Die Religion Wagners

pdf der Druckfassung aus Sezession 11 / Oktober 2005

sez_nr_11von Siegfried Gerlich

Aus der deutschen Kulturgeschichte ragt er schillernd heraus. An seinen Namen knüpft sich eine beispiellose Faszination, die kein Ende nehmen will. Niemand vermochte mit seiner Kunst so heftige Leidenschaften zu entfesseln und für oder wider sich einzunehmen wie er. Kein Künstler vor und nach ihm hat jemals so große Heilserwartungen geweckt, keiner wurde aber auch mit so furchtbarem Unheil in Verbindung gebracht. Die Feindschaft gegen ihn regte sich freilich nicht erst angesichts von mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Tode verübten Verbrechen, von denen es heißt, sie seien historisch einzigartig. Und nicht erst in unserer profan verwalteten Welt, in der die Kapitulation von Kultur vor Kulturindustrie unwiderruflich scheint, wirkte ein rastloses Leben wie seines, das sich im permanenten Einsatz für die heilig gehaltene Sache der Kunst verzehrte, seltsam unzeitgemäß. Er selber fürchtete schon auf verlorenem Posten zu stehen und mobilisierte dennoch alle ihm zu Gebote stehenden künstlerischen und denkerischen Reserven, damit nicht buchstäblich sang- und klanglos vergeht, was erst in seinem drohenden Verlust als höchstes Gut erkennbar wird. Hierin lag kein Wahnsinn des Eigendünkels, ging es doch im „Fall Wagner“ nie nur um den Rang eines deutschen Komponisten, sondern immer auch um den selbstbewußten Anspruch oder aber die selbstherrliche Anmaßung der deutschen Kultur insgesamt, für die er in den Augen seiner Freunde wie Feinde repräsentativ einstand wie kein anderer. Und wirklich ist im neunzehnten Jahrhundert niemand emphatischer und exzentrischer für die Weltgeltung der deutschen Hochkultur eingetreten als Richard Wagner, der in ihr Anlagen wahrnahm, die, erschöpfend ausgebildet, eine Wiedergeburt der griechischen Kunstreligion aus dem Geiste der deutschen Musik ermöglichen sollten. Wenn die letzte Utopie seiner Kunstanschauung und Welterfahrung eine „ästhetische Weltordnung“ war, so wurde die „heilige deutsche Kunst“ als deren Vorschein zum rettenden Fluchtpunkt seines ruhelosen Lebens wie zum formbestimmenden und inhaltgebenden Leitmotiv seines Schaffens.

Richard Wag­ner hat mit sei­ner Musik und Ästhe­tik einen Son­der­weg ein­ge­schla­gen. Die Beharr­lich­keit, mit der er die­sen zu Ende zu gehen ver­stand, zeugt nicht nur von sei­nem im bes­ten Sin­ne deut­schen Eigen­sinn, der ihn wider­stän­dig mach­te gegen zeit­geis­ti­ge Fremd­be­stim­mung; sie ver­rät auch einen hei­li­gen Ernst, der einen Kom­po­nis­ten, der immer wie­der klag­te, zum Schrift­stel­ler nicht geschaf­fen zu sein, auch zu einem Kunst- und Kul­tur­phi­lo­so­phen von Rang und am Ende sogar zum Ver­kün­der einer ästhe­ti­schen Reli­gi­on wer­den ließ. Genui­ner Reli­gi­ons­stif­ter aller­dings woll­te er erklär­ter­ma­ßen nicht sein – gegen die Ver­got­tung sei­ner Per­son im spä­te­ren Wag­ner­kult aber konn­te er sich nicht mehr weh­ren. Gewiß lieb­te der Musik­dra­ma­ti­ker die erha­be­ne Frei­heit, mit sei­nen Figu­ren zu spie­len wie die grie­chi­schen Göt­ter mit den Schick­sa­len der Sterb­li­chen. Im Unter­schied jedoch zu der Göt­ter grau­sa­mem Spiel nahm das Werk Wag­ners tie­fen Anteil am Leid der Men­schen, zu des­sen Lin­de­rung die Kunst ein­mal erfun­den wur­de und zu des­sen Hei­lung er sei­ne Kunst­re­li­gi­on befä­higt sah. Nicht weni­gen frei­lich erschien Wag­ners Musik­thea­ter bedroh­lich, denn sei­ne Dra­ma­tur­gie glich mit­un­ter einem Schlach­ten­plan, und das Stahl­ge­wit­ter der Klän­ge, dem er sei­ne Zeit­ge­nos­sen aus­setz­te, schien eine ästhe­ti­sche Apo­ka­lyp­se ein­zu­läu­ten. Gleich­wohl stand selbst die Göt­ter­däm­me­rung mit ihrem heil­lo­sen Unter­gang der Men­schen­welt im Zei­chen einer heil­sa­men Kathar­sis. Wenn die­se sich zunächst auch nur im Welt­in­nen­raum der Musik ereig­nen konn­te, so woll­te deren inwen­dig schlum­mern­de Erlö­sungs­macht zuletzt doch auch die äuße­re Welt durch­drin­gen und im Kar­frei­tags­zau­ber des Par­si­fal noch die uner­lös­te Natur verwandeln.

