Die Amhara (überwiegend Christen) und die Oromo (vor allem Moslems) stellen mit jeweils rund 30 Prozent die größten Gruppen, die Tigray im Norden sind mit sechs Prozent klein, aber auf Autonomie aus.
Das Projekt des “Nation building” hat nicht verfangen – die Unterschiede und die geopolitischen Faktoren wiegen schwerer, das hat unter anderem Tim Marshall im Äthiopien-Kapitel seines Buches Die Macht der Geographie im 21. Jahrhundert herausgearbeitet. (Manche seiner Analysen sind dürftig, aber die über Äthiopien ist erhellend.)
Die Fronten sind wirklich verhärtet, alle aufgepfropfte äthiopisch-verfassungspatriotische Loyalität verdampft, sobald sich die Frage nach »Wir« und »Nicht-Wir« stellt. Sie wird meist sehr schnell sehr blutig gestellt, obwohl der amtierende Präsident Abiy Ahmed (Vater Oromo, Moslem; Mutter Amhara, Christin) 2019 den Friedensnobelpreis dafür bekam, daß er Grenzstreitigkeiten mit Eritrea klärte und einen Friedensvertrag aushandelte, der einen zwanzigjährigen Krieg beendete.
Den Frieden im eigenen Land konnte er aber nicht sichern – erst seit November vergangenen Jahres hält ein Waffenstillstand mit den Tigray, und die zu deren Unterstützung einmarschierten eritreischen Truppen haben sich zurückgezogen. Nun kämpfen vor allem die Amhara gegen die Oromo.
In Matthias Polityckis Roman Alles wird gut sind der Friedensnobelpreis und der Haß der Völker aufeinander Thema des abendlichen Gesprächs eines ersten Nachtlagers zu Beginn einer abenteuerlichen Reise. Die Verleihung, sagt der in indirekter Rede paraphrasierte Amhara Weraxa, zeige nur,
daß die Jury keine Ahnung habe, wie es um Äthiopien bestellt sei!
Der große Fehler sei aber die Freigabe des Internets gewesen:
Was vom Westen als Beginn einer offenen Gesellschaft gepriesen werde, habe in Wirklichkeit dem Haß ein Forum gegeben. Längst werde nicht mehr nur gegen einzelne, sondern gegen ganze Völker gehetzt und zu deren Vernichtung aufgerufen. So was werde in einem Vielvölkerstaat wie Äthiopien schnell unübersichtlich.
Man erinnere sich an den Völkermord in Ruanda, dem im Frühsommer 1994 mindestens eine halbe Million, eher aber über 800 000 Tutsi zum Opfer fielen. In den Analysen dieser Katastrophe in der “Schweiz Afrikas” wird immer wieder die Rolle der europäisch geschulten Administration und Volkserfassung sowie die Bedeutung der Kommunikationsinfrastruktur hervorgehoben: Beides habe aus chaotischen Lynchtagen früherer Zeiten planmäßig orchestrierte Ausmordungen gemacht, weil es das Flächendeckende und den Blick in den ethnischen Paß erst ermöglichte.
(Für große Leser, die wir ja alle sind: Hundert Tage von Lukas Bärfuß ist der wohl beste Kurzroman über dieses Grauen. Bärfuß ist mittlerweile natürlich ein Clown, aber dieses Buch war ein großer Wurf.)
Volk, Völker, pauschale Urteile, historisches Haßgedächtnis: Nichts davon wird in Polityckis Roman von der aus Einheimischen und dem Hochstapler Josef Trattner gebildeten Reisegruppe hinterfragt, dekonstruiert oder übertüncht – zu wirkmächtig ist die Realität, zu nah der Bürgerkrieg, zu klar steht “das bereits Vorhandene” vor Augen:
Es gab an die achtzig Völker in Äthiopien, und abgesehen von wenigen Intellektuellen war jeder stolz, einem ganz bestimmten dieser Völker anzugehören.
Das denkt Trattner, als er für einen Deutschen gehalten wird, obwohl er aus Österreich stammt:
Aber es hätte zu lang gedauert, den Unterschied zu erklären.
(Politycki selbst hat unlängst das miefige Deutschland verlassen – gen Österreich.)
Also: Trattner ist abgebrochener Archäologe und mit einer Superfeministin zusammen, die er monatelang nicht sieht, weil er von einem alten Kumpel, der es bis zum Professor gebracht hat, immer wieder mit Ausgrabungsleitungen in Afrika betraut wird.
Dort: krimineller Kleinhandel mit angeblichen Fundstücken, getürkte Berichte fürs Institut, ein Leben ohne Ernst und Sinn und Verstand. Als der Schwindel auffliegt, verkrümelt sich Trattner samt Spesenkasse und einheimischen Mitarbeitern zu einer letzten Tour durchs Vielvölkerland am Omo im Südwesten Äthiopiens.
