Kuczynski – antagonistischen Widersprüche

von Jörg Seidel - „Genau wie Marx und Engels vorausgesehen, geht die kapitalistische Gesellschaft bei steigernder Produktivität ihrem Untergang entgegen - ...

… ganz gleich, wie lan­ge sich der Weg hin­zieht.“ So hat es Jür­gen Kuc­zyn­ski einst ausgedrückt.

Nun las ich aus Nost­al­gie sein Buch Pro­ble­me der Selbst­kri­tik – da wur­den Erin­ne­run­gen geweckt, Erin­ne­run­gen an eine Lebens­pha­se, die heu­te nahe­zu unwirk­lich erscheint. Ver­mut­lich wer­den die west­deut­schen Leser rat­los über den fol­gen­den Zei­len sit­zen, wäh­rend man­cher Ost­deut­scher mich viel­leicht beglei­tet bei die­sem Abste­cher in eine – ja, absur­de Zeit.

Das Buch erschien 1991. Mehr­fach betont Kuc­zyn­ski, jähr­lich 60 bis 80 Vor­trä­ge gehal­ten zu haben. Einer davon, es muß um das Jahr 89/90 gewe­sen sein, fand an unse­rer Hoch­schu­le statt.

Der Saal war geram­melt voll und schon nach weni­gen Minu­ten begann man zu schwit­zen. Kuc­zyn­ski, ein Mann, dem man sei­ne 85 Jah­re nicht ansah – er wirk­te wie 110 –, saß im fei­nen Anzug und Wes­te und gut gebun­de­ner Kra­wat­te auf dem Podi­um. Trotz sei­ner pro­le­ta­ri­schen Leh­re kehr­te er stets den bür­ger­li­chen Gelehr­ten her­aus – ich glau­be, er imi­tier­te Max Weber, den ein­zi­gen west­li­chen Öko­no­men, den er gel­ten ließ. Nur sei­ne fast über das Gesicht hän­gen­den Augen­fal­ten, die ihm ein chur­chil­les­kes Aus­se­hen ver­lie­hen, lie­ßen ihn wie einen Clo­chard in fei­nem Zwirn wirken.

Er galt als Kory­phäe und als Aus­nah­me und das in vie­ler­lei Hin­sicht. Sein Werk war enorm. Allein 40 Bän­de umfaß­te die „Geschich­te der Lage der Arbei­ter unter dem Kapi­ta­lis­mus“ und noch ein­mal zehn die „Stu­di­en zur Geschich­te der Gesell­schafts­wis­sen­schaf­ten“ und so ging es wei­ter. Als nach der Wen­de die Biblio­the­ken aus­ge­kehrt wur­den, ergat­ter­te ich u.a. einen Groß­teil der 40 Bän­de und ver­kauf­te sie vor 15 Jah­ren bei Ebay.

(Mein größ­ter Fang war übri­gens die MEGA, die Marx-Engels-Gesamt­aus­ga­be in damals 80 Dop­pel-Bän­den. alle mit Biblio­theks­auf­kle­ber. Ich fisch­te sie aus dem Con­tai­ner, muß­te eilig meh­re­re Tra­bi-Fahr­ten orga­ni­sie­ren, ein extra Regal anschaf­fen, heg­te und pfleg­te, strei­chel­te sie mit den Augen und habe sie doch vor drei Jah­ren für 2500 Euro schwe­ren Her­zens ver­kauft. Ich bin nie rich­tig warm mit ihr gewor­den, die zahl­lo­sen Anmer­kun­gen ver­gäll­ten das Lesen und die MEW waren mir viel vertrauter.)

Zurück zu Kuc­zyn­ski. Er war ein Rie­se, auch in der Zeit. Mehr­fach hat­te er Sta­lin leib­haf­tig gegen­über geses­sen, war mit vie­len kom­mu­nis­ti­schen Legen­den bekannt und sein Vater, wie er erzähl­te, kann­te sogar Lenin noch per­sön­lich. Hier war also einer, der von einem abstamm­te, der den Hei­land noch berührt hat­te … Und natür­lich las er Lenin auf Rus­sisch. Über­all im Lan­de, vor allem in Sach­sen, sag­te man Lehni­en, aber Kuc­zyn­ski sag­te Len­nin – ich hat­te gleich gar nicht ver­stan­den, wen er mein­te. Man muß­te also Len­nin sagen, wenn man den Namen rich­tig aus­spre­chen wollte?

Und dann war Kuc­zyn­ski eine Art Unbe­rühr­ba­rer. Er hat­te eine gewis­se Nar­ren­frei­heit. Was bei ande­ren Par­tei­ver­fah­ren zur Fol­ge gehabt hät­te, das konn­te Kuc­zyn­ski öffent­lich sagen und schrei­ben. Man hielt ihn für einen Wirt­schafts­wei­sen mit direk­tem Draht zu Erich Hon­ecker, der sich alle Jah­re wie­der von ihm den Kapi­ta­lis­mus erklä­ren ließ. Man konn­te ihm auch schwer­lich am Leder fli­cken. Wenn es doch jemand ver­such­te, dann griff er gern in die unschlag­ba­re His­to­ri­en­kis­te: Aber ich habe doch schon 1931 geschrie­ben … Nach 60 Jah­ren Pro­duk­ti­on hat­te Kuc­zyn­ski schon alles gesagt und ver­tre­ten, was man sagen und ver­tre­ten konnte.

Ich hat­te damals schon eini­ges von ihm gele­sen: sein Buch über die Intel­li­genz, das über die „Klas­sen und Klas­sen­kämp­fe“, jenes über das Jahr 1903, die Abra­ham-Lin­coln-Bio­gra­phie, „Jah­re mit Büchern“, sogar die „Phi­lo­so­phie des Huh­nes“ – ja, so war Kuc­zyn­ski, er konn­te über alles schrei­ben: ein Uni­ver­sal­ge­lehr­ter – für die klei­nen DDR-Verhältnisse.