In sol­chem hybrid oder auch blas­phe­misch anmu­ten­den Pathos lag von Anbe­ginn das Fas­zi­no­sum wie Skan­da­lon von Wag­ners Kunst­re­li­gi­on. Dabei zog Wag­ner nur die letz­ten Kon­se­quen­zen aus in der deut­schen Kul­tur­tra­di­ti­on bereits vor­han­de­nen Ten­den­zen, die mit der Refor­ma­ti­on grund­ge­legt wor­den waren und in Barock, Klas­sik und Roman­tik ihre bedeu­tends­ten Aus­prä­gun­gen fan­den. Die Fra­ge nach dem deut­schen Wesen ver­folg­te ihn zeit­le­bens, und am Ende geriet er in eine „son­der­ba­re Skep­sis“, die ihm die­ses als ein in der Welt­ge­schich­te ganz ein­zig­ar­ti­ges „rei­nes Meta­phy­sikum“ erschei­nen ließ. So war die von Wag­ner bean­spruch­te Deu­tungs­ho­heit des Deut­schen in den letz­ten kul­tur­phi­lo­so­phi­schen und welt­an­schau­li­chen Fra­gen für ihn eine Selbst­ver­ständ­lich­keit ange­sichts der all­sei­ti­gen Durch­drin­gung der grie­chi­schen Anti­ke durch deut­sche Dich­tung und Phi­lo­so­phie, vor allem aber im Blick auf die „in der reins­ten Spra­che aller Völ­ker reden­de deut­sche Musik.“ Weni­ger selbst­ver­ständ­lich, aber um so cha­rak­te­ris­ti­scher für Wag­ners uner­müd­lich for­schen­den phi­lo­so­phi­schen Geist war sein Inter­es­se an der Phi­lo­lo­gie Jacob Grimms, der „deutsch“ ety­mo­lo­gisch von „deu­ten“ und „deut­lich“ her­ge­lei­tet und der­art als Sprach­be­griff auf­ge­faßt hat­te. Wenn die Sache eines nicht volks‑, son­dern sprach­ge­mein­schaft­lich bestimm­ten Deutsch­tums aber das Deu­ten ist, so konn­te die höchs­te Bestim­mung des deut­schen Geis­tes für Wag­ner nur in meta­phy­si­scher Sinn­stif­tung und ästhe­ti­scher Welt­erschlie­ßung beschlos­sen liegen.
