War sein 2020 erschienenes Buch mit dem auch als Schlagwort brauchbaren Titel Sprachregime schon augenöffnend für kulturphilosophisch Interessierte, so schließt Ohne Bestand nicht nur auf gleichem Niveau an, sondern liefert eine Hintergrundtheorie dazu.
Vielleicht ist das gar nicht Esders’ Absicht – es gäbe zwei Lesarten: Er will mit dem Begriff des »Bestandes« möglicherweise kaum mehr als einen konservativen Kontrapunkt setzen und keine große Theorie begründen. Denn er nähert sich seinen Gegenständen stets von propagandasprachlichen Funden her (bezeichnend: die AOK-Werbung »Alles bleibt anders«), die er mit Hilfe der Analyse sprachtheoretischer Hintergründe erklärt.
Aber dies ist ihm unmöglich ohne Rekurs auf den linguistic turn in der Folge der Kritischen Theorie und des Poststrukturalismus, denen Esders zwar »maßlose Vernunftkritik« bescheinigt. Aber beispielsweise Adornos, Foucaults oder Baudrillards Diagnosen einer hyperreal gewordenen Eigenlogik und »struktureller Gewalt« der Sprache bleiben für Esders ununterbietbar. Von Linken lernen heißt in diesem Falle, die aktuellen Bausteine des »Sprachregimes« mit deren Werkzeugen zu sezieren – und die Befunde dann wieder konservativ an die Wirklichkeit zurückzubinden.
Konnte Esders vor zwei Jahren noch das Wörterbuch des Gutmenschen in der Migrationskrise, die klimaideologische Phrasenherrschaft und die ubiquitären neuen Normen der »Gendersprache« untersuchen, verlangt die zugespitzte Lage jetzt nach einer Theorie, wieso die Bausteine des Sprachregimes überhaupt miteinander zusammenhängen.
Esders nähert sich dieser Frage über den Begriff des »Bestands«. Der klingt zunächst nach gediegenem Konservatismus, nach Traditionen, die »Bestand haben«, und Gottfried Benns Devise: »Rechne mit deinen Beständen«. Aber: »Sprache ist nicht ein Bestand unter vielen, sondern dessen Inbegriff. Das Sprachdenken schult darin, Bestände als Universalitäten zu denken. Deshalb führt die geistige Bestandsaufnahme zwingend zur Sprache, in der sich einige der hier verfolgten Fäden zusammenführen und verknüpfen lassen.«
In der Sprache tritt nämlich ein Phänomen offen sichtbar zutage, das Esders »Selbstbewahrheitung« nennt. If men consider things real, they are real in their consequences: Wenn Leute Dinge für wirklich halten, sind diese Dinge in ihren Konsequenzen wirklich(keitsstiftend). Sie werden zum »neuen Normal«, egal, ob es sie eigentlich »gibt« oder »nicht gibt«, und sie laufen weiter, weil es sie neuerdings gibt. Insofern ist die Sprache des »Hygieneregimes« beinahe schon übersteuert selbstbewahrheitend.
Esders – dies gilt es außerdem lobend hervorzuheben – nennt den biopolitischen Gesamtkomplex, mit dem die Welt in den letzten Jahren traktiert worden ist, »das Hygieneregime«. Denn spricht man von »in der Pandemie« oder, selbst unter Maßnahmenkritikern weit verbreitet, von »einer Viruserkrankung« oder »vor / nach / wegen / Corona«, begibt man sich in das Narrativ, das eigentlich der letzte Bestand ist, auf den skeptische Zeitgenossen noch zurückgreifen können. »Mit der fortschreitenden Umsetzung der sozialtechnologischen Agenda klären sich die Fronten«, schreibt Esders am Schluß seines Buches: »Der Verteidiger der Bestände lebt, ob er will oder nicht, in Gegnerschaft. Er muß nicht polemisch auftreten, um ins Visier zu geraten. Schon die Verkörperung des Bestands erregt Anstoß, weil sie sich der Totalisierung des posthistorischen, nachgesellschaftlichen transhumanen Unbestands widersetzt. Der gelebte Widerstand kultiviert Enklaven der ›alten Normalität‹.«
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Michael Esders: Ohne Bestand. Angriff auf die Lebenswelt, Lüdinghausen: Edition Sonderwege bei Manuscriptum 2022. 284 S., 24 €
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