Die Todesursache wurde bis dato nicht bekannt gegeben. Nach eigener Auskunft litt Kaczynski an Krebs im Endstadium und rechnete schon seit letztem Jahr mit seinem baldigen Ende.
Ich war an diesem Wochenende im Ausland unterwegs, und konnte am Sonntagmorgen während des Frühstücks in einem Hotel mithören, was für ein Bild der Durchschnittsmensch (der „Normie“ oder „Normalo“) von Kaczynski hat.
Ein distinguierter, silberhaariger älterer Herr aus der Bundesrepublik versuchte, seiner etwa dreißigjährigen Begleiterin zu erklären, was es mit der Geschichte auf sich habe: Der „Unabomber“ genannte „Verbrecher“ sei „ein hochintelligenter Mathematiker“ gewesen, der eines Tages durchgedreht und „ins Kriminelle“ abgeglitten sei.
Er zog sich in eine Waldhüte zurück, lebte von der Hasenjagd, entwickelte „einen Haß gegen die Gesellschaft“ und begann Bomben zu legen, wobei etliche Menschen getötet oder verletzt wurden. Schließlich bot er den Zeitungen einen Deal an: Er würde aufhören, Bomben zu legen, wenn sich diese bereit erklären würden, ein Manifest aus seiner Feder abzudrucken. Dies geschah auch, führte aber zu seiner Verhaftung, da sein Schreibstil von seinem Bruder wiedererkannt wurde.
Der silberhaarige Herr drückte mit überlegten Worten sein Unverständnis darüber aus, wie ein Mensch mit derart hoher Intelligenz etwas derart Grausiges und Wahnsinniges tun könne. Mehrfach benutzte er die Wörter „kriminell“ oder „Krimineller“. Er selbst könne sich noch gut an den „schrecklichen Fall“ Anfang der neunziger Jahre erinnern. Vermutlich habe es damit zu tun, daß der „Unabomber“ genannte Täter stark „autistisch“ veranlagt und unfähig zu sozialen Bindungen war.
Die junge Dame, die ihn begleitete, hatte noch nie etwas von der Geschichte gehört. Sie warf ein, daß es eben verschiedene Formen von „Intelligenz“ gäbe; „Intelligenz“ zeige sich auch in der Fähigkeit, sich sozial anzupassen und sein Leben und seine Umwelt zu bewältigen.
Ich war für einen Moment versucht, mich (so höflich es geht) in das Gespräch am Nebentisch einzumischen und zu erklären, worin sich meiner Meinung nach hauptsächlich die Intelligenz von Ted Kaczynski manifestiert hatte: Nämlich in besagtem sogenannten „Manifest“ mit dem Titel Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft, dessen Publikation eine so makabre Hintergrundgeschichte hat, sowie in etlichen später erschienen Schriften, die Kaczynski im Gefängnis verfaßt hatte.
Ich bedaure, es nicht getan zu haben, denn im Nachhinein hätte ich gerne gewußt, wie die beiden auf ein solches Plädoyer reagiert hätten. Für den älteren Herrn, der das Thema aufgebracht hatte, war Kaczynski vor allem ein Mörder und Verbrecher mit immerhin einem gewissen tragischen Zug.
Ist man dann noch offen für die Argumente gegen die verheerende vergangene, gegenwärtige und zukünftige technokapitalistische Lebenssinnvernichtung und Versklavung, die der „Unabomber“ anprangerte, und die nur durch einen radikalen, revolutionären Bruch mit der modernen technologischen Welt abgewendet werden könnten?
Versteht man überhaupt noch, worum es geht? Meine Reise machte mir ein Phänomen bewußt, vor dem ich lange versucht habe, die Augen zu verschließen. Mehr noch als in Wien fiel mir in der Stadt, die ich aus nostalgischen Gründen besucht habe, auf, wie sehr es zur offenbar selbstverständlichen Norm geworden ist, daß man im öffentlichen Raum kaum mehr einen Menschen zu sehen bekommt, der nicht permanent ein Smartphone an seiner Pfote kleben hat, als wäre es bereits ein angeschlossener zusätzlicher Körperteil.
Das betrifft Menschen aller Altersstufen, aller sozialen Klassen, aller Rassen und Ethnien. Überall sieht man das gleiche dopaminsüchtige Starren in die kleinen Bildschirme, die wischenden und tippenden Handbewegungen, die nach unten gesenkten Köpfe, egal, ob man allein oder in einer Gruppe ist, ob man das offene Meer vor sich hat oder in einem Café oder einem Zugabteil sitzt. Man will ständig erreichbar, ständig online, ständig imstande sein, sich und anderen ein Video vorzuspielen oder einen Link oder ein Mem zu zeigen oder auf eine Nachricht zu antworten.