Die Refor­ma­ti­on hat­te die Kei­me hier­für gesät, die nicht nur auf reli­giö­sem Gebiet frucht­bar gewor­den sind, such­te die luthe­ri­sche Fröm­mig­keit doch auch in der pro­fa­nen Lebens­welt nach welt­an­schau­li­chem Aus­druck. Indem pro­tes­tan­ti­sche Ener­gien ins­be­son­de­re in den Kul­tur­be­reich ein­dran­gen, nahm die­ser sei­ner­seits reli­giö­se Züge an, so daß die deut­sche Hoch­kul­tur gera­de­zu als ein „säku­la­ri­sier­tes Luther­tum“ (Hel­muth Pless­ner) impo­nie­ren konn­te. Kunst­re­li­giö­se Anschau­un­gen im enge­ren Sin­ne fan­den ihre klas­si­sche Grund­la­ge in der Idee einer „Ästhe­ti­schen Erzie­hung des Men­schen“ und in der Kon­zep­ti­on einer auto­no­men Kunst, wie Kant und Schil­ler sie ent­wi­ckelt hat­ten. In der Kunst einen höchs­ten huma­nen Wert zu sehen, der um sei­ner selbst wil­len zu schät­zen sei, wur­de nicht zufäl­lig im öko­no­misch zurück­ge­blie­be­nen Deutsch­land zum bür­ger­li­chen Bil­dungs­pro­gramm. Daß hier der kapi­ta­lis­ti­schen Kolo­nia­li­sie­rung der Lebens­welt und der Aus­brei­tung des Waren­cha­rak­ters auch auf die geis­ti­ge und künst­le­ri­sche Sphä­re ein grö­ße­rer Wider­stand ent­ge­gen­ge­setzt wur­de als in ande­ren euro­päi­schen Län­dern, hat­te sei­nen Grund aber auch in jenem Ethos, das die als hei­lig ange­se­he­ne Kunst vor der pro­fa­nen Kom­mer­zia­li­sie­rung des Lebens zu schüt­zen auftrug.
Und in die­sem kon­ser­va­ti­ven Auf­trag erkann­te Wag­ner, was wahr­haft deutsch sei: näm­lich „die Sache die man treibt, um ihrer selbst und der Freu­de an ihr wil­len trei­ben; woge­gen das Nütz­lich­keits­we­sen, das heißt das Prin­zip, nach wel­chem eine Sache des außer­halb lie­gen­den per­sön­li­chen Zwe­ckes wegen betrie­ben wird, sich als undeutsch her­aus­stell­te.“ Die hier­in ange­mahn­te „Tugend des Deut­schen“ fiel für Wag­ner kon­se­quent mit dem „höchs­ten Prin­zip der Ästhe­tik zusam­men, nach wel­chem nur das Zweck­lo­se schön ist“. Und die­ses selbst­zweck­haft und sinn­stif­tend auf­ge­faß­te ästhe­ti­sche Prin­zip, um des­sent­wil­len es über­haupt äuße­re Lebens­zwe­cke zu ver­fol­gen loh­ne, such­te Wag­ner wie­der­um mit dem „höchs­ten reli­giö­sen Prin­zip der Kir­che“ in Ein­klang zu brin­gen. Aller­dings erwar­te­te er das Heil nicht mehr von der durch Herr­schaft kor­rum­pier­ten katho­li­schen Kir­che sel­ber, son­dern von einer ihre reli­giö­se Mis­si­on beer­ben­den deut­schen Kunst.

Wag­ners „deut­sche Renais­sance“ muß­te daher auch mehr und ande­res sein als ein welt­from­mer bür­ger­li­cher Kul­tur­pro­tes­tan­tis­mus. Was die reli­giö­se Refor­ma­ti­on ein­ge­lei­tet hat­te, galt es viel­mehr durch eine ästhe­ti­sche Rege­ne­ra­ti­on zu voll­enden, die eine neue Kunst­blü­te auf der Grund­la­ge einer wahr­haf­ten Mora­li­tät her­bei­füh­ren wür­de und inso­fern einen kul­tur­re­vo­lu­tio­nä­ren und zugleich radi­kal christ­li­chen Zug tra­gen muß­te. Immer­hin hat­te Wag­ner den Begriff „Rege­ne­ra­ti­on“ vom latei­ni­schen Aus­druck für das Tauf­was­ser, dem lava­crum rege­ne­ra­tio­nis, her­ge­lei­tet.