Aber den größ­ten Ein­druck auf uns mach­te sein „Dia­log mit mei­nem Uren­kel“. Dar­in sprach Kuc­zyn­ski bereits 1983, also noch vor Gor­bat­schows Pere­stroi­ka, eini­ge der Offen­sicht­lich­kei­ten an, über die nie­mand spre­chen durf­te. Er tat das meist in einer pseu­do­phi­lo­so­phi­schen Spra­che. Dort, wo man auf der Stra­ße sag­te: „Das funk­tio­niert so nicht“, da sprach er von „ant­ago­nis­ti­schen Wider­sprü­chen im Sozia­lis­mus“ und wenn man in der Knei­pe hör­te: „Das hat mit Sozia­lis­mus nichts zu tun“, da präg­te er den Begriff des „sich ent­wi­ckeln­den Sozia­lis­mus“. Der offi­zi­el­le Sprach­ge­brauch sag­te seit ein paar Jah­ren: „real exis­tie­ren­der Sozia­lis­mus“, und per defi­ni­tio­nem konn­te es dar­in kei­ne Wider­sprü­che geben.

Die Dis­kre­panz zwi­schen Theo­rie und Pra­xis, also dem täg­li­chem Leben, war unüber­seh­bar – es sei denn, man war Idea­list, wie ich. Damals hat­te ich eine Freun­din, die leb­te in Guben – „Wil­helm-Pieck-Stadt“ -, wohn­te im legen­dä­ren Hoch­haus und arbei­te­te Schicht im Chemiefaserwerk.

Die Freun­din kam – je nach Schicht – mor­gens, mit­tags oder nachts erschöpft nach Hau­se und erzähl­te mir, daß das nichts wird mit dem Sozia­lis­mus, zumin­dest nicht in die­sem Werk, in dem es drun­ter und drü­ber ging und jeder jeden ver­arsch­te, und ich erzähl­te ihr von Marx und las ihr dar­aus vor und erklär­te ihr, daß es was wer­den muß­te – per his­to­ri­schem Gesetz! Meist hör­te sie sich das eine Wei­le an und schal­te­te dann den Fern­se­her an, um auf Sat1 „Der Preis ist heiß“ zu sehen. Ich konn­te den west­li­chen Müll nicht lan­ge ertra­gen, und wir began­nen uns zu strei­ten und lös­ten den Wider­spruch meist durch dia­lek­ti­sche Ver­win­dun­gen. Aller­dings konn­te das dün­ne Laken der Dia­lek­tik die dar­un­ter lie­gen­den “ant­ago­nis­ti­schen” Wider­sprü­che nicht ewig verdecken.

Guben war ohne­hin eine inter­es­san­te Stadt im Osten. Dort konn­te man nicht nur das Schei­tern des Sozia­lis­mus, son­dern auch das des Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus schon in den 80er Jah­ren stu­die­ren. Es gab tau­sen­de Gast­ar­bei­ter aus Kuba, Mosam­bik und Viet­nam, und Polen war nur tau­send Meter ent­fernt. Die meis­ten waren Män­ner, und vor allem die tem­pe­ra­ment­vol­len Kuba­ner und die mus­ku­lö­sen Afri­ka­ner mach­ten ihre Bedürf­nis­se deut­lich. Es herrsch­te mas­si­ver Frau­en­man­gel und es gab nicht weni­ge Mäd­chen, die sich von den Vor­tei­len einer gemisch­ten Bezie­hung über­zeu­gen lie­ßen. So z.B. die Freun­din mei­ner Freun­din, die mit einem Pedro liiert war. Neben Poli­tik ging es fast nur um Sex, das letz­te Res­sort der Lebens­freu­de in der sozia­lis­ti­schen Ödnis. Die gan­ze Sze­ne war äußerst dynamisch.

Auch im Hoch­haus wohn­ten alle mög­li­chen Natio­na­li­tä­ten. Es roch immer nach Huhn, es wim­mel­te vor Kaker­la­ken. In allen Ecken lag der Müll. Nie­mand küm­mer­te sich – man leb­te anein­an­der vor­bei. In der Stadt gab es Skin­heads und Rechts­ra­di­ka­le und Graf­fi­ti, es wur­de viel getrun­ken, über­all saßen Grup­pen Jugend­li­cher, Span­nung lag in der Luft und in gewis­se Knei­pen oder Stra­ßen soll­te man bes­ser nicht gehen. Das ist mir eigent­lich erst spä­ter rich­tig bewußt gewor­den, denn natür­lich ver­stand ich mich, als Inter­na­tio­na­list, gut mit den heiß­blü­ti­gen Nachbarn.

Da waren sie mit der Hand zu grei­fen, die unver­söhn­li­chen Wider­sprü­che. Trotz­dem gab es in Aka­de­mia hit­zi­ge Dis­kus­sio­nen, ob es sie geben kön­ne oder nicht. Auch ande­re scho­las­ti­sche Fra­gen wur­den dis­pu­tiert, z.B. ob es gemisch­te Basen (und Über­bau) oder nur rei­ne Basen geben kön­ne. Rene­gat Kuc­zyn­ski glaub­te an gemisch­te, aber, wie er schreibt, „sei die­se Fra­ge im Polit­bü­ro dis­ku­tiert wor­den, und das Polit­bü­ro habe beschlos­sen (!), daß es nur rei­ne Basen gäbe“ – und damit war die Fra­ge geklärt.

Der „Dia­log mit mei­nem Uren­kel“ war wie ein Rat­ge­ber in par­tei­kon­for­mer Dis­si­denz. Kuc­zyn­ski wei­te­te damit den – wie man heu­te sagt – Raum des Sag­ba­ren. Sei­ne Auto­ri­tät, die sich aus Leis­tung und Cha­ris­ma speis­te, gestat­te­te ihm, die­se Din­ge zu benen­nen. Heu­te wür­de ich sagen: Er war der Par­tei­narr, den man nicht für voll nahm, der auch mal eine Wahr­heit aus­plau­dern durf­te, über die man öffent­lich lach­te, um sie gleich ganz schnell wie­der zu ver­ges­sen. Wer ihm unbe­dacht nach­plap­per­te, bekam das Fall­beil zu spüren.