Immer deutlicher wird klar, was Yuval Harari meinte, als er bemerkte, daß ein Mensch mit einem Smartphone (oder auch nur einem Heimcomputer) bereits eine Art Cyborg sei. Es ist durchaus möglich, daß die Smartphonisierung der Menschheit (denn es scheint sich hierbei offenbar um ein globales Phänomen zu handeln) nur ein Durchgangsstadium zur Praxis des Chippens oder physischen Implantierens von „Apps“ ist, die sich bisher außerhalb des Körpers in dem kleinen allgegenwärtigen Gerät befinden.
Die virusartige Ausbreitung dieser Praxis, die wohl mit gutem Grund in den Covid-Jahren beschleunigt wurde, ist äußerst beunruhigend. Diejenigen, die ihre korruptive soziale und mentale Wirkung und ihre totalitäre Gefahr erkennen, scheinen allerdings in der Minderheit zu sein. Und selbst diejenigen, die es sehen, ziehen mit, nicht bloß aus Spaß oder Bequemlichkeit, sondern weil sie oft keine andere Wahl haben, da sie beruflich und lebensorganisatorisch immer mehr dazu gezwungen werden.
Für die Mehrzahl der Menschen wird Kaczynski wohl nicht mehr als exzentrischer Verbrecher oder ein aufregender Fall von „True Crime“ bleiben, der reichlich Stoff für Spielfilme und Netflixserien bietet.
Es gibt auch Versuche von „rechts“, ihn als eine Art proto-woken Vorläufer der Klimakleber und ähnlicher Figuren zu deuten, die heute die grün-apokalyptische Trommel rühren.
Nils Wegner berichtet in seinem kenntnisreichen Nachruf (ein adaptiertes und gekürztes Portrait aus der Zeitschrift Die Kehre):
So hat das wesentlich von Öl‑, Tabak- sowie Pharmakonzernen finanzierte Heartland Institute – also geradezu ein Aushängeschild der industriellen Gesellschaft – bereits vor zehn Jahren US-weit elektronische Werbeplakate geschaltet, auf denen Konterfeis von Charles Manson, Fidel Castro und eben Kaczynski die rhetorische Frage stellten: »Ich glaube immer noch an die Klimaerwärmung – Sie auch?«
Zu diesem Bild scheint auch vordergründig zu passen, daß Kaczynski in den sechziger Jahren („lange bevor es cool war“) eine Geschlechtsumwandlung in Betracht zog, offenbar aufgrund autogynephiler Neigungen. Das bedeutet, daß er von der Fantasie erregt wurde, eine Frau zu sein, eine sexuelle Perversion, die vermutlich bei etlichen Exemplaren aus dem „Transgender“-Spektrum eine Rolle spielt.
„Framings“ dieser Art laufen allerdings in Leere, wenn man Kaczynskis Schriften tatsächlich gelesen hat. Darin unterzieht er – wohlgemerkt bereits in den neunziger Jahren – die heutige Linke (er spricht vom „leftism“), insbesondere jene, die sich Opfer- und Minderheitenkulten verschrieben hat, einer hellsichtigen, ja gnadenlosen Kritik. Als ihre Hauptantriebsfeder nennt er Ressentiments und Minderwertigkeitsgefühle.
“Uncle Ted” war nicht “woke”. Er war vielmehr scharf und kompromißlos anti-woke.
Hier ein paar Kostproben aus einer Übersetzung der 1995 in der Washington Post abgedruckten Version seines später überarbeiteten und korrigierten „Manifests“:
Wohl jeder wird mit uns übereinstimmen, daß wir gegenwärtig in einer zutiefst beunruhigten Gesellschaft leben. Eine der verbreitetsten Erscheinungen unserer wahnwitzigen Welt ist der Leftismus. (…) Wenn wir in dieser Abhandlung über Linke sprechen, dann meinen wir vor allem Sozialisten, Kollektivisten, “politically correct”-Anhänger, Aktivisten im Bereich des Feminismus, der Homosexualität und der Behinderten, Verteidiger des Tierschutzes und dergleichen. (…)
Diejenigen die besonders empfindlich hinsichtlich einer “politically incorrect”-Terminologie reagieren, sind nicht die durchschnittlichen schwarzen Ghettobewohner, die asiatischen Einwanderer, die mißhandelten Frauen oder behinderte Menschen, sondern eine Minderheit von Aktivisten, die meistens keiner dieser “unterdrückten” Gruppen angehören , sondern aus privilegierten Gesellschaftsschichten kommen. Die Mehrheit der Anhänger einer ‘political correctness’ besteht aus Universitätsprofessoren, die sichere Arbeitsplätze und ein gutes Einkommen haben, die meisten von ihnen sind heterosexuelle männliche Weiße aus Mittel- bzw. Oberklasse-Familien. (…)
Viele Linke identifizieren sich stark mit den Problemen von Gruppen, die als schwach (Frauen), unterdrückt (Indianer), abstoßend (Homosexuelle) oder anderweitig minderwertig angesehen werden. Diese Linken empfinden diese Gruppen als minderwertig. Zwar würden sie diese Gefühle niemals zugeben, aber genau deswegen, weil sie diese Gruppen als minderwertig ansehen, identifizieren sie sich mit ihren Problemen. (Wir wollen damit nicht behaupten, daß Frauen, Indianer usw. minderwertig SIND, sondern lediglich die linke Psychologie charakterisieren).