Eine so tief­grei­fen­de Rege­ne­ra­ti­ons­leis­tung aber konn­te nicht mehr von in tra­di­tio­nel­lem Sin­ne reli­giö­ser Kunst erbracht wer­den. Die Uto­pie einer Kunst jedoch, die sich ihre reli­giö­se Bestim­mung von Kir­che und Theo­lo­gie nicht mehr vor­ge­ben läßt, son­dern die­se aus sich selbst her­vor­bringt, däm­mer­te bereits in der Früh­ro­man­tik auf. Im Gegen­satz zu Hegel, der im Sin­ne sei­nes Dik­tums vom „Ende der Kunst“ die hohe Zeit der Kunst­re­li­gi­on auf die klas­si­sche Anti­ke ein­ge­grenzt wis­sen woll­te, ziel­te die roman­ti­sche Ret­tung des alten Mythos auf des­sen ästhe­ti­sche Anla­gen, die in einer im Zei­chen eines „Kom­men­den Got­tes“ ste­hen­den „Neu­en Mytho­lo­gie“ zur Ent­fal­tung gelan­gen soll­ten. Bei Schel­ling, der im Chris­ten­tum nur mehr eine his­to­ri­sche Syn­the­se der grie­chi­schen Mytho­lo­gie sah, wur­de die Kunst zur legi­ti­men Erbin der Reli­gi­on inthro­ni­siert, und Scho­pen­hau­er fand ins­be­son­de­re die Musik zur Offen­ba­rung des Abso­lu­ten beru­fen. Aber erst Wag­ner ver­bin­det die lite­ra­ri­sche „Arbeit am Mythos“ in Gestalt des Kunst­my­thos mit des­sen musi­ka­li­scher Auf­he­bung in einer Kunst­re­li­gi­on zu einem kul­tur­re­vo­lu­tio­nä­ren Pro­gramm und bringt so den reli­giö­sen Impuls roman­ti­scher Kunst­my­tho­lo­gie und – phi­lo­so­phie resü­mie­rend zum Aus­trag – nicht ohne zu bedeu­ten, daß es ihm nicht um die Stif­tung einer neu­en Reli­gi­on, son­dern nur um die Ret­tung des wah­ren Kerns der alten zu tun ist. Ent­spre­chend lau­tet Wag­ners kunst­re­li­giö­ses Cre­do, „daß da, wo die Reli­gi­on künst­lich wird, der Kunst es vor­be­hal­ten sei, den Kern der Reli­gi­on zu ret­ten, indem sie die mythi­schen Sym­bo­le, wel­che die ers­te­re im eigent­li­chen Sin­ne als wahr geglaubt wis­sen will, ihrem sinn­bild­li­chen Wer­te nach erfaßt, um durch die idea­le Dar­stel­lung der­sel­ben die in ihnen ver­bor­ge­ne tie­fe Wahr­heit erken­nen zu lassen“.
Sei­ne Wahl, vor­nehm­lich die Musik mit der Ret­tung des reli­giö­sen Erbes zu betrau­en, recht­fer­tigt Wag­ner zunächst im Sin­ne Scho­pen­hau­ers damit, daß die ande­ren Küns­te nur „die Ideen der Welt und ihrer wesent­li­chen Erschei­nun­gen“ zum Gegen­stand hät­ten, wohin­ge­gen die Musik selbst „eine Idee der Welt ist, in wel­cher die­se ihr Wesen unmit­tel­bar dar­stellt“. Mit einer an gnos­ti­sche Emana­ti­ons­leh­ren erin­nern­den Wen­dung cha­rak­te­ri­siert Wag­ner sei­ne eige­nen Musik­dra­men gera­de­zu als „ersicht­lich gewor­de­ne Taten der Musik“, bringt in ihnen doch die Musik als „Idee“ der Welt das Dra­ma als deren „Erschei­nung“ aus sich her­vor. Der meta­phy­si­sche Vor­rang der Musik vor den übri­gen Kunst­for­men liegt für Wag­ner aber vor allem in ihrer Affi­ni­tät zur welt­ver­ach­ten­den Heils­mis­si­on des noch nicht von der welt­li­chen Herr­schafts­ge­schich­te der Kir­che dis­kre­di­tier­ten ursprüng­li­chen Chris­ten­tums begrün­det. Wie in der Ver­fall­s­pe­ri­ode der römi­schen Welt­zi­vi­li­sa­ti­on Chris­tus auf­ge­tre­ten sei, so bre­che aus dem Cha­os der moder­nen Zivi­li­sa­ti­on die Musik her­vor und ver­kün­de wie jener ein Reich, das nicht von die­ser Welt ist.

