Die einen stößt es ab, die anderen zieht es hin. Mich zieht es hin. Die einen fürchten den Grusel und das Morbide, die anderen schätzen die Sphäre des Zur-Ruhe-Kommens, der Ewigkeitsahnung.
Die Literaturgeschichte ist voll von Friedhofspanoramen. Von Fontane über Keller, Droste-Hülshoff, Kafka, Stifter, Rilke, Trakl und Mörike bis hin zu Stephen King: Gräber sind poetischer Stoff par exzellence. Nun ist heute jede Poetologie auch soziologisch zu greifen.
Meine Leute stehen Friedhöfen wohl „neutral“ gegenüber. Sie rollen aber mit den Augen, wenn wir in einem anderen Land (oder nur einem anderen Landstrich) sind und mich vor den eigentlichen Sehenswürdigkeiten zuvörderst der Friedhof interessiert.
Deutsche Friedhöfe sind besonders schön, englische natürlich auch. In beiden Fällen: sofern es „alte“ angeht. Über neue, „individualisierte“ Grabmäler müßte man für beide Länder ein Extrakapitel schreiben. Motorrad, Eiffelturm, Fußball, Angelschnur, ein „heiteres Zitat“ als steinernes Zeugnis…
Es ist schon okay. Heute sollte man sich wohl darauf einigen, daß “jede/r auf seine/ihre Weise” trauert. Man muß generell allerlei Abstriche in solchen Fragen machen, zumal wir heute “ganz andere Probleme” haben.
Jüdische Friedhöfe stellen eine Extraklasse dar; ihre Anziehung ruht auch daher, daß für Juden eine dauerhafte Totenruhe vorgeschrieben ist – sprich, deren Gräber werden nicht nach einer bestimmten Frist beräumt, was viel vom „Zauber“ jüdischer Friedhöfe erklärt. Unter nichtjüdischen Deutschen hingegen berät man sich (und das ist fraglos unschön), ob ein Grab kostspielig „verlängert“ werden solle oder nicht.
Friedhöfe, die ich in Serbien (und ich meine: orthodoxe) besuchte, waren für mich ein Grauen, dergleichen in der Türkei (logisch muslimisch), teilweise auch in Polen (logisch katholisch.)
Der gemeinsame Nenner ist hier das Plastikzeug. Während es in Serbien und der Türkei um „abgelagerten“ Kunststoff geht (Zeug, das vor vielen Jahren als Plasteblumen und als echte Blumen in Kunststoffumhüllung niedergelegt und nie beräumt wurde), handelt es sich in Polen (auch in Rumänien) eher um stets erneuerten Plastik-“Schmuck“ oder um eine Batterie an ausgebrannten LED-Kerzen.
Sprich: Bei den einen war es eine jähe, bei den anderen eine andauernde Gefühlsaufwallung. Aber bitte: Wer darf schon “Kitsch” sagen, wo es um das Intimste geht?
Spanische Friedhöfe verbinde ich leider mit Leichengeruch. Man mag es ja „authentisch“ und unverbrämt finden, aber es gibt doch bitte Grenzen?
Die „spießige“ deutsche Friedhofsordnung unterbindet dergleichen, den Geruch wie den Müll – darf man sagen, zum Glück? Die deutsche Friedhofsordnung ähnelt der Schrebergartenordung: Regeln müssen strikt befolgt werden! Kleinlich, ja – aber meist ist es doch zum Guten.
Noch vor kurzem war die Bestattungskultur ethnologisch und religiös zu greifen: In protestantischen Gebieten machen sie es so, in katholischen eher anders.
Im europäischen Raum herrschte Sarggebot, im morgenländischen das Leichentuch. Heute unterliegt ein Begräbnis, zumal seine äußeren Zutaten, nicht mehr dem Bereich der Konfession. Man sieht das lockerer – auch „realistischer“ und sparsamer, vor allem aber „individueller“.
Seit einigen Jahren geht eigentlich alles. Man kann sich anonym unter Bäumen bestatten lassen, die eigene Asche zum „Diamanten“ pressen lassen und vieles mehr. Das meistgespielte Lied auf Beerdigungen (haha, wie individuell!) ist Frank Sinatras „I did it my way.“
Falls mein Vater je sterben sollte (ich bezweifle es…), wird es, das steht jedenfalls fest, die Bohemian Rhapsody geben. Er will es so, und es paßt sehr gut.
Mich macht es ein wenig schaudern, daß ich in meinem Leben erst auf sehr wenigen Beerdigungen/Trauerfeiern Gast war – allerdings auf bereits vieren im Jahr 2023. Es ist, als kämen „die Einschüsse näher“… !
Meine eigene liebe Mutter (79) und meine geliebte Großtante (93) ließen sich dieses Jahr verbrennen.
Im Fall der Mutter (die als Oberschlesierin die ersten 25 Jahre ihres Lebens so katholisch aufgewachsen war, wie es heute kaum vorstellbar ist; tägliche Messe plus täglicher Rosenkranz) war das seit langem klar.
Sie, längst vollendet in die BRD integriert, hatte pragmatische Gründe: Einäschern ist a) billiger und b) „hygienischer“, insgesamt praktischer. Ich selbst durfte im Januar die Urne tragen und ins Grab einsenken. Es war ein absurdes Gefühl. Kein „Ecce homo“, sondern fast, ja, transhumanistisch.
Bei meiner Großtante Resi stutzte ich echt – sie läßt sich wirklich einäschern?! Ich kannte wenig frommere Katholiken als sie. Werktagsmesse, Sonntagsmesse, Rosenkranz: nie ohne Tante Resi.