Wenn ich heu­te sein Buch lese, dann steht mir sei­ne Erschei­nung wie­der sehr plas­tisch vor Augen. Er rede­te eine Vier­tel­stun­de, lob­te die Jugend, ihren Mut und ermun­ter­te uns, tap­fer die Wahr­heit zu suchen. Dabei kam das Eigen­lob nicht zu kurz. Über­all, wo angeb­lich kri­tisch gedacht wor­den war, stand er in der Mit­te. So schuf er sich selbst eine Fama. In sei­nem Buch ste­hen exakt die glei­chen Sät­ze und zwar in zahl­lo­sen Wie­der­ho­lun­gen, die er auch damals sag­te. Im Grun­de genom­men hat­te die­ser alte Mann in sei­nem lan­gen Leben nur ein paar Gedan­ken aus­ge­brü­tet und sie mit unend­lich viel Mate­ri­al und Zah­len und Sta­tis­ti­ken aus­ge­schmückt und das hielt man in der DDR für die Spit­ze der Wissenschaft.

Dann durf­ten Fra­gen gestellt wer­den. Doch Kuc­zyn­ski war nahe­zu taub. Jemand muß­te ihm die Fra­gen aus dem Saal noch ein­mal direkt ins Ohr schrei­en. Ent­we­der konn­te oder woll­te er sie nicht ver­ste­hen. Uns beweg­ten exis­ten­ti­el­le Ängs­te: Was soll­te aus der DDR wer­den, was aus uns? Kuc­zyn­ski ver­stand irgend­ein Wort und ima­gi­nier­te die Fra­ge und plau­der­te dann über ein ganz ande­res Thema.

Auch ich mel­de­te mich. Damals war ich eine auf­fäl­li­ge Erschei­nung. Ich trug mein Haar lang und wild und das woll­te nicht recht zum Par­tei­aus­weis pas­sen. Tat­säch­lich wur­de ich immer wie­der ermahnt – aber das sporn­te mich nur noch mehr an. Jeden­falls frag­te ich ihn nach den Klas­si­kern. Wel­che Rol­le wür­den die Leh­ren von Marx, Engels und Lenin noch haben, und soll­ten wir uns nicht wie­der den eigent­li­chen Quel­len annä­hern und den gan­zen ideo­lo­gi­schen Bal­last der letz­ten Jahr­zehn­te abwer­fen? Doch Kuc­zyn­ski ver­stand nur Lenin und erzähl­te irgend­ein His­tör­chen aus sei­nem unend­li­chen Anekdotenschatz.

Dabei trieb mich just die­se Fra­ge um, schon lan­ge. Sie hat­te mir genü­gend Lehr­stü­cke gebo­ten, um die Augen zu öff­nen, doch ich wähl­te die Blindheit.

Bereits wäh­rend mei­ner Mili­tär­zeit wag­te ich den Sprung. Als Par­tei­grup­pen­vor­sit­zen­der soll­te ich den all­jähr­li­chen Rechen­schafts­be­richt hal­ten, das heißt, irgend­wie eine Stun­de redend und mög­lichst nichts­sa­gend über­brü­cken. Ich nut­ze sie zur gro­ßen Abrech­nung, die dar­in kul­mi­nier­te, daß ich den Aus­schluß von drei, vier Genos­sen anreg­te, denn die­se sei­en nur Mit­läu­fer und weit davon ent­fernt, Avant­gar­de der Arbei­ter­klas­se zu sein. Das war – in begrenz­tem Maße – mutig (zumin­dest hat es mich Mut gekos­tet), ja, es war sogar eine klei­ne Revo­lu­ti­on. Als ich been­det hat­te, erhob sich der Par­tei­of­fi­zier, ein Haupt­mann, dank­te mir in schläf­ri­gem Ton für den Rechen­schafts­be­richt und rief den nächs­ten Tages­ord­nungs­punkt auf. Bin ich auf­ge­wacht? Nein.

Spä­ter, als Stu­dent und mal wie­der Par­tei­grup­pen­vor­sit­zen­der, ent­deck­te ich bei Lenin eine Stel­le, in der er dazu auf­rief, hun­dert­tau­send, bes­ser zwei­hun­dert­tau­send Mit­glie­der aus der Par­tei zu ent­fer­nen, die nur aus per­sön­li­chen Grün­den dabei sei­en. Mit­läu­fer. Lenin gab mir also recht. Ich ver­fer­tig­te ein mehr­sei­ti­ges Pam­phlet und häng­te es an die Wand­ta­fel, wo es tat­säch­lich vie­le Leser fand. Aber mehr auch nicht. Wie­der ver­lief es im Sand.

Im Dezem­ber 89 soll­te die Hoch­schu­le einen Dele­gier­ten zum ers­ten Par­tei­tag der neu­en Ära schi­cken – auf ihm wur­de die Par­tei in PDS umge­nannt. Gre­gor Gysi wur­de zum Front­mann. Ich bewarb mich und hielt in der gro­ßen Aula eine flam­men­de Rede über die Not­wen­dig­keit der Rück­be­sin­nung auf die Klas­si­ker. Wenn ich nicht irre, gab es dafür 27 Stim­men – geschickt wur­de der Par­tei­se­kre­tär mit 400 Stim­men, der über Nacht einen sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Kurs ein­ge­schla­gen hat­te. Er hielt auf dem Par­tei­tag eine Rede, die live im Fern­se­hen zu sehen war, und wur­de nach exakt fünf Minu­ten von Berg­ho­fer mit den emble­ma­ti­schen Wor­ten „Genos­se, dei­ne Zeit ist abge­lau­fen“, jäh aus den Träu­men gerissen.