Die Musik ist somit für Wag­ner „die ein­zi­ge dem christ­li­chen Glau­ben ganz ent­spre­chen­de Kunst“, wobei die­se sich zu den übri­gen Küns­ten ver­hal­te „wie die Reli­gi­on zur Kir­che“, da sie dem inne­ren Wesen, nicht dem äuße­ren Schein der Din­ge ent­stam­me. Wie die Ton­kunst im Zuge ihrer Selbst­be­haup­tung gegen­über den einer „Ästhe­tik des Schö­nen“ ver­pflich­te­ten Kunst­for­men Dich­tung und Male­rei eine „Ästhe­tik des Erha­be­nen“ her­vor­ge­bracht habe, so ver­moch­te sie durch ihre Eman­zi­pa­ti­on von einer in katho­li­schem Ver­fall und pro­tes­tan­ti­scher Ver­welt­li­chung befind­li­chen Kir­che „das edels­te Erbe des christ­li­chen Gedan­kens in sei­ner außer­welt­li­chen neu­ge­stal­ten­den Rein­heit zu erhalten“.
Die­se welt­ab­ge­wand­te Rein­heit zeigt sich im Selbst­ver­ständ­nis ins­be­son­de­re der deut­schen Musik als einer von allen reprä­sen­ta­ti­ven und kom­mer­zi­el­len Zwe­cken befrei­ten Sache, die um ihrer selbst wil­len zu trei­ben sei. Im Ver­zicht auf schö­nen Schein und unver­bind­li­ches Spiel aber ten­diert sie zu einem reli­giö­sen Ernst, in dem sich end­lich eine heil­sa­me Rege­ne­ra­ti­on voll­zie­hen kann. Denn allein im ästhe­ti­schen Aus­nah­me­zu­stand erha­be­ner Ent­rü­ckung ver­mag sich der moder­ne Mensch noch von der Gott­lo­sig­keit sei­ner pro­fa­nen Exis­tenz zu erlö­sen und wie­der zu sei­nem hei­li­gen Wesen zurück­zu­fin­den. Aus­drück­lich stellt sich Wag­ner in die Tra­di­ti­on der deut­schen Mys­tik, wenn er von dem „unnah­bar eige­nen Gott in uns“ spricht, der uns „nach sei­nem Ver­schwin­den zu sei­nem Andenken die Musik zurück­ge­las­sen“ habe. Als „alles kla­gen­de, alles sagen­de, tönen­de See­le der christ­li­chen Reli­gi­on“ aber ist die hei­li­ge deut­sche Musik nicht nur zur mora­li­schen Erbau­ung des Ein­zel­nen, son­dern zur kul­tu­rel­len Rege­ne­ra­ti­on der gesam­ten Mensch­heit beru­fen, deren zivi­li­sa­to­ri­sche Dege­ne­ra­ti­on Wag­ner in der „Ent­gött­li­chung der Men­schen­welt“ fort­schrei­ten sieht.
