Richard David Precht, Harald Welzer: Die vierte Gewalt

von Jörg Seidel --

Richard David Precht (Honorarprofessor für Philosophie und TV-Star) und Harald Welzer (Sozialpsychologe und umtriebiger Publizist) versuchen, einem mysteriösen Phänomen auf die Spur zu kommen und Abhilfe zu schaffen: der Selbstsynchronisierung und Kritikresistenz der Hauptmedien.

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Die­se reagier­ten auf allen Kanä­len fast uni­so­no mit Leug­nung, Ver­riß, Häme und Wut auf die­ses Buch – eine bes­se­re Bestä­ti­gung der The­se konn­ten Wel­zer und Precht kaum liefern.

Daß dem so ist (Behar­rungs­kraft und Deu­tungs­macht der Leit­me­di­en), weiß jeder, der nicht die oppor­tu­ne Mei­nung in punc­to Migra­ti­on, Coro­na oder Ukrai­ne­krieg ver­tritt – um nur die neur­al­gischs­ten Punk­te zu nen­nen. Die Kri­ti­ker (der Anti-Main­strea­mer) aber wol­len wis­sen­schaft­li­che Nach­wei­se, Sta­tis­ti­ken, Stu­di­en. Precht und Wel­zer bie­ten hin­ge­gen viel anek­do­ti­sche Evi­denz und gefühl­te Ein­drü­cke. So machen sie sich in einer wich­ti­gen Sache angreif­bar – die Rele­vanz ihrer Über­le­gun­gen wird davon nicht tan­giert. Die eigent­li­che Schwä­che ihrer Argu­men­ta­ti­on ist bis­her aller­dings noch nicht aus­ge­spro­chen worden.

Es sind vor allem fol­gen­de Miß­stän­de, die das Duo ursäch­lich aus­macht: Die zu gro­ße Nähe der Pres­se zur Poli­tik, deren »Selbst­ge­sprä­che«; die Neu­heit der Phä­no­me­ne, die zu Unsi­cher­hei­ten führt und also zum Drang nach Sicher­heit im Wind­schat­ten der Kol­le­gen; den abrup­ten Ein­fall der klick­ge­trie­be­nen »Direkt­me­di­en« (Twit­ter etc.) ins Geschäft, was einer­seits Kon­kur­renz, ande­rer­seits eige­ne Logik, Dyna­mik und Beloh­nungs­sys­tem (Klick­zahl) mit sich bringt; und die dadurch ver­stärk­te Schnel­lig­keit der Nach­rich­ten­pro­zes­se, was zwangs­läu­fig zur Sen­kung des Qua­li­täts­stan­dards (Sen­sa­tio­na­lis­mus, Per­so­na­li­sie­run­gen, Nega­ti­vi­sie­rung etc.) füh­ren muß.

Man merkt dem Buch eine gewis­se Hek­tik bei der Ent­ste­hung an. Ers­te feh­ler­haf­te Details muß­ten bereits ein­ge­stan­den wer­den, den­noch ist am Grund­le­gen­den der Kri­tik kaum etwas aus­zu­set­zen. Zu offen­sicht­lich sind die Mise­ren. Vie­les davon ist längst bekannt: Precht und Wel­zer wer­fen aber nun das Gewicht ihrer Namen in die Are­na. Die Pres­se schrei­be – oft im mora­li­sie­ren­den und pater­na­lis­ti­schen Ton – gegen die eige­ne Leser­schaft an: All das füh­re zu einem flä­chen­de­cken­den Ver­trau­ens­ver­lust, der die demo­kra­tie­sta­bi­li­sie­ren­de und kri­ti­sche Begleit­funk­ti­on der Medi­en zer­stört. Es ist die­se Sor­ge, die die bei­den Autoren umtreibt.