Schließ­lich ver­faß­te ich eine län­ge­re Arbeit über Lenin und Sta­lin und schick­te sie ans „Neue Deutsch­land“. Zu mei­ner Über­ra­schung bekam ich wenig spä­ter einen Brief, in dem man mir die Publi­ka­ti­on für die Wochen­end-Dop­pel­sei­te zusi­cher­te, und tat­säch­lich, weni­ge Aus­ga­ben spä­ter erschien er in aller Pracht, mit­ten in der Mit­te im ND und in vol­ler Län­ge über zwei gan­ze Sei­ten. Es war mei­ne aller­ers­te Publi­ka­ti­on. Aber man stel­le sich mei­nen Schreck vor, als ich dar­un­ter einen frem­den Namen fand! Irgend­ein Dok­tor der Geschich­te hat­te sich mei­nen Arti­kel geklaut – und ich bin noch immer nicht aufgewacht …

Viel­leicht hät­te Kuc­zyn­ski mich wecken kön­nen, wenn er gewollt hät­te. Er war wirk­lich eine Auto­ri­tät. Aber es war wohl zu viel ver­langt von einem stein­al­ten Man­ne, der auch nach dem Unter­gang des Sozia­lis­mus sich die Vor­freu­de auf den Sozia­lis­mus nicht neh­men las­sen wollte.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (28)

Laurenz

3. Juni 2023 12:23

@JS
Der real existierende Sozialismus scheiterte, weil die Kommunisten keine Ahnung davon hatten, wie der Übergang in Privateigentum, der Motor einer jeglichen funktionierenden Gesellschaft zu gestalten sei. In der Sowjetunion agierte Gorbatschow politisch, nicht ökonomisch, ein existenzieller Fehler. Deng Xiaoping, ca. 8 Jahre vor Gorbatschow an der Macht, machte es diametral gegensätzlich. Deng entwickelte einen chinesischen Nationalsozialismus, auch wenn keiner es wagt, das auszusprechen & der Relotius seit Jahrzehnten vom inneren Widerspruch der KP Chinas faselt. China konnte der Stadt Trier ganz leicht ein Karl-Marx-Denkmal schenken, weil man es in China nicht mehr braucht. Der real existierende Kapitalismus scheitert nicht an der historischen, alternativlosen Zwangsläufigkeit, sondern weil sich der Sozialismus Bahn bricht, wenn horrende Verluste in einer Bankenkrise vom Steuerzahler aufgefangen werden & nicht vom Aktionär oder Zentralbanken wider besseren Wissens Staatshaushalte sanieren. Auch Kuczynski hatte als marxistischer Ökonom einfach keine Ahnung von irgendwas, ein völlig unnützes Leben mit viel mißbrauchtem Papier.

Kurativ

3. Juni 2023 12:23

Demnächst dürfen auch wir in erweiterter Weise am eigenen Leibe erfahren, was es bedeutet wenn sich Ideologen aus realitätsfernen Räumen sich anmaßen, in das Streben nach Glück und Wohlstand der kleinen Leute einzugreifen. Schöne Theorien sind was für die Freizeit.
Die Idee der Freiheit in würdevoller Gemeinschaft mit seines Gleichen widerspricht der Idee der Planwirtschaft. Zentrale Strukturen korrumpieren immer.

Gustav

3. Juni 2023 14:30

"Und dann war Kuczynski eine Art Unberührbarer." 
Kein Wunder. 
Jürgen Kuczynski wurde als eines von sechs Kindern des Statistikers Robert René Kuczynski und der Malerin Berta Kuczynski, geb. Gradenwitz in eine wohlhabende jüdische Familie geboren. Er studierte in Erlangen, Berlin und Heidelberg Philosophie, Statistik und Politökonomie und war ab 1926 Forschungsstudent in den USA. 1929 kehrte er nach Deutschland zurück und lebte fortan in Berlin. Seit 1930 war er KPD-Mitglied. Er war Redakteur der Roten Fahne und erstellte wirtschaftspolitische Analysen. Kuczynski gelang es, den Kernphysiker Klaus Fuchs für den sowjetischen Militärnachrichtendienst GRU zu gewinnen. Seine Schwester Ruth Werner wurde dessen Führungsoffizier.
1936 verließ Kuczynski das nationalsozialistische Deutschland und ging nach England ins Exil. Dort wurde er vom US-amerikanischen Geheimdienst Office of Strategic Services (OSS) als Statistiker rekrutiert. Bis zum Sommer 1944 war er Mitglied der Leitung der KPD-Emigrantenorganisation in Großbritannien.
Kuczynski kehrte als US-Oberstleutnant im Auftrag des USSBS 1945 nach Deutschland zurück, um wichtige Dokumente der deutschen Rüstungsproduktion sicherzustellen. In Heidelberg nahm er persönlich den I.G.-Farben-Chef Hermann Schmitz fest.
Noch 1945 wurde er Präsident der Zentralverwaltung für Finanzen in der Sowjetischen Besatzungszone. 1946 wurde er Mitglied der SED.
Sachen gibts, die gibts gar nicht... 
 

Dietrichs Bern

3. Juni 2023 15:37

"Aber es war wohl zu viel verlangt von einem steinalten Manne, der auch nach dem Untergang des Sozialismus sich die Vorfreude auf den Sozialismus nicht nehmen lassen wollte". Ich gebe zu, ich werde das schwärmerische für Not, Tod und Vernichtung niemals verstehen. Vielleicht liebe ich letztlich das Leben, trotz allem, zu sehr um so tiefe Empfindungen für Grausamkeit zu teilen, teilen zu können. Wenn ich ehrlich bin, ekelt es mich, wenn ich so etwas lese.

Niekisch

3. Juni 2023 16:33

"Sachen gibts, die gibts gar nicht..."
@ Gustav 3.6. 14:30: Doch, solche Wanderer oder besser Nutznießer zwischen den Welten gab es einige, z. B. Parvus Helphand, Bernard Baruch, Teile der Bankiersfamilie Warburg, Teile der Schiff - Familie, die Atomverräter Rosenberg, Armand Hammer. Dazu empfehle ich Chernow, Ron, Die Warburgs - Odyssee einer Familie-, btb, 1. Auflage 1996. 
 

ede

3. Juni 2023 18:23

Hä hä, das freut mich für Sie, dass Sie bei eBay einen Dummen für das Zeugs gefunden haben. 
Ich war ja deutlich weniger Annabell, hatte aber für wenige Wochen auch den Ehrgeiz die Quelle Marx zu lesen, mit dem Zweck, zu erkennen, warum hier alles falsch läuft.
Das war überaus heilsam. Ich hab wahllos so 3x 3 Seiten aufgeschlagen und nicht einen einzigen Satz verstanden. Lag auch an der Satz Länge, am Ende hatte ich vergessen wie er anfing. 
Schön ist das, und charakteristisch:
"Als ich beendet hatte, erhob sich der Parteioffizier, ein Hauptmann, dankte mir in schläfrigem Ton für den Rechenschaftsbericht und rief den nächsten Tagesordnungspunkt auf." 
Den normalen Parteifunktionär ödete das Theoriegedödel doch nicht weniger an als alle anderen. 
 