Sein Büh­nen­weih­fest­spiel Par­si­fal hat Wag­ner als gera­de­zu exem­pla­ri­sches Rege­ne­ra­ti­ons­mys­te­ri­um in Sze­ne gesetzt. Nach dem Zeug­nis Cosi­mas führt die gemein­sa­me Ver­sen­kung in die­ses reli­giö­ses­te Werk Wag­ners stets zu dem Ergeb­nis, „daß der Gral und sei­ne Sage die Sehn­sucht der christ­li­chen See­len aus­spricht, abseits von der Kir­che, ohne Hier­ar­chie, mit dem Erlö­ser zu ver­keh­ren – kei­ne Pro­te­sta­ti­on, aber eine Gegen­schöp­fung“. Wäh­rend in der Unmit­tel­bar­keit des Got­tes­be­zugs das mys­ti­sche Ele­ment von Wag­ners ästhe­ti­schem Chris­ten­tum zum Aus­druck kommt, tritt in dem Gedan­ken der Gegen­schöp­fung eines Rei­ches, das nicht von die­ser Welt ist, des­sen gnos­ti­sche Ten­denz zuta­ge. Dar­aus spricht kein ästhe­ti­zis­ti­sches l’ art pour l’ art, denn der Rück­zug in quie­tis­ti­sche Gno­sis und ent­rü­cken­de Mys­tik steht letzt­lich im Diens­te einer erneu­ten Welt­zu­wen­dung. So erkennt Wag­ner den Unter­schied zwi­schen der katho­li­schen Abend­mahls­fei­er und sei­ner häre­ti­schen Grals­fei­er dar­in, daß hier „das Blut zu Wein wird, dadurch wir also gestärkt der Erde uns zuwen­den dür­fen, wäh­rend die Umwand­lung des Weins in Blut uns von der Erde abzieht“. Mit sei­nem Bezug zur Erde sucht Wag­ner indes­sen kei­ne neu­heid­ni­sche Natur­re­li­gio­si­tät anzu­bah­nen, denn „die Natur ist herz- und fühl­los“ und inso­fern ihrer­seits erlö­sungs­be­dürf­tig; viel­mehr hebt Wag­ner auf eine neu­ch­rist­li­che Kunst­re­li­gio­si­tät ab, die durch die Kla­ge der Musik Herz und Gefühl für das Leid von Mensch und Tier öff­nen soll.

Eine sol­che „Reli­gi­on des Mit­lei­dens“ aber ent­springt im tiefs­ten Grun­de der „Erkennt­nis der Ein­heit alles Leben­den“, wie sie Wag­ner nicht erst in der Phi­lo­so­phie Scho­pen­hau­ers, son­dern bereits im Brah­ma­nis­mus und Bud­dhis­mus aus­ge­spro­chen fin­det. Im Chris­ten­tum dage­gen gelan­gen das „Gefühl der Unse­lig­keit des mensch­li­chen Daseins“ und die „Erkennt­nis der Hin­fäl­lig­keit der Welt“, die jeder „wah­ren Reli­gi­on“ zugrun­de lie­gen, zu ihrem höchs­ten Aus­druck. Mit Wag­ners Ver­klä­rung der ihm zufol­ge wahl­ver­wand­ten indi­schen und christ­li­chen Erlö­sungs­re­li­gio­si­tät aller­dings geht eine Ver­wer­fung der jüdi­schen Geset­zes­re­li­gi­on ein­her. Bekennt­nis­haft behaup­tet Wag­ner, „daß der ursprüng­li­che Gedan­ke des Chris­ten­tums sei­ne Hei­mat in Indi­en hat: die unge­heu­re Schwie­rig­keit, ja Unmög­lich­keit, die­sen rei­nen, durch­aus welt­ver­ach­ten­den und dem Wil­len zum Leben abge­wand­ten Gedan­ken auf den frucht­lo­sen Stamm des Juden­tums zu pfrop­fen, hat ein­zig alle die Wider­sprü­che ver­ur­sacht, die bis heu­te das Chris­ten­tum so trau­rig ent­stellt und fast unkennt­lich gemacht haben. Der eigent­li­che Kern des Juden­tums ist aber jener geist- und herz­lo­se Opti­mis­mus …“ Das hier noch im Geis­te der nach der Ent­de­ckung des Sans­krit wirk­mäch­tig gewor­de­nen „Indo­ma­nie“ auf­ge­faß­te chris­to­lo­gi­sche Kern­pro­blem, daß die christ­li­che Erlö­sungs­idee mit dem jüdi­schen Schöp­fungs­ge­dan­ken unver­ein­bar ist, soll­te dem spä­ten Wag­ner durch Ernest Ren­ans Neu­deu­tung des Chris­ten­tums im Lich­te der mar­cio­ni­ti­schen Gno­sis noch kla­rer auf­ge­hen: Nach­dem der Schöp­fer­gott eine Welt erschaf­fen und für gut befun­den hat, die in Wahr­heit jedoch „grund­schlecht“ ist, kann nur von einem Erlö­ser­gott, der nicht nur nicht eins mit jenem, son­dern gera­de­zu des­sen welt­frem­der Gegen­gott ist, erhofft wer­den, ein von der schuld­haf­ten Welt­ge­schich­te erlö­sen­des Heils­ge­sche­hen zu bewir­ken. Dabei ver­lei­tet Wag­ners anthro­po­lo­gi­sche Ent­zau­be­rung die­ses theo­lo­gi­schen Pro­blems ihn zu kei­ner heid­ni­schen Selbst­ver­got­tung des Men­schen, viel­mehr hat des­sen ästhe­ti­sche Selbst­er­lö­sung sich im Zei­chen einer gnos­tisch radi­ka­li­sier­ten christ­li­chen Mit­leids­re­li­gio­si­tät zu vollziehen.