Auch der nor­ma­le Leser und Twit­ter-Nut­zer liest das Buch gewinn­brin­gend, denn es sen­si­bi­li­siert die moder­ne Lese­wei­se, zeigt die fata­len Urteils­au­to­ma­tis­men, in die auch der selbst­kri­ti­sche Leser die­ser Tage all­zu schnell ver­fällt, der meint, sich immer über alles eine Mei­nung leis­ten zu kön­nen, auch bei dün­nem Kennt­nis­stand. Am Ende kon­sta­tie­ren die Autoren eine ver­häng­nis­vol­le Macht, die »Kolo­nia­li­sie­rung«, die »Infi­zie­rung«, das »Het­zen« der Poli­tik durch die Medi­en – und nicht umge­kehrt!. Sie neh­men auch allen Ver­schwö­rungs­an­sät­zen (»Lügen­pres­se«) den Wind aus den Segeln, sie ver­su­chen, die Dyna­mik aus sich selbst her­aus zu ver­ste­hen. Auch die­se Frak­ti­on soll­te das Buch auf­merk­sam lesen!

Der wesent­li­che Grund bleibt den bei­den jedoch indis­ku­ta­bel, ja, sie leh­nen ihn aus­drück­lich ab. Daß Jour­na­lis­ten eine jah­re­lan­ge ideo­lo­gi­sche Schu­lung zu durch­lau­fen haben, die von der Schu­le über die Uni­ver­si­tä­ten bis in die Redak­ti­ons­stu­ben und alle Insti­tu­tio­nen reicht, die ein Kli­ma gene­riert, dem­zu­fol­ge nur der­je­ni­ge im Betrieb eine Kar­rie­re machen kann, der nicht zu weit aus­schert; daß im Voll­zug des 68er-»Kulturbruches« ein fei­nes Netz auf­ge­spannt wur­de, das man nur durch Anpas­sung oder Camou­fla­ge pas­sie­ren kann; daß deut­lich kon­ser­va­ti­ve Posi­tio­nen schon vor Jahr­zehn­ten vehe­ment nie­der­ge­macht wur­den, daß es kaum noch rele­van­te kon­ser­va­ti­ve Stim­men in den Blät­tern gibt und die weni­gen eine Ali­bi­funk­ti­on ein­neh­men; daß neben den intrin­si­schen Wider­sprü­chen (push) die Ideo­lo­gie als mäch­ti­ger Pull-Fak­tor wirkt – all das zählt bei Precht und Wel­zer nicht.

Auch nicht, daß es in ganz Euro­pa zahl­rei­che Unter­su­chun­gen über die mas­si­ve Rot­ver­schie­bung in den Redak­tio­nen gibt. Sie mei­nen, den »anti­zi­pie­ren­den Kon­for­mis­mus« in Poli­tik- und Medi­en­be­trieb mit dem »zu erwar­ten­den Medi­en­echo« erklä­ren zu kön­nen, wohin­ter sich wirt­schaft­li­che Zwän­ge ver­ber­gen. Gera­de der »stum­me Zwang der öko­no­mi­schen Ver­hält­nis­se« kann die Ent­frem­dung von der Leser­schaft nicht erklä­ren, denn es müß­te gera­de umge­kehrt sein: Wenn etwa die Hälf­te der Deut­schen Waf­fen­lie­fe­run­gen an die Ukrai­ne skep­tisch sieht, dann müß­te der Medi­en­markt das wider­spie­geln. Tut es aber nicht.

Die Autoren kön­nen dies nicht sehen, weil sie selbst Pro­duk­te die­ser Maschi­ne sind und lan­ge an ihr par­ti­zi­pier­ten; des­we­gen zei­gen ihre Argu­men­ta­tio­nen auch eine Vor­lie­be für sozi­al­psy­cho­lo­gi­sche (Grup­pen­den­ken), kom­mu­ni­ka­ti­ons­theo­re­ti­sche und mar­xis­ti­sche, öko­no­mis­ti­sche Denk­we­ge. Auch die­se zei­ti­gen Erfol­ge – das Buch ist lesens­wert! –, aber sie lei­den unter imma­nen­ten blin­den Flecken.

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Richard David Precht, Harald Wel­zer: Die vier­te Gewalt. Wie Mehr­heits­mei­nung gemacht wird, auch wenn sie kei­ne ist, Frank­furt a.M.: S. Fischer 2022. 288 S., 22 €

 

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