 

Heinrich Loewe

3. Juni 2023 19:41

Bin ich jetzt hier völlig im falschen Film? Eine Eloge auf den DDR-Kommunismus? Das waren gottlose Gesellschaftsklempner, die das Privateigentum abgeschafft, die eigene Bevölkerung unterdrückt und ihrer Freiheit beraubt hat. Nicht eine Spur davon ist bedenkenswert.
Das Grundgesetz, so unzulänglich es oft ist, ist mir tausendmal lieber als der real existierende Marxismus der DDR. Die regierende wokeness des Jahres 2023 ändert daran nichts; ein Blick in die Bibel genügt um zu wissen, daß der Mensch aus krummem Holz geschnitzt ist.
Dieses Kauderwelsch von Kuczynski ist genau das was jeden Tag im Neuen Deutschland stand, und wovon wir alle die Schnauze gestrichen voll hatten.

Kositza: Kann doch nicht wahr sein, daß Ihnen die offenkundige Distanz entgangen ist, aus der Seidel berichtet? "Eloge", bitte!

Ein Fremder aus Elea

3. Juni 2023 20:49

Noch zu den reinen und gemischten Basen: Das kann man in der Tat beschließen, denn es ist eine Definitionsfrage: Entweder man nimmt die Produktionsverhältnisse als ein Ganzes an oder aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt. Ersteres ist einfacher, denn letzteres erforderte eine Erklärung darüber, was valide Elemente sind.

Allerdings, was diese ganze Ansicht der Bestimmung des Geistes durch die Verhältnisse angeht: Demnach müssen Menschen, welche in die Wüste gehen oder auf die tibetischen Berge steigen, also zu allen Zeiten auf dieselben Gedanken kommen, da die Lebensverhältnisse sich dort nicht ändern. So weit, so gut. Nur scheint die Beziehung invers zu sein: Je weniger Verhältnisse, desto mehr Gedanken, und umgekehrt. Und das führte zu folgender Oszillation: Öde führt zu Gedankenreichtum. Gedankenreichtum führt zu Verhältnisreichtum. Verhältnisreichtum führt zu Gedankenarmut. Gedankenarmut führt zu Öde.

Aber das behauptet die marxistische Dialektik doch gerade nicht, oder?

Heino Bosselmann

3. Juni 2023 21:02

War's im NEUEN DEUTSCHLAND, war's in der JUNGEN WELT oder gar im HORIZONT? Ich erinnere mich daran, daß Kuczynski in einer regelmäßigen Kolumne immer wieder den baldigen Untergang des Kapitalismus als unausweichlich orakelte, satter „wirtschaftswissenschaftlicher“ Begründungen voll, jede Woche neu. Wir Abiturienten lasen's in den Siebzigern, Achtzigern schulterzuckend und ungläubig, während Kuczynski ein Gläubiger blieb, über den man sich wunderte, weil gerade ein Mann seiner Qualifikation doch über den Glauben hinausfinden oder wenigstens ansatzweise den eigenen Bestätigungsfehler erkennen müßte. Aber nein, das gelang ihm nicht, nicht ansatzweise. Bei allem spätbürgerlichen Gehabe, bei aller Dauerpubliziererei blieb er leider ein interessantes und gerade im Understatement sehr eiltes Kuriosum, nein, eher ein tragisches. Es gab diese gläubigen Kommunisten, die es intellektuell faustdick hinter den Ohren hatten, aber über ihre Quasireligiösität nicht hinausfanden. Man kann von ihnen alles mit Gewinn lesen, aber sie erkannten das Wichtigste nicht: Anna Seghers, Stephan Hermlich, Jürgen Kuczynski, Peter Hacks. Andere, die mindestens die Last des Verbrechens spürten, sind ergiebiger und dabei sympathisch desillusioniert: Heiner Müller, Wolfgang Hilbig, durchaus sogar schon Bert Brecht.

Ein Fremder aus Elea

3. Juni 2023 22:42

Naja, Herr Bosselmann,

auch das ist letztlich eine Definitionsfrage, nämlich: Was ist Kapitalismus?

Die Konzentration des Kapitals ist ein tatsächlicher Effekt: Wer hat, dem wird gegeben werden, und wer nicht hat, dem wird auch das genommen werden, was er meinte zu haben. Folgt auch aus dem 2. Gesetz der Thermodynamik: Die Ressourcenausbeute wird effizienter, "Survival of the fittest". Und ab einem bestimmten Grad der Automatisierung richtet es sich gegen die angenommenen sozialen Selbstverständlichkeiten der freien Marktwirtschaft. Und um diese zu bewahren, braucht es einen Vertreter des Volkes gegenüber den Wirtschaftskonzernen. Naja, und das ist dann eben die Frage, ob man ein solches System noch Kapitalismus nennt oder... was Laurenz gesagt hat.

ede

4. Juni 2023 00:13

@HB
"aber über ihre Quasireligiösität nicht hinausfanden. Man kann von ihnen alles mit Gewinn lesen, aber sie erkannten das Wichtigste nicht ... . Andere, die mindestens die Last des Verbrechens spürten, sind ergiebiger und dabei sympathisch desillusioniert: Heiner Müller ... "
Ihre Auffassung, geschätzter Herr Bosselmann, teile ich nicht. Diese Leute schmeckten ihre Bonmots durchaus fein ab, sie wollten ja ihre Reisepässe behalten und schon gar nicht in der "Produktion" ihr Dasein fristen.
Freilich gab es Graustufen und Ausnahmen. Wie üblich in einer Diktatur wurde auch mal ein Auge zugedrückt oder ganz weggeguckt. 
Es gibt schon ein richtiges Leben im Falschen. 

