Denn wenn wesentliche Eingriffe erfolgten, wird der Grund dafür meist in einem editorischen Nachwort genannt oder in Biographien diskutiert. Solche Einordnungen vermessen den Umfang und den Tiefengehalt von Streichungen und Ergänzungen und stellen implizit die Frage nach der Authentizität: Was ist echt? Stets die erste Fassung? Auch sie ist schon das Ergebnis von Bearbeitung, Formgebung, Auswahl und Freigabe durch den Autor. Die Frage lautet also (und im Falle Jüngers sowieso): Inwiefern darf ein Autor überhaupt das, was er schrieb, in einem Sinne umschreiben, den ihm die veränderte historische Situation und seine Selbstverortung nahelegen? Inwiefern darf er sein Werk nachformen, anpassen, verändern?
Armin Mohler, langjähriger Sekretär Jüngers, äußerte sich 1960 empört über die Glättungen, die Jünger seiner Meinung nach an so extrem wirkmächtigen Texten wie Der Kampf als inneres Erlebnis vorgenommen hatte, um sie in eine erste Ausgabe gesammelter Werke einzupassen. Bekanntlich verwahrte sich Jünger gegen Mohlers Kritik und brach mit ihm. Jener war indes ein intimer Kenner der Texte und hatte die Wirkung ihrer Lektüre nicht nur an sich selbst, sondern im Gespräch mit anderen, und ihre Rezeption und Deutung studieren können. Könne es erlaubt sein, Texten, die lebensverändernd gelesen wurden, ihre Wucht zu nehmen und ihnen ihr wiederbelastendes Potential zu nehmen? Die Antwort ist knapp: Natürlich darf ein Autor das, es ist sein Werk, er verfügt über es, niemand sonst. Leser haben es hinzunehmen, können es kommentieren, auch empört, und sich abwenden – viel mehr nicht.
Nun liegt also eine teure, dreibändige Fassungen-Ausgabe der Tagebücher Jüngers aus den Kriegs- und Nachkriegsjahren vor – sie übernimmt natürlich den später gewählten Titel Strahlungen. Diese Tagebücher setzen sich aus sechs Teilen zusammen: Gärten und Straßen (39 / 40), Das Erste Pariser Tagebuch (41 / 42), Kaukasische Aufzeichnungen (42 / 43) Das Zweite Pariser Tagebuch (43 / 44), Kirchhorster Blätter (44 / 45) sowie Jahre der Okkupation (45 – 48, später Die Hütte im Weinberg). Sie erschienen in den Jahren 1942, 1949 und 1958 – Gärten und Straßen also noch im Krieg – und sind (wie oben erwähnt) literarisierte Überarbeitungen der Originaltexte.
Die Herausgeber der historisch-kritischen Ausgabe haben alle Schichten übereinandergelegt, derer sie habhaft werden konnten: die Urschrift ebenso wie drei handschriftliche Abschriften, die vor der ersten Druckausgabe erfolgten, sodann die einzelnen veröffentlichten Fassungen. Das ist alles sehr sorgfältig und benutzerfreundlich arrangiert, man kann immer noch flüssig lesen, genausogut aber von einer farbigen Streichung zur nächsten springen.
Liest man noch oder sucht man nach einem Skandälchen, also einer Auslassung oder einer Ergänzung, die Jünger entlarven könnte? Wer die Strahlungen kennt (und wer kennt sie nicht, hat sie nicht studiert?), wird springen. Aber dieses Springen bringt keine Beute ein: Es finden sich keine Skandale, und das wußte man schon, bevor man sprang. Denn gäbe es sie, wären sie der akribischen Auswertung des Werks auch ohne diese Ausgabe nicht verborgen geblieben.
Was also macht den Reiz aus, in den Schichtungen zu lesen und die Metamorphosen des Textes nachzuvollziehen? Man kann Jünger als den ständig knetenden und umarbeitenden Erst- und Oftleser seiner eigenen Texte kennenlernen. Die Streichungen, Wortveränderungen, Umstellungen, das Rückgängigmachen von zuvor Verändertem, das Feilen an Rhythmus, Stil, Wortfolge – das alles zeigt, daß Jünger sich selbst und sein Werk für wesentlich hielt und sich selbst interessant war. Diese Charakterisierung deckt sich mit den erst jüngst durch den Interview-Band Gespräche im Weltstaat deutlich zutage getretenen ich-umkreisenden Zügen Jüngers: seine dezidiert an Max Stirners Der Einzelne und sein Eigentum geschulte Haltung, daß es darum gehe, jede Wirkung nach außen aufzugeben und sich über sich selbst und über dieses Außen teilnahmsfrei (nicht: teilnahmslos!) Klarheit zu verschaffen. Im Anarchen bildete Jünger später diese Gestalt aus.
Noch einmal: Wer liest sich durch diese Fassungen und Schichten? Germanisten, Jünger-Verrückte, Bibliophile, Sammler. Wem es aber um die Strahlungen geht, der kann getrost zu einer der preisgünstigen Fassungen greifen – antiquarisch.
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Ernst Jünger: Strahlungen. Die Tagebücher des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit (1939 – 1948). Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Joana van de Löcht und Helmuth Kiesel, Stuttgart: Klett-Cotta 2022. 3 Bde., 2388 S., 199 €
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