Eine deutsch-russische Nachbarschaft ist heute in weite Ferne gerückt, wenn man sich anschaut, daß uns mittlerweile Ukraine und Weißrußland von Rußland trennen. 1959, als das Buch Deutsch-russische Nachbarschaft zum ersten Mal erschien, war das anders. Denn damals beherrschten die Sowjets Ost- und Mitteleuropa – die Grenze zwischen den Blöcken verlief mitten durch Deutschland.
Seitdem ist viel passiert, gerade im Hinblick auf das deutsch-russische Verhältnis, was einen bezüglich der Gültigkeit dieses Buches skeptisch stimmen sollte.
Der Verlag, der dieses Buch neu herausgebracht hat, meint, daß es sich liest, „als wäre es für heute geschrieben worden: ein außenpolitischer Traktat mit detaillierten Einblicken in die psychologischen, geopolitischen und machtphysikalischen Bedingtheiten der deutsch-russischen Beziehungen in Geschichte und Gegenwart“.
Der Autor, Johannes Barnick (1916–1987), war ein Privatgelehrter, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland einige Großessays zur deutschen Lage und zu geschichtsphilosophischen Themen vorgelegt hat. Daß Barnick dabei eher der rechten Seite zuzuordnen war, kann man einer SPIEGEL-Rezension eines seiner Bücher entnehmen, der in ihm einen Wiedergänger der Konservativen Revolution sieht:
Der Unterschied zwischen der Geistesverfassung solcher mißvergnügten Publizisten, die Ende der zwanziger Jahre für eine vom deutschen Wesen beherrschte Welt stritten, und der Geistesverfassung von Johannes F. Barnick im Jahre 1958 ist offensichtliche nur gering. Dreißig Jahre und ein verlorener Krieg sind vor so großräumigen und Jahrhunderte umspannenden Betrachtungen, wie die Barnicks sie pflegen, nur ein Hauch.
Seine Traktate erschienen seinerzeit nicht ohne Grund im Seewald-Verlag, der auch Schrenck-Notzings Charakterwäsche und Mohlers Vergangenheitsbewältigung veröffentlichte.
In der Tat denkt Barnick noch ganz in den Kategorien der Zwischenkriegszeit, die in den 1950er Jahren langsam in die Defensive gedrängt wurden. Sein Buch ist voll von völkerpsychologischen Stereotypen, geopolitischen Lehrsätzen und apodiktischen Urteilen, die die Lektüre zumindest in der zweiten Hälfte zu einem kurzweiligen Vergnügen machen.
Über allem steht die These, daß es Europa immer dann gut ergangen sei, wenn auch die deutsch-russischen Beziehungen in Ordnung gewesen seien. Die historische Herleitung über das Mirakel des Hauses Brandenburg, die Konvention von Tauroggen und Bismarcks Schaukelpolitik ist etwas ermüdend. Hier werden die Vorlieben des Autors deutlich, wenn er die sich selbst ordnende Ordnung des europäischen Mittelalters als den neuzeitlichen Verhältnissen eindeutig überlegen preist, weil sie den „Krebsschaden“ der Gegenwart, den „gesellschaftlichen Strukturzerfall im kompensatorisch wuchernden Staat“, unmöglich machte.
Barnick sieht in der Nachbarsnachbarschaft, der fehlenden gemeinsamen Grenze bzw. der zwischen den Russen und Deutschen wohnenden Polen den Grund für das Miteinanderauskommen beider Völker. Ihr Charakter als germanisch-slawische Mischvölker und ihre vergleichsweise autoritäre Verfassung seien ein Garant dafür gewesen, daß sie erst spät vom nationalistischen Furor ergriffen worden seien.
Die polnischen Teilungen sieht Barnick dadurch „weitgehend gerechtfertigt“, daß es sich nicht nur um polnische Gebiete gehandelt habe und vor allem, daß Polen zum Zeitpunkt der Teilungen nicht mehr in der Lage war, diese „Schütterzone“, den „Teufelsgürtel“ der Völkerschaften zwischen Rußland und dem Deutschen Reich zu beherrschen. Beide Weltkriege seien hier entstanden, weil der Zwischenraum durch niemanden wirksam beherrscht worden wäre.
Barnick denkt in den Kategorien von Herausforderung und Antwort und kann daher auch in der deutschen Teilung nach 1945 ein „beispiellose Positivum“ sehen, weil Deutschland dadurch wieder ein Ziel besitze, die Wiedervereinigung. Außerdem befinde sich die BRD in einer besseren Lage als die Weimarer Republik, weil sie sich dem stärksten Machtblock der Welt angeschlossen habe.
Leitend ist bei ihm „die stillschweigende Unterstellung, daß wir noch nicht am Ende sind, daß sich unser Dasein für die Weltgeschichte noch lohnt“. Er sieht es als Glück an, daß die Sowjets über die Schütterzone herrschen und damit die Polen in Schach halten, die ihrerseits auf Unterstützung durch den Westen hoffen, um Deutschland erneut einzukreisen.
Barnick wird schließlich prophetisch, wenn er schreibt: „Eine auferstandene Schütterzone mit komplexem Rückhalt am Westen wäre auf unabsehbare Zeit das Grab aller größeren deutschen Hoffnungen.“ Darunter fällt bei ihm auch die Wiedervereinigung mit den deutschen Ostgebieten, die ja tatsächlich nicht stattgefunden hat. Stattdessen gehört die Schütterzone heute der Nato an.
Wenn Barnick es als Kinderglaube bezeichnet, daß Rußland Osteuropa jemals friedlich freigeben würde, kann man das zwar als falsch bezeichnen, darf dann aber nicht vergessen, daß der Krieg, den Barnick meint, jetzt gerade in der Ukraine tobt. Kurz: Barnicks Buch ist ein Beleg dafür, daß historische, völkerpsychologische und geopolitische Bildung zur Lagebeurteilung äußerst hilfreich ist.
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Johannes Barnick: Deutsch-russische Nachbarschaft. Mit einem Vorwort von Thomas Fasbender, Neuruppin 2022, 171 S., 18 € — hier bestellen.
Artabanus
"Eine auferstandene Schütterzone mit komplexem Rückhalt am Westen wäre auf unabsehbare Zeit das Grab aller größeren Deutschen Hoffnungen"
Und die Bundesregierung hilft gerade tatkräftig mit dieses Grab zu schaufeln. Der schlimmste Ausgang des Ukrainekriegs für Deutschland und Europa wäre ein militärischer Sieg der Ukraine. Die Schütterzone war von einem bunten Völkergemisch bewohnt und die Schaffung von künstlichen Nationalstaaten dort war und ist immer begleitet von Krieg und Vertreibung. Der jetzige Krieg ist das beste Beispiel.
In Wahrheit gab es zwischen Deutschland und Russland nie einen echten Interessenkonflikt. Es gab nur ein fruchtloses Ringen um die Schütterzone. Und Versuche, Teile von dieser direkt zu annektieren und zu assimilieren waren von vornherein zum Scheitern verurteilt. Ohne Stalins Annexion des vormals Österreichischen Galizien wäre z.B. der heutige Krieg vielleicht niemals ausgebrochen.