Er unterscheidet die kurzfristigen Konjunkturzyklen, deren Dauer er auf durchschnittlich acht Jahre taxiert, von den langfristigen Geld‑, Kredit- und Schuldenzyklen, die sich über 50 bis 100 Jahre erstrecken. Diese wiederum werden durch den Zyklus des Auf- und Abstiegs der »Reservewährungsreiche« überwölbt, den Dalio für die vergangenen 500 Jahre erforscht.
Er untersucht die Entwicklungsläufe des niederländischen, des britischen und des amerikanischen Imperiums und ihrer Weltleitwährungen Gulden, Pfund und Dollar. Mit Hilfe ausgewählter Indikatoren und Determinanten (von der Wettbewerbsfähigkeit über das Wohlstandsgefälle bis hin zur politischen Polarisierung) bestimmt er, in welchem Zyklusabschnitt sich das US-Imperium befindet, und errechnet die Wahrscheinlichkeiten seiner Ablösung durch ein neues, chinesisches Reservewährungsimperium, das eine Neuordnung der Welt einleitet.
Insofern die Geschichte Dalio zufolge zyklisch verläuft, ähnelt seine Geschichtsauffassung derjenigen Spenglers und seiner Vorläufer. Doch wo die großen Kulturen bei Spengler Lebewesen (Organismen) sind, die einen natürlichen Prozeß des Aufblühens, Reifens und Welkens durchlaufen, spannt Dalio ein gewaltiges Panorama der Verzifferung und Quantifizierung auf. Wo Spengler schicksalhafte Wachstums- und Alterungsprozesse der hohen Kulturen beschreibt, herrschen Dalio zufolge strenge, arithmetisch grundierte Kausalgesetze, vermittels derer »die Welt wie eine Maschine funktioniert«.
Über endlose Datenreihen, die er in seinen Hochleistungsrechner einspeist, konfrontiert er den Leser mit zahllosen Indizes, Tabellen, Gleichungen und Charts. »Alles in allem gelangen mein Computer und ich durch unsere gemeinsame Anstrengung zu dem Schluß […]«, heißt es bezeichnenderweise an einer Stelle. Indem der Autor die Wirklichkeit der Welt in ein System von Zahlen und Daten, Meßgrößen und Funktionen auflöst, stellt sich die Analyse selbst als die Erscheinungsform einer reif gewordenen Zivilisation, ihrer auf die Spitze getriebenen Rechenhaftigkeit und Rationalisierung dar. Dalio schreibt nicht für den geschichtsinteressierten Leser per se, sondern stets für den Investor, der die Abläufe der Vergangenheit kennen soll und muss, um die richtigen Anlageentscheidungen zu treffen und sein Vermögen durch die kleinen und großen Krisen zu navigieren.
Auf der Suche nach den abstrakten, universellen Gesetzen der Geschichte neigt der Autor mitunter zu übermäßiger Simplifizierung, etwa wenn es über den Aufstieg des Nationalsozialismus heißt: »Adolf Hitler, der größte Populist (Faschist), nutzte das Gefühl der nationalen Demütigung, um eine nationalistische Ekstase heraufzubeschwören. Er stellte ein nationalistisches 25-Punkte-Programm auf und warb um Unterstützung dafür. Als Reaktion auf innenpolitische Auseinandersetzungen wurde Hitler 1933 zum Reichskanzler ernannt. Seine nationalsozialistische Partei fand viel Rückhalt bei Industriellen, die die Kommunisten fürchteten. Zwei Monate später errang sie die meisten Stimmen und damit die Mehrheit im Reichstag.«
Insgesamt ändern diese gelegentlichen Verkürzungen nichts an der Stringenz der Argumentation. Manche Kapitel lesen sich geradezu faszinierend, so etwa das zyklische, mentalitätsgeschichtlich unterlegte Verlaufsschema, wonach die Völker zunächst arm sind und sich für arm halten, dann reich werden und sich für arm halten, reich sind und sich für reich halten, arm werden und sich für reich halten, um am Ende wieder arm zu sein und sich für arm zu halten. Wer die dichte Beschreibung dieses Kreislaufs mit den Stadien des Wertewandels in (West-)Deutschland nach 1945 in Beziehung setzt, wird frappiert sein, wie paßgenau sich die einzelnen Abschnitte der bundesrepublikanischen Gesellschaftsgeschichte in das angelegte Schema fügen.
In hohem Maße lesenswert stellen sich auch die detailreichen Erläuterungen dazu dar, wie die Reservewährungsimperien sämtlich von der Hartgeldwährung zur Papiergeldwährung übergingen, um schließlich bei der Fiatgeldwährung zu enden. Der Leser, der sich weder von der Fülle des Datenmaterials verschrecken noch von den gewissen Redundanzen enervieren läßt, wird das Buch mit Gewinn studieren.
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Ray Delio: Weltordnung im Wandel: Vom Aufstieg und Fall von Nationen, München: Finanzbuch 2022. 672 S., 29,90 €
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