Von tie­fem Mit­leids­ethos erfüllt ist auch Wag­ners christ­li­che Kul­turut­opie, die er einer bar­ba­ri­schen Zivi­li­sa­ti­on ent­ge­gen­hält, wel­che sich seit Anbe­ginn von „Blut und Lei­chen“ nährt und eine „Welt der Gewalt und des Schre­ckens“ her­vor­ge­bracht habe. Wenn das „Rasen der Raub- und Blut­gier“ aber auch die Krank­heit ist, wel­che die Mensch­heit „in stets zuneh­men­der Dege­ne­ra­ti­on“ erhält, so stellt die­se Ver­falls­ge­schich­te doch zugleich eine „Schu­le des Lei­dens“ dar, wel­che die Men­schen durch die Leh­re des Mit­leids zu einem Wis­sen füh­ren kann, das schließ­lich eine „wahr­haf­te Rege­ne­ra­ti­on des der Kriegs­zi­vi­li­sa­ti­on ver­fal­le­nen Men­schen­ge­schlech­tes“ ein­zu­läu­ten vermöchte.

Nicht zuletzt aber sieht Wag­ner im Chris­ten­tum einen aktu­el­len „Auf­hal­ter“ der neu­en Ras­sen­leh­re Gobi­ne­aus, nach­dem es sei­ner­zeit schon die alten Ras­sen­re­li­gio­nen zu über­win­den ver­moch­te. Wäh­rend Wag­ner den „ein­zi­gen Feh­ler“ der im übri­gen so geschätz­ten brah­ma­ni­schen Reli­gi­on dar­in erblickt, „daß sie eine Ras­sen­re­li­gi­on war“, wel­che der „Befes­ti­gung der Herr­schaft einer bevor­zug­ten Ras­se“ gedient und „eine Auf­leh­nung der Bedrück­ten undenk­lich gemacht“ habe, erkennt er den eigent­li­chen „Fluch“ des auch sonst feind­se­lig abge­schätz­ten Juden­tums in des­sen endo­ga­mer Selbstras­si­fi­zie­rung. Indem Wag­ner, dem jede Bezug­nah­me auf eine bio­lo­gi­sche Erb­mas­se fremd ist, das Juden­tum gleich­wohl als Ras­se kenn­zeich­net, kri­ti­siert er das der Rein­hal­tung des jüdi­schen Blu­tes die­nen­de Ver­bot der Misch­ehe, das nicht nur im natio­nal­re­li­giö­sen Selbst­ver­ständ­nis des tra­di­tio­nel­len und ortho­do­xen Juden­tums wirk­sam war, son­dern noch in der Lebens­form des refor­mier­ten und assi­mi­lier­ten Juden­tums fort­wirk­te. Der ras­si­sche Par­ti­ku­la­ris­mus der Juden aber ver­hin­de­re ihre Eman­zi­pa­ti­on zu einem rein­mensch­li­chen Uni­ver­sa­lis­mus, wie er allein aus deut­schen Anla­gen und christ­li­chem Geist her­aus ent­fal­tet wer­den kön­ne. Kon­se­quent for­dert Wag­ner daher, von einem deut­schen Ras­sen­in­stinkt abzu­se­hen, denn „der ech­te deut­sche Instinkt fragt eben nur nach die­sem Rein-Menschlichen“.