Die Linken behaupten, daß die Motivation ihres Aktivismus sich von Mitgefühl oder moralische Prinzipien herleiten, und in der Tat spielen moralische Prinzipien eine Rolle für den überangepaßten Linken. Jedoch sind Mitgefühl und moralische Prinzipien keineswegs ein Hauptmotiv linker Unternehmungen. Ein hervorragender Bestandteil linker Verhaltensweise sind Feindseligkeit (hostility) und Machttrieb (drive for power). Überdies sind linke Verhaltensformen meistens nicht rational auf das Wohlergehen der Menschen ausgerichtet, denen die Linken angeblich helfen wollen.
Wenn jemand beispielsweise glaubt, daß man Schwarze unterstützen sollte, welchen Sinn hat es dann, dies in einer feindseligen oder dogmatischen Terminologie zu fordern? Es wäre wesentlich hilfreicher, gegenüber den Weißen, die sich durch solche Forderungen selbst diskriminiert fühlen, eine diplomatische und versöhnliche Sprache der Annäherung zu führen.
Aber die linken Aktivisten wollen keine Annäherung , weil das ihre emotionalen Bedürfnisse nicht befriedigen würde. Ihr eigentliches Ziel ist nicht, den Schwarzen zu helfen. Stattdessen dienen ihnen Rassenprobleme als Vorwand, um ihrer Feindseligkeit und dem eigenen enttäuschten Machtbedürfnis (need for power) Ausdruck zu verleihen. Damit aber schaden sie den Schwarzen, weil die feindliche Haltung der Aktivisten gegenüber der weißen Mehrheit den Rassenhaß noch intensiviert.
Das sind alles unleugbare (wenn auch stellenweise ergänzungsbedürftige) Treffer ins Schwarze.
Vor rund zwanzig Jahren spitzte ich gespannt die Ohren, als ich den Neurologen, Psychiater und Philosophen Hinderk Emrich (1943–2018) in einem Vortrag besonders diesen linkenkritischen Aspekt von Kaczynskis bekanntestem Text ausdrücklich hervorheben und loben hörte.
Emrich, zu dessen Mentoren Robert Spaemann zählte, war einer der menschlich eindrucksvollsten, weisesten und besonnensten Menschen, denen ich in meinem Leben je begegnet bin. Ich führte zu diesem Zeitpunkt eine schriftliche Korrespondenz mit ihm über religiöse Fragen, an denen er sehr interessiert war. Ich war noch nicht ganz „rechts“, zumindest nicht in einem direkt politischen Sinne, aber bereits auf dem Weg dorthin.
Dieser Mann nun, der nicht einen Funken von „Extremismus“ oder Überspanntheit in sich hatte, der auf eine langjährige psychiatrische Erfahrung zurückblicken konnte, und dem bewußt war, daß Ted Kaczynski drei Menschen getötet und dreiundzwanzig weitere verwundet hatte, war nicht der Meinung, daß er pauschal als Verrückter abgetan werden könne; vielmehr hatte er einige zutreffende Dinge zu sagen.
Diesen Eindruck vermittelte auch der Dokumentarfilm Das Netz von Lutz Dammbeck, der etwa zur selben Zeit herauskam, als ich Emrichs Vortrag hörte. Kaczynski wird hier in einen erweiterten Kontext gestellt: Kybernetik, die Entstehung des Internets, Gedankenkontrolle, „Sozialkonstruktivismus“ und die kalifornische „Counter-Culture“ der sechziger Jahre, von der ein direkter Weg in das Silicon Valley von heute führt. Dammbeck sollte diese Thematik in seinem Film Overgames (2015) ausbauen und vertiefen.
Manche deuten auch auf die Tatsache, daß der erst sechzehnjährige, als Wunderkind gehandelte Harvard-Student Kaczynski als Versuchskaninchen an MKULTRA-Experimenten (möglicherweise auch mit LSD, obwohl es dafür keinen Beweis gibt) beteiligt war. Das könnte einen nachhaltigen psychischen Knacks verursacht und speziell seine schizophren-paranoiden und antisozialen Tendenzen verstärkt haben. Das mag sein, es mag aber auch sein, daß seine Erlebnisse einen durchaus begründeten Haß auf staatliche Übergriffigkeit und Manipulation befördert haben.
