der Wermutstrauch nicht deshalb bedeutend, weil Rexroth bestimmte, um 1920 modische Techniken verwandte, sondern weil hier ein wahres Dichterauge ein monströses Geschehen fixierte. Weil einer schrieb, der keine Weltanschauung bestätigen, sondern unablässig sehen, wissen und tiefer begreifen wollte. Und weil er die Kraft hatte, es in gültige Worte zu fassen.
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H. G. Rexroth: Der Wermutstrauch. Aufzeichnungen aus dem Kriege, Südharz: Edition Finsterberg 2022. 242 S., 24,50 €
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