Nach die­ser Maß­ga­be weist Wag­ner, der sich von der ras­si­schen Dege­ne­ra­ti­ons­leh­re Gobi­ne­aus zunächst nicht unbe­ein­druckt gezeigt hat, dann aber um so ent­schie­de­ner des­sen Rege­ne­ra­ti­ons­pos­tu­lat zurück, den „Ras­sen­ver­fall“ durch Endo­ga­mie auf­zu­hal­ten, scheint ihm doch bereits die Insti­tu­ti­on der Ehe als sol­che mit ihrer Unter­ord­nung der Lie­be unter das Eigen­tum Mit­schuld an dem Ver­fall der Mensch­heit zu tra­gen. Dage­gen soll das mys­ti­sche Lie­bes­op­fer Chris­ti für eine ech­te mora­li­sche Rege­ne­ra­ti­on des ras­sisch ver­dor­be­nen Blu­tes der Mensch­heit und ineins damit für die theo­lo­gi­sche Über­win­dung des anthro­po­lo­gi­schen Ras­sen­den­kens sel­ber ein­ste­hen: „Das Blut des Hei­lan­des – wer woll­te fre­velnd fra­gen, ob es der wei­ßen, oder wel­cher Ras­se sonst ange­hör­te? – konn­te nicht für das Inter­es­se einer noch so bevor­zug­ten Ras­se flie­ßen; viel­mehr spen­det es sich dem gan­zen mensch­li­chen Geschlech­te zur edels­ten Rei­ni­gung von allen Fle­cken sei­nes Blu­tes.“ Immer wie­der sprach Wag­ner sich „zu Guns­ten des Christ­li­chen gegen­über dem Ras­sen­ge­dan­ken“ aus, um dem Vor­drin­gen des pro­gres­si­ven fran­zö­si­schen Ras­sis­mus durch ein kon­ser­va­ti­ves deut­sches Chris­ten­tum Ein­halt zu gebie­ten. In sei­nen letz­ten Lebens­jah­ren aller­dings konn­te er bei­na­he nur noch im christ­li­chen und kaum mehr im deut­schen Geist eine wür­di­ge Stell­ver­tre­tung des Rein­mensch­li­chen erken­nen: „Bei den Deut­schen ist alles im Ersterben, eine trau­ri­ge Ein­sicht für mich, der ich an die noch vor­han­de­nen Kei­me mich wen­de. Eines ist aber sicher, die Ras­sen haben aus­ge­spielt, nun kann nur noch das Blut Chris­ti wirken.“
Im Drit­ten Reich indes­sen wur­de das anti­ras­sis­ti­sche Boll­werk von Wag­ners deut­schem Chris­ten­tum zer­schla­gen, und nach des­sen Unter­gang fand sich sei­ne Kunst­re­li­gi­on zudem der Ankla­ge aus­ge­setzt, für die Selbst­in­sze­nie­rung des Natio­nal­so­zia­lis­mus als poli­ti­scher Reli­gi­on einen Reso­nanz­bo­den geschaf­fen zu haben. Wag­ner sel­ber frei­lich hät­te sich zu sol­cher Usur­pa­ti­on des allein ästhe­tisch ein­lös­ba­ren reli­giö­sen Heils­ver­spre­chens durch poli­ti­sche Herr­schafts­an­ma­ßun­gen wider­stän­dig quer­ge­stellt – such­te er sei­nen ästhe­ti­schen Aus­nah­me­zu­stand musi­scher Ent­rü­ckung doch einem aura­ti­schen Wun­der gleich zu insze­nie­ren, um des­sen hei­li­gen Bezirk vor einem pro­fa­nen poli­ti­schen Ernst­fall zu schüt­zen. So ver­hielt sich Wag­ners Musik soli­da­risch mit Reli­gi­on im Augen­blick ihres Stur­zes. Aus der deut­schen Geschich­te aber läßt sich anschei­nend nur ler­nen, daß sie, wie die grie­chi­sche Tra­gö­die, stets die schlimmst­mög­li­che Wen­dung nimmt gera­de durch das, was die Kata­stro­phe auf­zu­hal­ten verspricht.

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