Laurenz

4. Juni 2023 05:23

@Heinrich Löwe
Seien Sie doch bitte vorsichter mit Ihren Aussagen, wie .... die das Privateigentum abgeschafft...... das stimmt so nicht. Korrekt wäre informell abgeschafft. Bei Groß-Industriebetrieben stimmt Ihre Aussage. Aber in den LPGs konnte Ihnen jeder Bauer seine Eigentumsurkunden vorlegen. Die Bauern der DDR wurden nicht enteignet, sondern zwangskollektiviert. Ich antworte Ihnen deswegen als Haarspalter kleinkariert, weil damals in Ost-West-Debatten solche Ungenauigkeiten selten zielführend waren. Man konnte auch ein Haus besitzen, aber die gesetzlichen Mieten reichten nie, um das Haus instand zu halten. Man kann die Deutsche Mietkultur ablehnen & die Britische Billig-Eigenheim-Kultur präferieren, aber auch das muß politisch gewollt sein. War es weder in der DDR, noch im Reich, noch in der BRD.

Carsten Lucke

4. Juni 2023 08:31

Lieber Heino Bosselmann, den wunderbaren Wolfgang Hilbig in einem Atemzug mit Müller und Brecht zu nennen, verzeihe ich nie.
Dafür kommt man in die - mindestens literarische - Hölle !
Z.B. Habeck lesen, oder Grass ... bis der Zerberus kommt ! Den halte ich aber an der Leine !
Schönen Sonntag !

deutscheridentitaerer

4. Juni 2023 10:12

Sehr schöner Text, sehr lustig auch. Gefällt mir besser als die DDR-Rückblicke vom Haus-Ossi Bosselmann.Allerdings kann der gute Kuczsyinski, oder wie er heißt, letztlich durchaus Recht behalten. Besonders gut läuft das mit den kapitalistischen Gesellschaften momentan ja nicht. Wenn KI und Quantencomputer die bisherigen Planungsschwächen beseitigen und die Produktivität noch mal um ein, zwei Größenordnungen steigern, kommt er vielleicht doch noch, der Sozialismus.

Wuwwerboezer

4. Juni 2023 10:54

Eins
"... ein Universalgelehrter – für die kleinen DDR-Verhältnisse."
Im Nachhinein: Kuczynski, das Image des Hobsbawm der DDR, wo das Image vieler Schlagersänger der Abklatsch eines West-Schlagersänger-Images war usw. usf.
"Aber den größten Eindruck auf uns machte sein 'Dialog mit meinem Urenkel'."
Wir sind in der Zeit der Realo-Fundi-Debatte bei den Grünen im Westen. Der "Chefplaner" der DDR, Schürer, "Realo", hat später den Formelbegriff seiner eigenen Abgrenzungsschlachten für den Osten hier kurz eingestreut, für den ich ihm dankbar bin: Avantgardismus. (Das Buch ist vom Herzen her sehr berührend zu lesen, Sch. war immer Mensch, nie Apparatschik.)
Der "Dialog  mit meinem Urekel" war der Geheimtipp aller avantgardistischen Stabü-Lehrer, nur Pech: das Buch war Bückware.
Habe vor einiger Zeit, auch aus Nostalgie, noch mal beide (!) "Dialoge mit meinem Urenkel" gelesen, es gibt nämlich eine Fortsetzung aus dem Jahr 1997.

Wuwwerboezer

4. Juni 2023 10:55

Zwo
Habe mir beide weniger unter philosophischen Gesichtspunkten (für mich uninteressant bis absurd), mehr aus historiologischen und autotherapeutischen Aspekten zu Gemüte geführt, einige Gedanken zum Fazit aus Buch Nr. 2:
"Man hielt ihn für einen Wirtschaftsweisen mit direktem Draht zu Erich Honecker"
Jawohl, was man damals nur ahnen konnte, es gab nur das Gerücht: K. gehörte zum allerengsten Zirkel Honeckers, konnte ihn jederzeit direkt anrufen, ging in dessen Büro ein und aus (für konzeptionelle Erörterungen und zur Hilfestellung in geistigen Auseinandersetzungen, in denen H. mit seinem Flüsterer "Günti", Mittag, der ihm für Buchhalterfragen gut genug war, nicht weiterkam). Ein Verhängnis! Hingegen bei Ulbricht war zur NÖSPL- und Deutschlandpolitik-Zeit v. Ardenne, - die um Dimensionen bessere Wahl, der äußerste Gegenpol zum Avantgardisten -, ein- und ausgegangen.
Es war die ultraavantgardistische Tochter des GenSek, die ihren Vater dazu bewogen hat, den "Dialog" gegen die Widerstände des Apparats, namentlich Hagers, durchzudrücken. Ohnehin hatte K. seinen Intimfeind in Hager, kleiner Exkurs hierzu: K. sagt, daß das Tapetenverdikt gar nicht auf H., der fortan im Volksmund nur noch Tapetenkutte hieß, zurückgeht sondern daß es von Ärichen hinter Hagers Rücken in das Stern-Interview hineinredigiert wurde und daß H. im und nach dem Herbst `89 die Größe hatte, es auf sich zu nehmen.

Wuwwerboezer

4. Juni 2023 10:55

Drei
Der Berliner Senat hat den kleinen Park nahe K.`s Villa, wo er in Nachbarschaft zu Wieland Herzfelde und Christa Wolf u. a. (und auch mir ...) gewohnt hatte, vor etwa zehn Jahren zum Jürgen-Kuczynski-Park gewidmet. Die lieben solche!
Mein größter Fang bei einer Büchereisäuberung (1987 an der EOS, der Stabü-Lehrer zahlte jedem der drei oder vier Teilnehmer 50 Mark) war eine Stalin-GA. Habe sogleich im Personenapparat nach Marx und Ljänänn (Lenin, nahezu genauso wird auch Lennon im Russischen ausgesprochen, Anlaß zu herrlichen Phantasiereisen inmitten der Langeweile) nachgeschaut, meine Vorahnung hat sich bestätigt - gemessen am Tamtam wenig Bezugnahmen, bei denen man auch den Eindruck der lediglichen Ausschmückung hatte, ergo Marx und Lenin waren für Stalin kaum interessant. Dafür exzessive Bezugnahmen bei S. auf die Schriften Henry Fords.
- W.