Die letzten beiden Jahre ihres Lebens war Resi an die Wohnung gebunden – ich hörte doch (sie wohnte in der Doppelhaushälfte neben meinem Elternhaus), daß sie täglich via Radio mehrmals die Hl. Messe feierte! (Resi war nicht nur fromm, sie war hellwach und fast eine intellektuelle Kapazität.)
Die Aschenfeier von ihr stieß mich wirklich vor den Kopf. Ich fragte beim Pfarrer nach – wie das denn heute gesehen werde. Ist eine echte “Beerdigung” (statt einer Einäscherung) für den treuen Katholiken nicht nonpulusultra?
Seine Antwort:
Vom Grundsatz her ist es so, dass die Erdbestattung von der Tradition der Christen her, nicht nur der Katholiken, die angemessene Form ist. Seit der Zeit der Katakomben wurde der Leichnam in die Erde gelegt und die Auferstehung von Leib und Seele sind Glaubensinhalte. Seit der Aufklärung waren die Glaubensinhalte immer stärker angefragt, und im Zuge der Industrialisierung mit dem Aufkommen großer Städte hat sich auch die Bestattungskultur verändert. Als die Freimaurer dann begannen, die Feuerbestattung für ihre Mitglieder zu empfehlen, weil dies bewusst gegen die Lehre der leiblichen Auferstehung ein Zeichen setzen sollte, hat die katholische Kirche reagiert und die Feuerbestattung verboten.
Wenn die Feuerbestattung als solch bewusstes Zeichen gegen die kirchlich-katholische Lehre verstanden wird, ist sie auch heute noch verboten. Allerdings ist mir ein solcher bis heute noch nicht begegnet.
Man muß das wohl so dastehen lassen.
Meine nächste Tote anno 2023 war eine gute Freundin, Mutter von acht Kindern, wenige Jahre älter als ich. Ich durfte sie kurz vor ihrem Krebstod noch einmal besuchen, es war sehr anrührend.
Sie ließ sich nach überkommenem katholischen Ritus bestatten. Ihr Leichnam lag während der Totenmesse aufgebahrt in der Nähe des Altars. Irgendwann während des lateinischen Ritus wurde der Sargdeckel vom Pfarrer und dem Ehemann der Toten, ja, zugeschlagen.
Mir gefiel das sehr, hoffentlich werde ich einmal ähnlich beerdigt! „Dem Tod ins Gesicht schauen“: Es ist heute ein Tabu. Ausgerechnet heute, wo der virtuelle Tod (ob per Krimi oder per Skandal-Schnipsel via Youtube, von Computerspielen mal ganz zu schweigen) so omnipräsent ist!
Meinen ersten Toten sah ich im Grundschulalter, und ich erinnere mich noch, daß es skandalisiert wurde, daß man den Onkel aufbahrte. Meine Eltern fanden immer, Kinder hätten auf Beerdigungen/Trauerfeiern „nichts zu suchen“. Das war damals auch Common sense.
Gerade heute ist das eine ziemlich kuriose Haltung. Kinder werden (teils gezielt) mit allen möglichen Perversitäten konfrontiert, aber ausgerechnet von der Tatsache, daß gestorben wird, soll man sie freihalten?
Eine meiner Töchter ist seit vier Jahren Benediktinerin in einem wirklich blühenden Kloster. Bei aller Blüte wird dennoch gestorben. Die Riten sind bestechend. Sie sind, übrigens wie jede Institution, entlastend! Die Mitschwestern verabschieden sich vom Leichnam sogar per Kuß. Die Überwindungslast schwindet, wo „jede es tut“ – das ist ganz menschlich!
Wie befreiend ein ausgiebiges, rituell vorgegebenes Trauerritual sein kann, hatte Jenny Erpenbeck (ja, das war mal eine großartige Schriftstellerin, bevor sie zur Zeitgeistschreiberin wurde!) in ihrem formidablen Roman Aller Tage Abend geschildert. Gesichert: Wir wären um etliche Traumata ärmer, wenn wir gescheit zu trauen lernten!
Mein vierter Toter dieses Jahres ist mein Onkel Peter, einst Kernkraftingenieur in Greifswald. Seine – atheistische – Asche wird nächste Woche in der Ostsee verstreut. Amen, so soll es sein. Niemand wird ihn zum Abschied geküßt haben. Vermutlich hatte er auch keinen Wert darauf gelegt.
Meine eigenen Toten sind übrigens in meinen Träumen dauerpräsent, was mich allnächtlich erfreut. Ich behaupte, es sogar per „Traumtraining“ ein wenig steuern zu können. Für mich: ein echter Segen. Ich liebe diese nächtlichen Meetings mit Mama, Tante etc.
Schauen wir dem Tod ruhig ins Gesicht. Er gehört zum Leben! Am Ende trifft er uns alle!
quer
Tja, die Tatsache, daß wir alle mal sterben, können (oder wollen) immer weniger Zeitgenossen in Betracht ziehen und schon garnicht realisieren, letztendlich im Müll zu enden. Bei uns wird nix abgeräumt. Wir landen (als letzte) im eigenen Familiengrab. Mit Bestandsgarantie für die nächsten 200 Jahre. Sogar der Grabstein liegt schon. Es fehlen nur noch die Jahreszahlen des Todesjahres. Dies löst bei - zumal Atheisten - Entsetzen aus. Unsere "Vorsorge" ist aber dort kein Alleinstellungsmerkmal. Es gibt offenbar mehr Menschen mit der Demut gegenüber dem Unausweichlichem ausgestattet, als man vermutet.