Es gibt daran also nichts zu rütteln: Seit langem gibt es unter gebildeten und kritischen Menschen, ob von links, rechts oder sonstwo her, einen Konsens, daß die Gesellschaftskritik Kaczynskis – zumindest in wesentlichen Teilen – ernstzunehmen ist.
Er ist somit auch mehr als nur kantiges Internet-Mem, mit dem dissidente Gruppen unterschiedlichster Färbung ihre rebellische Haltung signalisieren.
Ted Kaczynski war ohne Zweifel ein zuftiefst „entfremdeter“, charakterlich hochproblematischer, und gewiß kein seelisch „normaler“ oder gesunder Mensch. Und dennoch war es wohl gerade sein radikales Außenseitertum, das ihn manche Dinge sehr scharf und klar sehen ließ.
Das belegen auch unzweifelhaft Texte wie die satirische Parabel „Das Narrenschiff“ (Original hier) aus dem Jahr 1999.
Dieses besagte Schiff wird von dekadenten, „intersektionalen“ Social-Justice-Warriors (avant la lettre) bevölkert, die sich gegenseitig über Trivialitäten zerfleischen, während sie blindlings auf ihren Untergang zusteuern (wobei sie im Vergleich zur entsprechenden heutigen Klientel fast noch „normal“ wirken).
Endlich erhebt sich ein offenbar verrückt gewordener Bootsjunge gegen das immer „bunter“ werdende Treiben:
“Ihr verdammten Narren!”, schrie er. “Seht ihr nicht, was der Kapitän und die Steuermänner tun? Sie halten euch beschäftigt mit euren trivialen Klagen über Decken und Löhne und dass der Hund getreten wird, damit ihr euch keine Gedanken darüber macht, was wirklich falsch läuft auf diesem Schiff – daß es weiter und weiter nach Norden driftet und wir alle ertrinken werden. Wenn nur wenige von euch zur Besinnung kommen, sich zusammenreissen und auf das Puppdeck steigen würden, könnten wir dieses Schiff umkehren und uns retten. Doch alles, was ihr macht, ist über belanglose kleine Probleme zu jammern, wie Arbeitsbedingungen und Würfelspiele und das Recht, Schwänze zu lutschen!“
Die Passagiere und die Besatzung waren erzürnt.
„Belanglos?!“, schrie der Mexikaner. „Finden Sie es vernünftig, daß ich nur drei Viertel des Lohns eines weissen Matrosen bekomme? Ist das belanglos?“
„Wie können Sie meine Beschwerden trivial nennen?!“, schrie der Bootsmann. «Wissen Sie denn nicht, wie erniedrigend es ist, ‘Schwuchtel’ genannt zu werden?“
„Einen Hund zu treten ist kein ‘belangloses kleines Problem’!“, schrie die Tierliebhaberin. „Das ist herzlos, grausam und brutal!“
„In Ordnung», antwortete der Bootsjunge. “Diese Probleme sind nicht belanglos und trivial. Den Hund zu treten ist grausam und brutal und es ist erniedrigend, ‘Schwuchtel’ genannt zu werden. Doch im Vergleich zu unserem wahren Problem – im Vergleich zur Tatsache, daß dieses Schiff immer noch nordwärts fährt – sind eure Klagen belanglos und trivial, denn wenn wir dieses Schiff nicht bald zur Umkehr bringen, werden wir alle ertrinken.“
„Faschist!“, sagte der Professor.
„Reaktionär!“, sagte die Passagierin.
Und alle der Passagiere stimmten ein, einer nach dem anderen nannten sie ihn einen Faschisten oder Reaktionären. Sie stiessen ihn weg und kehrten dazu zurück, über ihre Löhne und über mehr Decken für Frauen und über das Recht, Schwänze zu lutschen und wie der Hund behandelt werden soll, zu grummeln.
Das Schiff indes segelte weiter nach Norden und nach einer Weile wurde es zwischen zwei Eisbergen zermalmt und alle ertranken.
Ausguck
Sehr guter Text. Aber es geht viel kuerzer:
Schon die Bibel sagt: "Liebe alle Menschen wie Dich selbst."
Nicht etwa, weil es dort steht, sondern weil es eine alte Wahrheit ist, soll daran erinnert werden, dass wer sich selbst nicht liebt, sondern sogar hasst, andere Menschen ebenfalls verachtet.
"Diese Linken empfinden diese Gruppen als minderwertig..." (sic!)