Der Gehenkte

4. Juni 2023 11:55

@ Wuwwerboezer
„Marx und Lenin waren für Stalin kaum interessant“
Sie schreiben hier sehr kundig. Nur in Ihrem letzten Punkt muß man widersprechen. Selbstredend war Lenin für Stalin zeitlebens die Zentralfigur in der Argumentation. Die Gleise wurden dafür nach Lenins Tod gestellt. Lesen Sie bitte im Band 6 der Stalinausgabe die Rede „Über Lenin. Rede auf dem Gedenkabend der Kremlkursanten“ (1924). Sie stellt einen Schlüsseltext dar, will man Stalin verstehen. Ihr liturgischer Grundton zeigt den Weg in die Balsamierung an. Zunehmend wurden Lenins Gedanken in Stalins Denken und Handeln zur Werkzeugkiste umfunktioniert, aus der man sich bedienen konnte. Die intellektuelle Höhe Lenins war Stalin unerreichbar, weshalb wohl auch andere seine Bücher schrieben. Denken Sie bitte auch an Stalins wichtigste – neben: „Marxismus und nationale Frage“ (eines der wenigen Bücher, die man auch heute noch mit Gewinn lesen kann) – Schrift „Über die Grundlagen des Leninismus“, die zum Kanon noch der Ulbricht-Zeit gehörte. Was für Lenin gilt, galt umso mehr für Marx – ein ständiger Referenzpunkt ohne je das Marxsche Denken durchdrungen zu haben, ein anzubetender Götze, aus dessen Wortvorrat man sich operativ bediente; dies aber kontinuierlich. Ihre Aussage kann nur in dieser Hinsicht Wahrheit beanspruchen, daß der eigentliche Gehalt keine Rolle mehr spielte.

Maiordomus

4. Juni 2023 13:49

Der bei weitem beste Beitrag hier stammt, wen wundert's, von Bosselmann. Von ihm wäre eine auch mehrhundertseitige Autobiographie auch allein schon wegen vorhandener Autorenbegabung ein Geschenk für kritische Leser, womöglich über das sogenannte  "rechte Lager" hinaus, dem gegenüber ich mich als "zivilreligiöser Nihilist" geoutet habe. Die beste Lektüre dieser Tage war für mich Bismarcks langer Brief an seinen Schwiegervater Puttkamer aus Anlass des Heiratsantrages an dessen Tochter über seine, Bismarcks, eigene ideologische Entwicklung, am Anfang standen Feuerbach, Bruno Bauer, David Friedrich Strauss, von welchen der letztere der wohl interessanteste bleibt, auch noch für Nietzsche.. Einer der besten Texte der deutschen Ideologie-Geschichte, eine exemplarische Basis-Information über die geistige Entwicklung Bismarcks. Aus evangelisch-lutherischer Sicht im Vergleich zu Merkel ein geistiger Gigant mit enormer Glaubwürdigkeit, unbeschadet einzelner politischer Irrtümer, die es bei Bismarck ebenfalls gab. 

Maxx

4. Juni 2023 23:00

Kuczynski, insbesondere sein "Dialog mit meinem Urenkel" hat mich seinerzeit als Student schon sehr beeindruckt. War erfrischend zu lesen, in dem damaligen erdrückenden Klima. Nicht-antagonistische Widersprüche wurden nicht geleugnet, aber nach gängiger Theorie konnte es im real existierenden Sozialismus ja keine antagonistischen Widersprüche mehr geben - Kuczynski war einer, der es wagte, sich da etwas aus dem Einheitsbrei zu lösen und wider den Stachel zu löcken ... Als Beleg hatte er immer gern Zitate Lenins und sowjetischer Philosophen zur Hand. Wackerer Stalinist alter Schule ... wenn es denn, wie K. annahm, antagonistische Widersprüche im Sozialismus gab, so wären diese nur mit fortdauernder Gewalt, also durch Eliminierung der inneren (Klassen-)Feinde aufzulösen gewesen. Also so ähnlich wie Stalin, der argumentierte, dass sich der Klassenkampf bei fortschreitender Entwicklung des Sozialismus immer weiter verschärfe, so dass auch im siegreichen Sozialismus immer mehr Köpfe rollen müssten  ... 

Werner42

5. Juni 2023 08:17

Ist ja nett etwas launiges vom Parteinachwuchs der DDR zu lesen, aber ich frage mich wirklich ob ich diese Infiltration der neurechten Bewegung durch SED Linke gut finden soll.

KlausD.

5. Juni 2023 13:24

@Maiordomus  4. Juni 2023 13:49"... Bismarck ... mit enormer Glaubwürdigkeit ..."
Dies ist anzuzweifeln. Bismarck war preußischer Junker. Seine wesentlichen Ziele bestanden darin,  zum einen die Rechte und Vorteile seiner Klasse zu sichern und zum anderen, die preußische Monarchie zu stärken. Politik war für ihn Mittel zum Zweck, Meinungen wurden je Erfordernis angepaßt. Er entwickelte sich zum (gefürchteten) Autokraten. Seine herausragenden Leistungen waren die Herstellung der nationalen Einheit (unter preußischer Führung) sowie der Abschluss des Rückversicherungsvertrages mit Rußland (quasi Nichtangriffspakt). (Leider wurde dieser Vertrag nach seinem Sturz, Rußland bot eine 6-jährige Laufzeit an statt bisher 3, von Deutschland nicht wieder verlängert, weshalb sich Rußland Frankreich zu wandte ... aber das ist ein anderes Thema ...)

