Ernst Jünger: Strahlungen

Wer liest historisch-kritische Ausgaben von Werken, die vom Autor selbst noch zu Lebzeiten in Fassungen letzter Hand publiziert wurden und damit als gültig gelten dürfen?

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Denn wenn wesent­li­che Ein­grif­fe erfolg­ten, wird der Grund dafür meist in einem edi­to­ri­schen Nach­wort genannt oder in Bio­gra­phien dis­ku­tiert. Sol­che Ein­ord­nun­gen ver­mes­sen den Umfang und den Tie­fen­ge­halt von Strei­chun­gen und Ergän­zun­gen und stel­len impli­zit die Fra­ge nach der Authen­ti­zi­tät: Was ist echt? Stets die ers­te Fas­sung? Auch sie ist schon das Ergeb­nis von Bear­bei­tung, Form­ge­bung, Aus­wahl und Frei­ga­be durch den Autor. Die Fra­ge lau­tet also (und im Fal­le ­Jün­gers sowie­so): Inwie­fern darf ein Autor über­haupt das, was er schrieb, in einem Sin­ne umschrei­ben, den ihm die ver­än­der­te his­to­ri­sche Situa­ti­on und sei­ne Selbst­ver­or­tung nahe­le­gen? Inwie­fern darf er sein Werk nach­for­men, anpas­sen, verändern?

Armin Moh­ler, lang­jäh­ri­ger Sekre­tär ­Jün­gers, äußer­te sich 1960 empört über die Glät­tun­gen, die Jün­ger sei­ner Mei­nung nach an so extrem wirk­mäch­ti­gen Tex­ten wie Der Kampf als inne­res Erleb­nis vor­ge­nom­men hat­te, um sie in eine ers­te Aus­ga­be gesam­mel­ter Wer­ke ein­zu­pas­sen. Bekannt­lich ver­wahr­te sich Jün­ger gegen ­Moh­lers Kri­tik und brach mit ihm. Jener war indes ein inti­mer Ken­ner der Tex­te und hat­te die Wir­kung ihrer Lek­tü­re nicht nur an sich selbst, son­dern im Gespräch mit ande­ren, und ihre Rezep­ti­on und Deu­tung stu­die­ren kön­nen. Kön­ne es erlaubt sein, Tex­ten, die lebens­ver­än­dernd gele­sen wur­den, ihre Wucht zu neh­men und ihnen ihr wie­der­be­las­ten­des Poten­ti­al zu neh­men? Die Ant­wort ist knapp: Natür­lich darf ein Autor das, es ist sein Werk, er ver­fügt über es, nie­mand sonst. Leser haben es hin­zu­neh­men, kön­nen es kom­men­tie­ren, auch empört, und sich abwen­den – viel mehr nicht.

Nun liegt also eine teu­re, drei­bän­di­ge Fas­sun­gen-Aus­ga­be der Tage­bü­cher Jün­gers aus den Kriegs- und Nach­kriegs­jah­ren vor – sie über­nimmt natür­lich den spä­ter gewähl­ten Titel Strah­lun­gen. Die­se Tage­bü­cher set­zen sich aus sechs Tei­len zusam­men: Gär­ten und Stra­ßen (39 / 40), Das Ers­te Pari­ser Tage­buch (41 / 42), Kau­ka­si­sche Auf­zeich­nun­gen (42 / 43) Das Zwei­te Pari­ser Tage­buch (43 / 44), Kirch­hors­ter Blät­ter (44 / 45) sowie Jah­re der Okku­pa­ti­on (45 – 48, spä­ter Die Hüt­te im Wein­berg). Sie erschie­nen in den Jah­ren 1942, 1949 und 1958 – Gär­ten und Stra­ßen also noch im Krieg – und sind (wie oben erwähnt) lite­r­a­ri­sier­te Über­ar­bei­tun­gen der Originaltexte.

Die Her­aus­ge­ber der his­to­risch-kri­ti­schen Aus­ga­be haben alle Schich­ten über­ein­an­der­ge­legt, derer sie hab­haft wer­den konn­ten: die Urschrift eben­so wie drei hand­schrift­li­che Abschrif­ten, die vor der ers­ten Druck­aus­ga­be erfolg­ten, sodann die ein­zel­nen ver­öf­fent­lich­ten Fas­sun­gen. Das ist alles sehr sorg­fäl­tig und benut­zer­freund­lich arran­giert, man kann immer noch flüs­sig lesen, genau­so­gut aber von einer far­bi­gen Strei­chung zur nächs­ten springen.

Liest man noch oder sucht man nach einem Skan­däl­chen, also einer Aus­las­sung oder einer Ergän­zung, die Jün­ger ent­lar­ven könn­te? Wer die Strah­lun­gen kennt (und wer kennt sie nicht, hat sie nicht stu­diert?), wird sprin­gen. Aber die­ses Sprin­gen bringt kei­ne Beu­te ein: Es fin­den sich kei­ne Skan­da­le, und das wuß­te man schon, bevor man sprang. Denn gäbe es sie, wären sie der akri­bi­schen Aus­wer­tung des Werks auch ohne die­se Aus­ga­be nicht ver­bor­gen geblieben.

Was also macht den Reiz aus, in den Schich­tun­gen zu lesen und die Meta­mor­pho­sen des Tex­tes nach­zu­voll­zie­hen? Man kann Jün­ger als den stän­dig kne­ten­den und umar­bei­ten­den Erst- und Oft­le­ser sei­ner eige­nen Tex­te ken­nen­ler­nen. Die Strei­chun­gen, Wort­ver­än­de­run­gen, Umstel­lun­gen, das Rück­gän­gig­ma­chen von zuvor Ver­än­der­tem, das Fei­len an Rhyth­mus, Stil, Wort­fol­ge  – das alles zeigt, daß Jün­ger sich selbst und sein Werk für wesent­lich hielt und sich selbst inter­es­sant war. Die­se Cha­rak­te­ri­sie­rung deckt sich mit den erst jüngst durch den Inter­view-Band Gesprä­che im Welt­staat deut­lich zuta­ge getre­te­nen ich-umkrei­sen­den Zügen Jün­gers: sei­ne dezi­diert an Max Stir­ners Der Ein­zel­ne und sein Eigen­tum geschul­te Hal­tung, daß es dar­um gehe, jede Wir­kung nach außen auf­zu­ge­ben und sich über sich selbst und über die­ses Außen teil­nahms­frei (nicht: teil­nahms­los!) Klar­heit zu ver­schaf­fen. Im Anar­chen bil­de­te Jün­ger spä­ter die­se Gestalt aus.

Noch ein­mal: Wer liest sich durch die­se Fas­sun­gen und Schich­ten? Ger­ma­nis­ten, Jün­ger-Ver­rück­te, Biblio­phi­le, Samm­ler. Wem es aber um die Strah­lun­gen geht, der kann getrost zu einer der preis­güns­ti­gen Fas­sun­gen grei­fen – antiquarisch.

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Ernst Jün­ger: Strah­lun­gen. Die Tage­bü­cher des Zwei­ten Welt­kriegs und der Nach­kriegs­zeit (19391948). His­to­risch-kri­ti­sche Aus­ga­be, hrsg. von Joa­na van de Löcht und ­Hel­muth ­Kie­sel, Stutt­gart: Klett-Cot­ta 2022. 3 Bde., 2388 S., 199 €

 

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Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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