Gleich im ersten Dorf trifft er auf Natu, eine kahlgeschorene Frau mit ausgerissenem Tellerohrläppchen, die – so erfährt er später – alles anders macht, als es die Tradition vorschreibt, sehr zum Leidwesen ihrer Familie und der Dorfgemeinschaft: kein Lippenteller, abgewiesene Freier, Widerspenstigkeit gegen den eigenen Ehemann, keine Feldarbeit, sondern Gesang, Tanz, Kampf.
Der Preis für diese Selbstbefreiung ist hoch – Trattner wird Zeuge, wie Natu verprügelt wird, weil sie sich unstatthaft benahm, und er begreift am Ende nicht, warum sie doch noch zurückkehrt ins Dorf, obwohl ihr dort vielleicht sogar die Todesstrafe droht.
Geht es ganz autonom einfach nicht, ist am Ende die Tradition (die »Natur«) immer stärker? In Rückblenden erfährt man, daß Trattner bei seiner letzten Heimkehr nach Wien einen Tag früher als geplant eintraf, seine Superfeministin überraschen wollte und sie in Gesellschaft eines Supermachos ertappte, der wohl nicht nur mit der Faust so richtig zur Sache kam.
Das ist die Kurzversion des roten Fadens, der sich durch den Roman zieht: hier das First-World-Gerede, das bei genauerem Hinsehen nur die dünne Haut über rohem Fleisch ist; dort die echte Selbstermächtigung einer Frau, die um die harten Konsequenzen ihrer Autonomie-Sehnsucht weiß und sie am Ende zu tragen bereit ist.
Aber auch diese Spiegelung wird verzerrt zurückgeworfen: Natu erlitt, Natus Ich-Suche und Emanzipation ist ganz anders als diejenige der Wienerin. Jedoch erzählte bisher nur Natu über Natu. Vielleicht war sie gar nicht so, wie sie es berichtete, abendelang. Denn als Trattner in ihr Dorf zurückkehrt, um sie zu suchen, wird ihm eine ganz andere Version aufgetischt:
Natu ist nämlich in den Augen und nach den Maßstäben ihres Volkes keine Superfeministin, sondern eine nachlässige, respektlose, schlampige Frau. Und er, Trattner, der ja nun auch in Natus Geschichte verstrickt ist: Er ist kein Mann, sondern ein Trottel.
An dieser Stelle bekommt dieser glänzend erzählte und aufgrund der Fremde Äthiopiens undeutliche Roman einen skurrilen Drall ins Reale: Einen Trattner nämlich gibt´s in Wien. Im Roman hat sich der Schorsch Trattner in einer ambitionierten Phase als Künstler verdingt, aber nicht so gekonnt singend und tanzend wie Natu, sondern mit der Schnapsidee, Schaumstoff-Performances aufzuführen. Was daran ist besser oder schlechter als kreative Archäologie?
Diesen Schaumstoff-Trattner gibt es also wirklich, er heißt Josef mit Vornamen, ist 1955 geboren und schaumstofft noch immer in Wien. Was bedeutet das? Ganz einfach: Wir fahren fremd durch Äthiopien am Vorabend des Bürgerkriegs und sind leider oder zum Glück dort zu Hause, wo Erwachsene mit Schaumstoff spielen.
Dieser Umstand könnte den Untertitel erklären: Trattners Tod war vermeidbar. Hätte er weiter die Wiener Kunstszene mit Schaumstoff verarscht, wäre er noch am Leben – wie der echte halt.
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Matthias Politycki: Alles wird gut. Chronik eines vermeidbaren Todes, 400 S., 25 €, hier bestellen.
RMH
"Das denkt Trattner, als er für einen Deutschen gehalten wird, obwohl er aus Österreich stammt:"
Warum obwohl? Österreicher sind Deutsche. So wie Bayern auch Deutsche sind, "obwohl" Teile Österreichs Bayern war/ist.
Dieses völkische Gänseklein ist sicheres Anzeichen einer Auflösung und führt politisch nur dazu, dass die, denen Themen wie Volk egal sind bzw. die nichts gegen ein Verschwinden der großen Völker haben, das alte teile und herrsche Spiel spielen können. Nichts gegen Lokalpatriotismus, aber wenn dieser das Ersatzobjekt für den echten Patriotismus ist, wird er kontraproduktiv. Ein Reich kann so nicht entstehen, man wird eher Dominion/ Vasall/ Herrschaftsgebiet von anderen, die nicht so kleinteilig denken. Manch einer wäre aber vermutlich glücklich, wenn er endlich wie ein Yanomami-Völkchen um Reservatsschutz betteln kann und die Minderheitenkarte spielen darf.