H. M. Richter

5. Juni 2023 13:59

@Heino Bosselmann
"Andere, die mindestens die Last des Verbrechens spürten, sind ergiebiger und dabei sympathisch desillusioniert: Heiner Müller, Wolfgang Hilbig, durchaus sogar schon Bert Brecht."
Müller, der noch 1988 in der DDR „eine Stellung“ sah, „die gehalten werden muß“, blieb letztlich bis zu seinem Ende in gewisser Weise Stalinist. Seghers war klug genug, während des III. Reiches nicht nach Moskau zu gehen – davor bewahrte sie ihre 1930er Reise in Stalins Todesreich –, blieb jedoch ängstlich bis zum Schluß. „Was Ihr Euch traut“, sagte sie ungläubig während der Biermann-Affäre zu einem Ostberliner Schriftstellerkollegen bei einem abhörsicheren Parkspaziergang nahezu flüsternd. „Die Maßnahme“ haftet Brecht an wie Pech am Bein. Keiner der drei war zu einem Bruch mit dem Kommunismus bereit. Obwohl sie wußten … Hilbig dagegen, dessen Vater vor Stalingrad gefallen war, hatte von Anfang an keinerlei Illusionen mehr. Weder über Stalin noch über die DDR.

Laurenz

5. Juni 2023 17:19

@Werner42  ... Ist ja nett etwas launiges vom Parteinachwuchs der DDR zu lesen, aber ich frage mich wirklich ob ich diese Infiltration der neurechten Bewegung durch SED Linke gut finden soll.... Gebe Ihnen als Beispiel Jürgen Elsässer, der einst Kommunist & Beglücker von Frau von Ditfurth war. Sein Werdegang ist symptomatisch. Es gibt viele Linke, die zu Rechten oder Konservativen wurden, umgekehrt geschieht das so gut, wie nie. Horst Mahler mutierte vom Global-Linken zu einem nationalistischen Linken. Zitat EK zum Teilnehmer @Heinrich Löwe: Kann doch nicht wahr sein, daß Ihnen die offenkundige Distanz entgangen ist, aus der Seidel berichtet? Wenn Sie hier Debattenstränge nicht mitlesen, wird das nichts mit produktiven Beiträgen.
 

Wuwwerboezer

6. Juni 2023 08:27

Der Gehenkte
I
Danke für die Berichtigung. Habe die Stalin-Werke damals mit 19, sehr unreif, nicht vertieft gelesen und, zugegeben, irgendwann meinerseits entsorgt. Offen gesagt sollten sie damals nur meine  "Munitionskiste" sein, um, wie ein NDW-Popper frisiert und gekleidet ich Idiot, mein Umfeld (Leninplatz Ostberlin, in der Nachbarschaft 1.200 Stasi-Dienstwohnungen) mit Stalin-Zitaten künstlerisch-kreativ ab und zu etwas zu schocken. Wurde dahingehend aber gar nicht fündig.
Bin bei der Gewichtung meiner oberflächlichen Lektüre und heute meiner Erinnerung vielleicht zu sehr davon ausgegangen, daß der Lenin-Kult der Stalin-Zeit seine Funktion in einem riesigen irrationalen Projektions- und Ablenkungspopanz hatte, u. a. auch, um zu suggerieren, Stalin sei der legitime Erbe Lenins (als der er sehr umstritten war); außerdem, um von der ungeheuren das ganze Land erfaßt gehabt habenden Megawelle der Massenbegeisterung für die Revolution, die inzwischen abgeebbt war, nochmal nachträglich psychologisch Nektar zu saugen.

Wuwwerboezer

6. Juni 2023 08:28

II
Andererseits geht ja kein Personenkult von demjenigen selbst aus, der gefeiert wird, sondern dient vielmehr der Einhegung und auch Erniedrigung des Gefeierten durch den Apparat. (Die beste Analogie wie ich finde für den Personenkult ist das Leibwächterwesen in seinem hegemonialen Verständnis. Leibwächter sind ja maßgeblich dazu da, die Schutzperson zu kontrollieren bzw. zu bespitzeln und ihren Bewegungsspielraum einzuschränken, auf Befehl dienen sie der Demütigung der Schutzperson oder nieten sie wie z. B. Indirah Gandhi um.)
- W.

Laurenz

6. Juni 2023 17:34

@Wuwwerboezer & Der Gehenkte & H. M. Richter
Stalin wurde, als einfacher Priester-Zögling & brutaler Bankräuber, der damit die Partei finanzierte, von seinen intelektuellen Bolschewisten-Kumpels nie wirklich für voll genommen. Er war, aufgrund seines vorab nicht erkannten Polizei- & Terror-Genies ein historischer Unfall in der globalen Planung des sogenannten Tiefen Staates. Für die Mißachtung seiner Kollegen rächte er sich in der Großen Säuberung, nur ein maßgeblicher Trotzkist überlebte im sibierischen Exil. Das betrifft auch die Aufenthalte Deutscher Kommunisten im Hotel Lux zu Moskau. Alle deutschen Intellektuellen wurden dort zu tausenden beseitigt. Nur diejnigen mit einer Handwerker-Herkunft, wie Walter Ulbricht oder Herbert Wehner überlebten.
@KlausD. @Maiordomus ... Bismarck kam am Anspruch der Habsburger nicht vorbei, leider. Man kann Bismarck nur 2 Dinge vorwerfen. 1. Nicht selbst Kaiser geworden zu sein & 2. nicht rechtzeitig einen Nachfolger aufgebaut zu haben.
 

Olsenbande

15. Juni 2023 00:48

Schönen guten Tag,
der Artikel war sehr interessant und hat alte Erinnerungen an die Fachschulzeit 
von 1987-1990 in Gotha geweckt.! Was aber nur jemand nachvollziehen kann, der im mitteldeutschen Raum groß geworden ist. Auf alle Fälle, hatten wir einen 
Stabi, soz.Philosophie usw. Dozent ,Lehrer ,Dr.Rommel der diesen Mann kannte.
Und uns näher brachte. Auch in Diskusionen. Und nach ca .34 Jahren steht dazu 
ein Artikel in der Sezession,wunderbar.! Musste einen Mitstudenten nach dem Namen des
Dozenten fragen  ,weil ich den Namen im Studienbuch nicht entziffern konnte.!
Er ergänzte, noch einige Erinnerunen an Ihm! Herrlich.!
Vielen Dank für den Beitrag,vielleicht sind Sie ja zum Sommerfest in Schnellroda? Würde mich gerne mit Ihnen unterhalten.
VlG.